Die USA sind weltweit für ihre drakonische Strafjustiz gerade auch gegenüber politischen Gefangen bekannt. Die Wahl Trumps zum Präsidenten 2016 und die Ernennung von Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh durch Trump haben die Aussicht auf eine Besserung nicht gerade erhöht.
Dies ist jedoch nicht die einzige Ebene, auf der wichtige Entwicklungen stattfinden. So gibt es in den gesamten USA eine wenn auch nicht einheitliche Bewegung zur Reformierung des Strafjustizsystems, die unter anderem in der Wahl progressiver Bewerber*innen zu Richter*innen oder Staatsanwält*innen zum Ausdruck kommt. Der Sieg aller 19 von 19 afroamerikanischen Richterkandidatinnen im größten Bezirk von Texas, Houston County, bei den Zwischenwahlen im November 2018 ist einer der Fingerzeige für diesen Trend. Das beeindruckendste Beispiel war jedoch vermutlich der Sieg des Bürgerrechtsanwalts Leo Krasner bei der Wahl zum Chef der Staatanwaltschaft in Philadelphia 2017, bei der er seine republikanische Gegenkandidatin mit etwa 75 Prozent der Stimmen regelrecht deklassierte, was umso bemerkenswerter war, als bis dahin seit Jahrzehnten immer nur Law-and-Order-Kandidaten dieses Amt für sich gewonnen hatten. Er verdankte seine Wahl nicht zuletzt einer breiten Koalition von Bewegungen von unten, zu der auch die Aktivist*innen für die Freilassung Mumia Abu-Jamals gehörten.
2018: Haftentlassungen in New York und Philadelphia
Im April 2018 stand das offizielle New York Kopf, als bekannt wurde, dass der in der Öffentlichkeit lediglich als „Cop-Killer“ und Ex-Angehöriger der Black Liberation Army Herman Bell, der zusammen mit Jalil Abdul Muntaqim und dem 2000 in Haft verstorbenen Albert Washington 1975 für die Ermordung zweier Polizisten zu 25 Jahren bis Lebenslänglich verurteilt worden war, aufgrund einer Entscheidung der Bewährungskommission freigelassen würde. Das New York Police Department, der Bürgermeister der Stadt de Blasio und Gouverneur Andrew Cuomo liefen Sturm gegen den Beschluss der Behörde, die aber den Mut bewies, daran festzuhalten. Ob die Kommission es nun wagen wird, auch im Fall Muntaqims, der sich von dem Bells kaum unterscheidet, auf Bewährung zu entscheiden, bleibt ungewiss.
Zumindest zum Teil etwas klarer sehen die Verhältnisse in Philadelphia aus. Neben Mumia Abu-Jamal gab es Anfang 2018 aus dieser Stadt mindestens sieben politische Gefangene in verschiedenen Teilen des Bundesstaates Pennsylvania, nämlich die überlebenden Mitglieder der so genannten MOVE 9, die am 8. August 1978 nach einer gewaltsamen Konfrontation mit der Polizei Philadelphias verhaftet und wegen angeblichen Mordes an einem Polizisten zu „30 bis 100 Jahren“ verurteilt wurden. Es war nicht zuletzt die hartnäckige Berichterstattung über diese frühe radikalökologische Gruppe, MOVE, gewesen, die den Journalisten Mumia Abu-Jamal schließlich selbst zur Zielscheibe unnachgiebigen staatlichen Hasses gemacht hatte. Es muss als eines der Ergebnisse der Wahl Leon Krasners gewertet werden, dass 2018 zwei der sieben nach jahrzehntelanger Haft noch übrigen Mitglieder der MOVE 9, Debbie Africa und Mike Africa, endlich in den Genuss der Klausel kamen, dass sie „schon“ nach 30 Jahren Haft freikommen könnten. Dasselbe wird nun vermutlich auch mit den anderen fünf noch inhaftierten der MOVE 9 geschehen. Da nie nachgewiesen wurde, dass die beschuldigten Mitglieder von MOVE individuell oder kollektiv für den Tod des Polizeibeamten James Ramp verantwortlich waren und Aussagen anwesender Journalisten dies höchst unwahrscheinlich machen, würde damit in Wirklichkeit ein Schandfleck der Justizgeschichte Philadelphias zumindest nachträglich endlich bereinigt.
Sonderfall Mumia Abu-Jamal
Auch Mumia Abu-Jamal, 1982 wie die Mitglieder von MOVE, des Mordes an einem Polizisten schuldig gesprochen, aber im Unterschied zu ihnen zum Tod verurteilt, da die in Pennsylvania vorübergehend abgeschaffte Todesstrafe zum Zeitpunkt seines Prozesses wieder eingeführt war, ringt erneut mit der Justiz Philadelphias um seine Freilassung. Anders als bei den MOVE 9 geht es hier nicht um einen Anspruch auf Bewährung, sondern um eine gravierende Rechtsverletzung während seines Berufungsverfahrens.
2016, noch vor der ultrareaktionären Wende mit den Besetzungen durch Trump, fällte das Oberste Gericht der USA, der US Supreme Court (USSC), ein Grundsatzurteil, nach dem Staatsanwält*innen, die persönlich am Verfahren gegen Angeklagte beteiligt sind, später nicht mehr als Richter*innen über deren Fälle mitentscheiden dürfen. Anlass der Entscheidung des USSC war die Beschwerde eines Angeklagten aus Pennsylvania, Terrance Williams, der monierte, dass Ronald Castille, der Chef der Anklagebehörde in Philadelphia zur Zeit des Prozesses, in dem er zum Tod verurteilt wurde, sich später als Richter am Pennsylvania Supreme Court (PSC) an der Ablehnung seines Berufungsantrags beteiligte. Ähnliche Konstellationen unter Beteiligung von Castille gab es indes nicht nur bei Williams, sondern auch in fast einem Dutzend weiterer Fälle, so auch im Fall Mumias, dessen erste Berufung (ohne die ein Urteil gar nicht rechtskräftig ist) gegen sein Todesurteil von 1982 genau in die Amtszeit Ronald Castilles von 1986 bis 1991 fiel. Sämtliche Anträge der Staatsanwaltschaft aus dieser Zeit, die Berufung Mumias abzulehnen, trugen auch die Unterschrift des obersten Anklägers in Philadelphia, Ronald Castille. Tatsächlich ging die Beteiligung Castilles am Fall Mumias aber noch wesentlich weiter. Unter Castilles Ägide wurde 1987 ein später bekannt gewordenes Ausbildungsvideo für Staatsanwält*innen gedreht, in dem der Instrukteur, Staatsanwalt Jack McMahon, ausführlich darlegt, wie man eine gegenüber dem Angeklagten möglichst unfaire und „rassisch bereinigte“ Jury erreichen kann. Gleichzeitig war die rassistische Auswahl der Geschworenen in seinem Prozess eines der zentralen Argumente der just in jenen Jahren laufenden Berufung Mumias.
Castille wurde 1994 Richter am Pennsylvania Supreme Court (PSC), dem er bis 2014 angehörte. Er war dort an fast allen Beschlüssen zur Ablehnung von Mumias Berufungsanträgen auf Einzelstaatsebene beteiligt. Dort lehnte er auch die Anträge Mumias ab, in denen sein Rückzug aus sämtlichen Mumia betreffenden Beratungen und Entscheidungen gefordert wurde. Heute will Castille sich nicht mehr an die Beschlüsse erinnern, mit denen er sich für „nicht befangen“ erklärte, obwohl sie auf der Website des Gerichts einsehbar sind. Er behauptet, dies sei für ihn ein Fall „wie jeder andere“ gewesen, der ihn in keiner Weise „persönlich involviert“ habe. Wieder sprechen Fakten, die 2018 ans Licht kamen, eine andere Sprache. Während Castille in dem vom USSC monierten Fall William persönlich den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Todesstrafe autorisiert hatte, gab er sich während der Berufung Mumias alle Mühe, dafür zu sorgen, dass die gegen diesen bereits verhängte Todesstrafe auch ausgeführt würde. So schrieb er am 15. Juni 1990 einen Brief an Gouverneur Robert Casey, in dem er ihn zur Unterzeichnung der Hinrichtungsbefehle gegen rechtskräftig verurteilte Todeshäftlinge aus Philadelphia aufforderte. Darüber hinaus fügte er dem von einer Untergebenen angefertigten Entwurf dieses Briefs persönlich eine Passage hinzu, in der er die besondere Notwendigkeit unterstrich, „Polizistenmörder“ hinzurichten, um in dieser Hinsicht eine klare Botschaft zu senden.Es gab zu diesem Zeitpunkt jedoch nur einen einzigen rechtskräftig für den Mord an einem Polizeibeamten Angeklagten, nämlich Lesley Beasley, zu dem Castille schrieb: „Ich fordere Sie auf, eine klare und dramatische Botschaft an alle Polizistenmörder zu senden, die besagt, dass die Todesstrafe in Pennsylvania tatsächlich etwas bedeutet. Das kann auf kraftvolle Art durch die sofortige Unterzeichnung eines Hinrichtungsbefehls gegen Lesley Beasley geschehen.“ Außer Beasley gab es damals lediglich zwei in Philadelphia wegen Polizistenmordes verurteilte Todeshäftlinge, nämlich William Tilley, dessen erste Berufung noch vor dem PSC lag – und Mumia Abu-Jamal, dessen Berufung bereits im März 1989 abgelehnt worden war, eine Entscheidung, deren Bestätigung durch den USSC unmittelbar bevorstand und ohnehin so gut wie feststand. Somit war Mumia nach Beasley ganz deutlich der nächste Adressat der Botschaft, die Castille an „Polizistenmörder“ senden wollte.
Daneben zeigt ein weiterer Brief Castilles an den damaligen Staatssenator Michael Fisher vom 23. September 1988, der erst im August 2018 auftauchte, wie sehr sich Castille für die Hinrichtung der in Philadelphia zum Tode Verurteilten einsetzte. In diesem Brief gab Castille seinen Befürchtungen hinsichtlich der USSC-Entscheidung von 1988 im Fall Mills Ausdruck, mit der die Regeln für die Einstimmigkeit der Geschworenen bei der Fällung von Todesurteilen verschärft worden waren, und schlug ihm eine Zusammenarbeit zur Minimierung der Konsequenzen dieses Beschlusses vor. Besonders wichtig hierbei ist, dass es genau diese USSC-Entscheidung war, die am 18. Dezember 2001 zur Aufhebung der Todesstrafe gegen Mumia führte.
Erstaunlich an den seit April 2017 geführten Gerichtsverhandlungen um diese Fragen ist, dass ausgerechnet die Staatsanwaltschaft unter Krasner in dieser Hinsicht gnadenlos mauert, sich als unfähig oder unwillig erweist, relevante Dokumente herbeizuschaffen und sich ansonsten Castilles unglaubwürdiger Behauptung anschließt, er habe als Anklagevertreter nur rein formal mit Mumias Fall zu tun gehabt. Wenn es nicht erneut zu einer Verschiebung kommt, wird Richter Leon Tucker vom Ortgericht Philadelphia am 3. Dezember eine Entscheidung in dieser Sache fällen, die Mumia im positiven Fall das Recht auf eine neue gerichtliche Prüfung seines Falls geben würde.
Davon könnte auch ein Signal für weitere, hier nicht erwähnte Fälle politischer Gefangener ausgehen, über die in der nächsten Ausgabe der Graswurzelrevolution zu berichten sein wird.
Michael Schiffmann