Putins „Sparpolitik“

Rentenreform als neoliberaler Angriff auf die ArbeiterInnen

| Vadim Damier

Sparpolitik
Fotos: DonkayHotey (via flickr.com, (CC BY 2.0)); Thomas Raich (via flickr.com, (CC BY 2.0))

Am Morgen des 26. September 2018 versammelten sich hunderte empörte Menschen vor dem Gebäude am Ochotny Rjad im Zentrum von Moskau, wo das russische Parlament, die Staatsduma, tagte, um in der zweiten Lesung über das umstrittene Gesetz zur Rentenreform zu diskutieren.

Allen Protesten zum Trotz fiel die Entscheidung sehr schnell. Das Gesetz wurde mit den Stimmen der Regierungspartei „Jedinaja Rossija“ (Einheitliches Russland) verabschiedet. Alle drei etablierten Oppositionsparteien – die Kommunistische Partei (KPRF), die „Liberaldemokratische Partei“ von Schirinowskij (LDPR) und „Gerechtes Russland“ (SR) – stimmten dagegen. Das änderte aber gar nichts. In den nächsten Tagen folgte die dritte, endgültige Lesung, und danach wurde das Gesetz vom russischen Präsidenten Putin unterschrieben. Die neue Rentenreform tritt somit ab dem 1. Januar 2019 in Kraft. Sie ist ein schwerer Schlag für alle arbeitenden Menschen in Russland. Das Renteneintrittsalter wird bis zum Jahr 2028 schrittweise von 55 Jahren für Frauen und 60 Jahren für Männer auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer erhöht. Dies bedeutet einen enormen Einkommensverlust für Millionen von Menschen. Und viele andere werden niemals in Rente gehen, weil sie noch vor dem Rentenalter sterben.

Renten und Lebenserwartung

Die offizielle Lebenserwartung in Russland beträgt 72 Jahre. Dies ist aber wie eine Durchschnittstemperatur im Krankenhaus zwischen Leichenhalle und Infektionsstation. In 47 der 83 Regionen Russlands liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer unter dem neuen Rentenalter. Dazu gehören weite Teile Sibiriens, des Fernen Ostens, der Ural-Region, der Wolga-Region und des Nordens. Millionen Menschen werden somit niemals eine Rente genießen, obwohl sie ihr ganzes Arbeitsleben lang ihre Beiträge in die Pensionskasse gezahlt haben werden.

Die Renten in Russland sind ungeheuer niedrig. Die Durchschnittsrente beträgt nominell etwa 13.500 Rubel monatlich (ca. 180 Euro). Es ist unmöglich, von diesem Geld zu leben. Daher arbeiten viele von denen, die das Rentenalter erreicht haben, weiter, in einigen Regionen bis zu 40%. Somit wird ihre Rente ein beträchtlicher Zuschuss zu ihren Arbeitslöhnen. Die aktuelle Erhöhung des Rentenalters raubt Millionen Menschen rund ein Drittel ihres Einkommens. Bei einem nominellen Durchschnittslohn von etwa 36.000 Rubel sollten die „weiterarbeitenden RentnerInnen“ monatlich etwa 50.000 Rubel bekommen – mit der neuen Reform gehen 13.000 bis 14.000 davon für Millionen Männer im Alter von 60 bis 65 und Frauen im Alter von 55 bis 60 Jahren verloren.

Russische Anarchosyndikalist*innen demonstrieren in Moskau, September 2018. Fotos: KRAS

Das Ausmaß der aktuellen neoliberalen Reformwelle in Russland ist atemberaubend. Nach dem Sieg Putins bei den Präsidentschaftswahlen im März 2018 sind der antisoziale Angriff und die „Sparpolitik“ offen angesagt. Nach der „Optimierung“ in Bildung und Medizin, die seit einigen Jahren läuft, folgen jetzt neue Reformen, oder, wie sie spöttisch genannt werden, „Deformen“. Die Mehrwertsteuer wurde von 18% auf 20% erhöht. In Regierungskreisen redet man offen davon, dass die heutige Rentenreform nur die „erste Etappe“ sei, eine Privatisierung der Rentenversicherung stehe sehr wahrscheinlich bevor. Die UnternehmerInnen schlagen bereits vor, das Arbeitsgesetz durch eine Neuerung zu ergänzen, die ihnen die Möglichkeit gibt, ihren ArbeiterInnen wegen „Vertrauensverlust“ zu kündigen. Und Elwira Nabiullina, die Vorsitzende der russischen Zentralbank, reist zur Zentrale des Internationalen Währungsfonds (IWF), um den Neoliberalen im Westen eine Vorlesung darüber zu halten, wie vorbildlich ihre russischen KollegInnen die Inflation bekämpfen. Jeder Kapitalismus ist letztendlich die Macht der Reichen. Das ist klar. Aber nirgendwo ist das heute so offensichtlich und zynisch wie im modernen Russland, wo 10% der reichsten Haushalte 82% des gesamten Reichtums kontrollieren (Daten des Global Wealth Report 2018 von Credit Suisse). Die progressive Einkommensteuer existiert seit 2001 nicht mehr, und alle Versuche, sie wieder einzuführen, wurden von der Regierung und vom Parlament prompt abgelehnt. Wie auch die anderen Vorschläge, die darauf zielen, die Reichen zu bewegen, von ihrem Reichtum auch nur ein bisschen zu opfern. Die Reichen sind klug genug, um immer neue Wege der Verweigerung zu finden, deswegen hat ihre zusätzliche Besteuerung keinen Sinn, erklärte vor kurzem der stellvertretende Ministerpräsident Siluanow, einer der führenden Neoliberalen in der Regierung. Mehr noch. Das Parlament unterstützt immer neue Vergünstigungen für die russischen Großkonzerne.

Und der Widerstand?

Ja, was ist eigentlich mit dem sozialen Widerstand in Russland? Ist die Bevölkerung mit dem neuen neoliberalen Angriff etwa einverstanden? Natürlich nicht. Verschiedene Meinungsumfragen zeigen, dass etwa 80% die Rentenreform der Regierung ablehnen. Fast 50% der Befragten äußerten sogar die Bereitschaft, ihren Protest auf die Straße zu tragen. Die russische Zeitung „Kommersant“ bemerkte, wenn tatsächlich einige Millionen Menschen in den Großstädten auf die Straße gingen, um zu protestieren, müssten die Behörden die Reform abbrechen. Das war aber eben nicht der Fall. Zwar fanden in mehr als 80 Städten Russlands Protestkundgebungen statt, sie waren aber relativ klein. Selbst in Moskau und Petersburg nahmen jeweils nicht mehr als einige Zehntausend Leute teil.

Das hat seine Gründe. Vor allem ist die schlaue Strategie der Herrschenden zu nennen, die die Repressionen scheibchenweise mit bereits zuvor abgesprochenen „Zugeständnissen“ kombinierte. Diese Linie hatte Erfolg: Obwohl die Propagandakampagne der Regierung und ihrer Medien die Bevölkerung diesmal nicht davon überzeugte, dass die Reform notwendig („eine bittere aber notwendige Pille“, so Ministerpräsident Medwedew) oder gar zum Vorteil der künftigen RentnerInnen sei, führte die Politik von Zuckerbrot und Peitsche zu einer generellen Frustration und zu der resignierten Einstellung, dass ja doch nichts zu ändern sei. Die Regierung wählte bewusst einen besonderen Zeitpunkt, um die Reform zu verkünden, nämlich den 14. Juni, den Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland. Das erlaubte den Behörden, sämtliche Protestaktionen in den wichtigsten Städten des Landes bis zum 25. Juli zu verbieten: angeblich, um während der Sportereignisse die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Bereits am 19. Juli wurde das Gesetz vom Parlament in der ersten Lesung bestätigt; die ersten größeren Protestkundgebungen in Moskau und Petersburg fanden jedoch erst am 28. Juli statt. Kostbare Zeit war verloren gegangen. Als dann die Protestwelle entstand, wurde sie durch die Behörden sorgfältig „sortiert“. Man erlaubte einige Protestkundgebungen und verbot andere. Oder man wies ihnen abgelegene Plätze zu, weit entfernt vom Zentrum der Stadt, um die Zahl der TeilnehmerInnen von vornherein klein zu halten. Manchmal zogen die Machthaber ihre Genehmigung für eine Protestkundgebung im letzten Moment zurück, so dass die potentiellen TeilnehmerInnen völlig desorientiert waren. Die nicht genehmigten Demonstrationen wurden durch die Anti-Riot-Polizei brutal auseinandergetrieben – mit viel Prügeln und Festnahmen. So wurden z.B. während der Demonstrationen am 9. September landesweit 1018 Menschen vorübergehend festgenommen.

Parallel dazu gab es ein wenig Zuckerbrot fürs Volk. Präsident Putin brach sein theatralisches Schweigen und verkündete einige Korrekturen an der Reform. So sollte z.B. das neue Rentenalter für Frauen nicht 63 Jahre, wie von der Regierung ursprünglich bestimmt, sondern „nur noch“ 60 Jahre sein. Außerdem wurde eine unbedeutende Erhöhung der Renten ins Spiel gebracht (weniger als 1000 Rubel monatlich). Das waren aber keine richtigen Zugeständnisse, sondern von vornherein geplante Manöver: zuerst eine drastische Variante der Reform vorzuschlagen und sie dann ein bisschen „mildern“. Über solche Pläne hatten die russischen Medien schon gleich zu Anfang, im Juni, berichtet. Diese und andere Manöver retteten zwar nicht die Popularität von Putin und seiner Regierung, die auf ein beispiellos niedriges Niveau fiel. Sie trugen jedoch stark zur Desorientierung und Frustration der Bevölkerung bei.

Foto: KRAS

Aber auch die Fehler und die Schwäche der Protestbewegung selbst wurden deutlich erkennbar. Sie wurde unglücklicherweise völlig durch die etablierten oder außerparlamentarischen politischen Parteien kontrolliert. Die ersten interessierten sich vor allem für die Ergebnisse der nächsten Wahlen (besonders der unmittelbar bevorstehenden Regionalwahlen am 9. September). Solche Parteiinteressen spalteten oft die Protestbewegung. So fanden z.B. am 2. September in Moskau zwei große Protestkundgebungen gleichzeitig statt, weil die KPRF und die SR versuchten, diese für ihre jeweiligen Bürgermeisterkandidaten zu instrumentalisieren. Die etablierte Opposition wollte eine Radikalisierung der Proteste um jeden Preis vermeiden. So stoppte sie praktisch die Großkundgebungen im August, um sie erst im September wieder aufzunehmen, als schon nicht mehr genügend Zeit für eine Entfaltung war. Stattdessen setzte sie auf ein hypothetisches Referendum gegen die Rentenreform, obwohl von vornherein klar war, dass die Behörden so eine Volksbefragung mittels verschiedener institutioneller Prozeduren zu Fall bringen würden. Die außerparlamentarische Opposition blieb hingegen klein und schwach. Besondere Aufmerksamkeit verdient die schmachvolle Rolle der russischen Gewerkschaftsstrukturen. Die beiden großen Gewerkschaftszentralen, die prinzipiell regierungstreue Föderation unabhängiger Gewerkschaften Russlands (FNPR) und die „oppositionelle“ Konföderation der Arbeit Russlands (KTR), erklärten zwar ihre Ablehnung der Reform während der Verhandlungen mit der Regierung und den Unternehmern. Gleichzeitig aber taten sie nichts, um eine richtige und wirklich massenhafte, also millionenstarke Protestbewegung ihrer Mitglieder zu organisieren. Die Zentralleitung der FNPR sabotierte jegliche Straßenproteste. Sie lehnte zentrale Aktionen ab und erlaubte nur ihren Gewerkschaften vor Ort, an den Kundgebungen teilzunehmen. Diese wiederum entwickelten eine nur geringe, eher symbolische Mobilisierungstätigkeit. Die Führung der KTR wollte sich zuerst an die Spitze der Bewegung stellen, riskierte aber keine Radikalisierung. Sie sammelte ein paar Millionen Unterschriften gegen die Reform und nahm an einigen einzelnen, strikt gesetzestreuen Protestkundgebungen teil. Von einem Generalstreik wollte sie dagegen überhaupt nichts hören.

Die Anarcho-SyndikalistInnen aus der KRAS, der russischen Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA), verstanden von Anfang an, dass es unmöglich sein würde, die Reform durch vereinzelte Protestdemonstrationen zu stoppen. Sie versuchten deswegen die Idee eines Generalstreiks zu verbreiten, indem sie an den Straßenkundgebungen mit entsprechenden Fahnen und Plakaten teilnahmen, Flugblätter verteilten sowie eine Kampagne im Internet starteten. Ein solcher Streik hätte ein reales Mittel sein können, diese antisoziale Reform zu stoppen. Die Idee wurde auch von anderen AnarchistInnen und individuellen AktivistInnen in verschiedenen Städten unterstützt und verbreitet. Das Regime verstand die Gefahr einer solchen Radikalisierung nur zu gut, und die Polizei versuchte mehrmals, die GenossInnen mit der Generalstreik-Agitation am Zugang zu den Demonstrationen zu hindern. Die Idee des Generalstreiks wurde von den Demonstrierenden relativ gut aufgenommen. Auch einige aktive Leute aus den Gewerkschaften reagierten prinzipiell positiv. Das konnte aber die generell ablehnende Position der Gewerkschaftsführung nicht ändern. Und die starke Atomisierung der russischen Gesellschaft, die zu einer tief verankerten Passivität geführt hat, verhinderte eine wirkliche Selbstorganisation und unabhängige Aktion der „einfachen“ Leute. Die kritische „schweigende Mehrheit“ blieb stumm und schweigt leider noch immer.

Vadim Damier

GWR-Autor Dr. hist. habil. Vadim Damier (59) arbeitet als Sozial- und Politikwissenschaftler in der Russländischen Akademie der Wissenschaften und forscht zur Geschichte der sozialen Bewegungen. Er lebt in Moskau und ist aktiv in der Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik, einer anarcho-syndikalistischen Gruppe. In der Graswurzelrevolution Nr. 416 vom Februar 2017 berichtete er über „Die Illusion des 'Volkskapitalismus'. Autoritärer Neoliberalismus und soziale Proteste in Russland“. Siehe auch: Krim-Krise und Kriegsgefahr. Zur Situation in der Ukraine und in Russland. Ein Interview mit Vadim Damier, in: Bernd Drücke (Hg.), Anarchismus Hoch 3, Unrast Verlag, Münster 2016, S. 35 ff.

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier