Wenn heute gefragt wird, welche*r linke Intellektuelle weltweit den größten Bekanntheitsgrad genießt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Name „Noam Chomsky“ fällt, und das ist sowohl unter Leuten so, die sich selbst als links verstehen, als auch im bürgerlichen Feuilleton. Dass der US-amerikanische Anarchist dabei von den einen bewundert wird, während die anderen ihn verächtlich als Verschwörungstheoretiker abtun, ist nicht weiter erstaunlich, aber diese unterschiedlichen Einschätzungen gehen durchaus quer durch die politischen Lager. Jetzt, wo Chomsky neunzig Jahre alt wird, ist ein weiteres Mal ein günstiger Zeitpunkt, die Frage zu stellen: Wer ist dieser Mann?
„FR: Sie bezeichnen sich als Anarchist. Wie hilft die Anarchie da weiter?
Noam Chomsky: Anarchismus ist ein breiter Begriff. Es besitzt einen Kern von Grundsätzen mit zeitlosen Werten, die Menschen zum Handeln anleiten sollen. Diese Grundsätze wurden in der Aufklärung reformuliert, wo sie ihre Blütezeit erlebten. Im Grunde haben sie aber tiefer liegende Wurzeln.
Was zeichnet einen Anarchisten aus?
Anarchisten entdecken zum Beispiel nicht legitimierte Machtstrukturen, sie verlangen, dass Macht stets gerechtfertigt wird. Ist das nicht der Fall, arbeitet ein Anarchist an der Überwindung dieses Zustandes. Der Anarchismus ist manifest in dem Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, von dem ich gesprochen habe.
Dann sollte jeder Anarchist sein?
Ja, jeder sollte ein Anarchist sein und immer dann, wenn er eine illegitime Macht erkennt, bekämpft und zerstört, ist er ein Anarchist. In diesem Sinne sind die meisten Menschen Anarchisten.“
Quelle: Anarchist Noam Chomsky „Die Demokratie wird zerschreddert“ „Jeder sollte ein Anarchist sein“: Ein Gespräch mit dem Linguisten Noam Chomsky von Michael Hesse, Frankfurter Rundschau, 24.1.2014, http://www.fr.de/kultur/anarchist-noam-chomsky-die-demokratie-wird-zerschreddert-a-621750?fbclid=IwAR2pbjIPV1kT3vfGqVY5praA8gi1YO5R-pkyicY4loTyousTtKYvIHxNf6g
1971: Chomsky und Foucault im Gespräch
Frühe Prägungen
Noam Chomsky wurde am 7. Dezember 1928 in Philadelphia geboren und wuchs dort zu einer Zeit im von deutschen Einwanderer*innen geprägten Stadtviertel Germantown auf, als man den Antisemitismus in den USA, wie er es später formulierte, „noch mit dem Messer schneiden konnte“. Seine Eltern William Chomsky und Elsie Simonofsky waren beide aus Russland eingewanderte Juden und fühlten sich der jüdischen Kultur ihr Leben lang zutiefst verbunden. Dasselbe gilt im Übrigen auch für ihren Sohn Noam, auch wenn er seit vielen Jahren wegen seiner Kritik an der Regierungspolitik in Israel von vielen entweder als Antisemit oder als „selbsthassender Jude“ oder beides denunziert wird. Der Vater entwickelte sich zu einem der führenden Hebraisten seiner Zeit und brachte Noam so schon früh in Kontakt mit seinem späteren Fachgebiet, der Linguistik.
Vom Alter von zwei bis zwölf besuchte Noam die Oak Lane Country Day School, eine Schule in der Tradition des progressiven Pädagogen und Philosophen John Dewey, die man heute wohl als antiautoritär bezeichnet. In der dortigen Schülerzeitung schrieb er auch im Alter von zehn Jahren seinen ersten Artikel, nämlich über den Fall Barcelonas im Spanischen Bürgerkrieg Anfang 1939.
Während er sich an die Zeit an dieser Institution immer noch gerne und sehr gut erinnert, beschreibt er seine folgende Zeit an der High School bis 1945 buchstäblich als schwarzes Loch, und auch die darauffolgende Zeit als Student an der University of Pennslvania fühlte sich für ihn nicht wesentlich besser an. So spielten sich seine Aktivitäten in der ersten Hälfte der 1940er zum Großteil abseits des Curriculums von Schule und Universität ab. Sein tiefes Interesse am Anarchismus und dessen vielfältigen Verästelungen entwickelte sich zu genau dieser Zeit, in der man ihn häufig im nahegelegenen New York fand, wo einer seiner Onkel einen Zeitungsstand besaß, der Treffpunkt aller möglicher radikaler Kräfte war, und wo es außerdem Buchhandlungen gab, die mehr zu bieten hatten als das in dieser Hinsicht etwas zurückgebliebene Philadelphia.
Hinwendung zu Linguistik und Kognitionswissenschaft
Die Eltern begannen, sich Sorgen zu machen, da Noam zum College-Dropout zu werden drohte, und so brachten sie ihn in engere Verbindung mit einem Freund der Familie, Zellig Harris, der nicht nur die sozialistisch-zionistische Ausrichtung Noams im Hinblick auf den sich bereits abzeichnenden Israel-Palästina-Konflikt teilte, sondern auch Linguistikprofessor an der University of Pennsylvania war. Chomsky, dessen Interesse an Harris zunächst in erster Linie politischer Natur war, wendete sich zunehmend der Sprachwissenschaft zu und reichte 1949 seine Bachelorarbeit über die Morphophonemik des modernen Hebräischen ein, die in stark erweiterter Form 1951 zu seiner Magisterarbeit wurde.
Obwohl Chomsky auch weiterhin seinen politischen Interessen nachging, aufmerksam die Ereignisse in Israel/Palästina verfolgte und sich wie viele seiner Zeitgenoss*innen an der Bürgerrechtsbewegung beteiligte, waren die Jahre 1946 bis 1964 für ihn von seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit geprägt, die bald, 1957, nach der Publikation eines schmalen Büchleins mit dem unscheinbaren Titel Strukturen der Syntax unter dem Namen „generative Grammatik“ bekannt werden sollte. Es sind genau diese generative Grammatik und ihre Implikationen (unter anderem für unser psychologisches und biologisches Weltbild), die Chomsky ursprünglich zu seinem Weltruhm verhalfen, obwohl es sich bei der Sprachwissenschaft sonst um eine eher wenig beachtete Disziplin handelt, bei der es den meisten schwer fiele, neben Chomsky überhaupt noch weitere Linguist*innen zu nennen.
Angeborene Ideen
Was hat es mit der generativen Grammatik auf sich? Laut Chomskys seinerzeit revolutionären Ansatz hat jeder Mensch, der eine Sprache erlernt hat, ein Regelsystem internalisiert, das es ihm ermöglicht, unendlich viele Sätze hervorzubringen und zu verstehen. Deutsch, Französisch, Suaheli – sie alle haben ein ihnen eigenes Regelsystem, das sie von allen anderen Sprachen unterscheidet. Jeder Versuch, ein solches Regelsystem auch nur für eine einzige Sprache zu beschreiben, weist wegen des immer noch in den Kinderschuhen steckenden Verständnisses der Linguist*innen gravierende Lücken auf und fällt selbst da, wo er gelingt, unerhört komplex aus.
Das Paradoxe an dieser Beobachtung ist, dass alle Kinder unter normalen Umständen imstande sind, sich genau das anzueignen, an dessen Beschreibung die Linguist*innen immer noch scheitern, nämlich das Regelwerk ihrer Sprache. Die Schlussfolgerung: Kinder müssen einen Vorteil habe, über den die Sprachwissenschaft nicht verfügt, ein angeborenes Wissen, dass es ihnen erlaubt, aus dem sie umgebenden chaotischen Lärm herauszufiltern, was für die Regeln der eigenen Sprache relevant ist und was nicht, und dadurch im wesentlichen ohne äußere Anweisungen und Hilfen ein System zu konstruieren, das in unendlich vielen verschiedenen Situationen Anwendung finden kann und das für das Verständnis des achtzig Seiten langen Satzes am Ende der deutschen Version von James Joyces Ulysses genauso geeignet ist wie für die simple Äußerung „Uff!“
Chomskys Schluss hieraus war, dass genau dieses angeborene Wissen der eigentliche und wichtigste Gegenstand der Sprachwissenschaft sein sollte. Das nannte er in Anlehnung an eine frühere philosophische Tradition Universalgrammatik. Mit der Wiederaufnahme dieser Tradition einher ging ein Angriff Chomskys gegen den bis in die 1950er in Psychologie und Kognitionswissenschaft vorherrschenden Behaviorismus, der sämtliches Verhalten von Tieren wie Menschen abgesehen von einigen elementaren Reflexen auf Konditionierung durch die Umwelt zurückführen wollte.
Chomsky und die Mitstreiter*innen, die mit ihm an der oder im Umfeld der generativen Grammatik arbeiteten, waren dagegen schon seit den frühen 1950ern zu dem Schluss gekommen, dass diese Art von Erklärung weder im Bereich der Sprache noch in anderen relevanten Bereichen der menschlichen Psyche funktionieren kann. Ganz gleich, ob es sich um Vorstellungen von Raum und Zeit, moralische Auffassungen von Gut und Böse oder den in der Geschichte immer wieder zum Vorschein kommenden Freiheitsdrang der Menschen handelt – es ist schwer vorstellbar, wie diese spezifisch menschlichen Attribute ausschließlich Ergebnis der Konditionierung durch eine zufällige und immer wieder wechselnde Umwelt sein sollen. Zu einem zentralen Punkt an Chomskys Kritik wurde später auch, dass die behavioristische Idee von der völligen Determiniertheit menschlichen Verhaltens von außen nicht nur widersinnig, sondern auch antilibertär ist. Für unter sorgfältiger Erwägung aller Umstände getroffene, aber dennoch freie Entscheidungen autonomer Individuen ist in ihr kein Platz.
Individuum und Welt – Über fünfzig Jahre Kampf um eine bessere Gesellschaft
Das eben Gesagte hieß natürlich durchaus nicht, dass die Umwelt keine Rolle spielt, denn sonst würden wir alle gleich denken und dieselbe Sprache sprechen. Es heißt nur, dass sich menschliche Existenz in einem biologisch gegebenen Rahmen abspielt und dass der Mensch nur innerhalb dieses Rahmens adäquat leben kann. Bestimmte Bedingungen, denen Menschen unterworfen werden, stellen eine so offensichtliche Vergewaltigung dessen dar, was für sie zuträglich ist, dass Widerstand gegen sie zur Pflicht wird.
Man könnte sagen, dass Chomsky Anfang der 1960er an den Schnittpunkt der beiden intellektuellen Welten kam, in denen er sich bis dahin bewegt hatte. Seine Unterstützung des US- und weltweiten Kampfes gegen Unterdrückung und seine Befürwortung freiheitlicher Prinzipien der politischen und sozialen Organisation waren bis dahin weitgehend theoretisch geblieben. Der von den USA insgeheim 1960 begonnene Krieg in Vietnam und später in ganz Indochina änderten das dramatisch, und Chomsky begann, systematisch und bis heute ohne Pause das zu praktizieren, was er die „Verantwortlichkeit der Intellektuellen“ nannte, nämlich Lügen zu enthüllen und die Wahrheit zu sagen.
Zunächst war dies die Wahrheit über die Indochinakriege, die wohl kaum jemand so umfang- und facettenreich ausgesprochen hat wie er, aber es kamen schnell andere Bereiche der Außen- und Innenpolitik der USA und anderer Staaten hinzu. Dabei fiel der Beschluss, den Schritt vom Sympathisanten zum Aktivisten zu machen, Noam Chomsky alles andere als leicht: „Ich hasste die Entscheidung. Von Natur aus bin ich eigentlich ein Einsiedler und würde viel lieber allein arbeiten statt öffentlich aktiv zu sein“, so einer seiner rückblickenden Kommentare zu diesen Jahren. Gar nicht dazu in Widerspruch steht, was er 1970 gegenüber dem Antikriegsaktivisten Fred Branfman sagte, mit dem er damals Lager entwurzelter Indochinaflüchtlinge in Laos besuchte: „Ich bin viel zu spät aktiv geworden.“
Die anderswo hinreichend beschriebene Flut seiner Artikel, Vorträge, Interviews und Bücher zur Lage in den USA, in einzelnen Ländern oder Gebieten anderswo oder auf der gesamten Welt und zu den Aussichten auf Besserung durch Widerstand ist mittlerweile unübersehbar geworden, aber es gibt immer noch kein Anzeichen dafür, dass dieser Rebel Without a Pause (so der Titel eines sehenswerten Films über ihn) in nächster Zeit vorhat, sich zur Ruhe zu setzen. Die Motivation dafür wird ein weiteres Mal klar, wenn man hört, was er dazu erst Anfang November 2018 angesichts der wachsenden Gefahr eines Atomkrieges und der immer bedrohlicher werdenden Klimakrise in der einem Interview sagte, nämlich dass die heutige Zeit sicher die gefährlichste Zeit seines eigenen Lebens, mit noch größerer Sicherheit aber die gefährlichste Zeit in der Geschichte der Menschheit sei. Man kann nur hoffen, dass er noch lange zu dem Versuch beitragen kann, das Blatt zu wenden und Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen einen Weg finden, ihre naturgegebenen Möglichkeiten frei und zugleich ohne Krieg und Unterdrückung auszuleben. Letzteres Prinzip war zweifellos mit gemeint, als die indische Schriftstellerin Arundhati Roy bereits vor Chomskys 75. Geburtstag schrieb: „Chomsky Zindabad!“
Michael Schiffmann
Literatur:
Robert Barsky, Noam Chomsky. Libertärer Querdenker, Edition 8, Zürich 1999.
Noam Chomsky, Probleme sprachlichen Wissens, Philo, Bodenheim 1996.
Noam Chomsky, Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik. Kunstmann, München 2008.
Noam Chomsky & Emran Feroz, Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen, Westend, Frankfurt 2018.
Michael Schiffmann (Hg.), absolute noam chomsky, orange press, Freiburg 2004. Bio-Beiträge aus diesem Buch unter -1486126347 https://uni-mannheim.academia.edu/MichaelSchiffmann
Neil Smith & Nicholas Allott, Noam Chomsky. Ideas and Ideals, 3rd edition, Cambridge University Press 2016.
Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier