100 Jahre Räterepublik

Fünf Thesen zur Bayerischen Revolution 1919

| Simon Schaupp

Räterrepublikbeitrag
Foto: Bundesarchiv (Bundesarchiv, Bild 146-1992-092-04 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0]

Die Bayrische oder Münchner Räterepublik war im April 1919 der vier Wochen währende Versuch, in dem im November 1918 gegründeten Freistaat Bayern eine sozialistische Republik nach rätedemokratischem Muster zu verwirklichen. Die Regierung der Räterepublik war zunächst geprägt von anarchistischen und pazifistischen Intellektuellen, unter ihnen Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ret Marut und der Nachfolger Kurt Eisners im Vorsitz der USPD, Ernst Toller, – später von KPD-Mitgliedern. Die Ausrufung des Freistaats Bayern war im Zuge der Novemberrevolution erfolgt, die das Ende des Ersten Weltkriegs eingeläutet und das gesamte Deutsche Reich erfasst hatte (vgl. GWR 434). Ende 1918 waren Kaiser Wilhelm II., der bayerische König und die anderen Monarchen der deutschen Teilstaaten gestürzt worden. In ganz Deutschland hatten sich revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Die dieser Revolution folgende Entwicklung führte nach bürgerkriegsähnlichen Kämpfen zur Zerschlagung der Rätestrukturen.

Den folgenden Artikel von Simon Schaupp veröffentlichen wir als Vorabdruck aus dem von Anna Leder und Andreas Pavlic herausgegebenen Buch „Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie“ (1). (GWR-Red.)

Im Frühjahr 2019 jährt sich die bayerische Räterepublik zum hundertsten Mal. Im Zuge dessen kommt es zu einigen neuen Publikationen zu diesem Thema, die durch eine interessante Übereinstimmung auffallen. In mehreren dieser Bücher wird das Bild von der Räterepublik als Phantasieprodukt einer Handvoll spleeniger Literaten verbreitet. Bereits die Titel der entsprechenden Werke sprechen dabei Bände. Allen voran: „Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen“ (Weidermann 2017).

These I: Die Revolution war ein Produkt der Selbstorganisation der Proletarisierten, nicht der Phantasie von Dichtern
Der Eisendreher Johann Lehner wurde am 3. Mai 1919 von Regierungssoldaten verhaftet und ohne Prozess erschossen, da er mit dem Mörder der Geiseln im Luitpold-Gymnasium Seidl/Seidel verwechselt wurde, obwohl er sich ausweisen konnte. Die Postkarte wurde mit der Bildunterschrift „Der Geiselmörder Seidl“ verbreitet. (Text übernommen von Historisches Lexikon Bayerns) – Foto: Bundesarchiv, Bild 146-2004-0048 / CC-BY-SA [CC BY-SA 3.0]

Eigentlich versteht sich von selbst, dass die Vorstellung abwegig ist, die Schriftsteller hätten die Revolution, die als historisches Ereignis ja nicht abgestritten werden kann, quasi herbeigedichtet. Einen wichtigen Grund hat diese immer wiederkehrende Implikation aber in der unausgewogenen Quellenlage, in der Schriftsteller_innen weit überproportional vertreten sind. Der Hauptgrund dafür liegt in eben jenen Umständen, welche die Revolution zu beseitigen suchte: Der immensen materiellen und kulturellen Ungleichheit. Während am Anfang des 20. Jahrhunderts die Abkömmlinge des Bürgertums unvergessliche Kulturwerke schaffen, können die Proletarisierten oft noch nicht einmal lesen und schreiben. Und selbst wenn sie es können, dann bleibt nach einem zehnstündigen Arbeitstag kaum mehr die Zeit Memoiren zu verfassen. Die Tatsache, dass also fast alle Augenzeugenberichte aus der Zeit der Räterepublik aus bürgerlichen Quellen stammen, führt, zusammen mit dem endgültigen Versäumnis einer systematischen Befragung proletarischer Zeitzeugen, zu ernsthaften Problemen in der Geschichtsschreibung. Denn der Großteil des Bürgertums bringt, wie es zum Beispiel in den immer wieder neuaufgelegten Tagebüchern des Privatgelehrten Viktor Klemperer heißt, der Revolution „nicht die geringste Sympathie“ entgegen (Klemperer 1919, S. 25).

Eine politisch-historische Untersuchung der Räterepublik kommt dagegen nicht um ein gewisses Maß an Sozialgeschichte herum. Bei einer solchen Analyse können die Proletarisierten nicht nur als Statist_innen im Hintergrund dienen, sondern müssen als die wesentlichen politischen Akteure der Ereignisse ins Zentrum gerückt werden. Ein zentraler Faktor für das Revolutionär-Werden dieser Massen ist ihre materielle Not am Ende des Ersten Weltkriegs. Spätestens seit dem sogenannten ‚Kohlrübenwinter 1916/17‘ herrschen in ganz Europa Hungersnöte. Ein Großteil der verfügbaren Nahrungsmittel wird zur Verpflegung der Armeen an der Front reserviert, so dass für die Bevölkerung in den Städten nur wenig übrigbleibt. Das Gesundheitsministerium registrierte bis Ende 1918 im Deutschen Reich 763.000 Todesfälle aufgrund von Hunger und Unterernährung. Zum Hunger kommt jedoch eine weitere Plage hinzu, die insbesondere die Proletarisierten trifft: Die ‚Spanische Grippe‘. Allein in München werden zwischen 25.000 und 30.000 Infizierte gezählt. Sogar die Schulen bleiben aufgrund der Spanischen Grippe zeitweise geschlossen. Die Pandemie fordert im Deutschen Reich etwa 300.000 Todesopfer. Aufgrund des Krieges verbreitet sich die Seuche rasch über den gesamten Erdball. Weltweit erliegen ihr zwischen 25 und 50 Millionen Menschen. Damit ist die Seuche mit dem Ausbruch der Pest von 1348 vergleichbar. Die US-amerikanische Armee hat im Ersten Weltkrieg ungefähr die gleiche Zahl an Infanterie-Soldaten durch die Grippe wie durch Kampfhandlungen verloren und allein in Indien sind mehr als 17 Millionen Menschen daran gestorben (Hieronimus 2006).

Nicht zuletzt die Hungersnot und die Seuchen sind es, die den Proletarisierten Europas die Begeisterung für den Krieg endgültig austreibt. Sie haben genug von der Verschwendung von Menschenleben und Wohlstand, von Krankheit und Tod. So kommt es ab 1916 zu immer größer werdenden Hungerdemonstrationen, die teilweise in gewaltsame Ausschreitungen ausarten. In dieser Situation versuchen Pazifist_innen und Linke den Zorn auf den Obrigkeitsstaat und dessen Krieg zu lenken, in dem sie die Ursache für die Not ausmachen. So agitieren sie im Januar 1918 für einen reichsweiten Streik der Munitionsarbeiter_innen, um einen sofortigen Frieden zu erzwingen. Im Zuge der Vorbereitung des „Januarstreiks“ werden in den Münchner Rüstungsbetrieben unter Anführung von Sarah Sonja Lerch und Kurt Eisner – beide von der sozialistischen Unabhängigen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) – Massenversammlungen der Arbeiter_innen abgehalten. Gegen den Widerstand der Sozialdemokratie entscheiden sich die Arbeiter_innen für den Streik, der eine einzige Forderung stellt: sofortigen Frieden. Damit kommt es zur ersten Form einer revolutionären Selbstorganisation der Proletarisierten. Der Streik, an dem im gesamten Deutschen Reich hunderttausende Arbeiter_innen teilnehmen, wird unter Einsatz von Polizei und Militär niedergeschlagen. Sarah Sonja Lerch stirbt nach ihrer Verhaftung unter ungeklärten Umständen im Gefängnis. Viele der für die Beendigung des Krieges Streikenden werden zur Strafe zum Militär eingezogen. Die entstehenden Strukturen der Selbstorganisation, revolutionäre Obleute und erste Arbeiter_innen-Räte bleiben jedoch erhalten und agieren trotz der Repression weiter (Gerstenberg 2018).

Die zweite Stufe der Selbstorganisation wird erreicht als sich Soldaten massenhaft den Revolutionär_innen anschließen. Aufgrund dieses Zusammenschlusses wird eine Friedensdemonstration am 7. November 1918 nicht niedergeschlagen, sondern mündet in den Sturz der Wittelsbacher Monarchendynastie, die zuvor über 738 Jahre in Bayern regiert hat. Noch in derselben Nacht konstituieren sich formelle Arbeiter- und Soldatenräte und wählen Kurt Eisner zum Ministerpräsidenten. Sofort nach dem Umsturz versuchen die Revolutionär_innen, die Selbstorganisation auf eine dritte zentrale Gruppe auszuweiten: Die Bauernschaft. Aus dem Bayerischen Bauernbund soll ein Bauernrat hervorgehen. Hier kommt die Selbstorganisation jedoch bald an ihre Grenzen. Die Industriearbeiter_innen und die Soldaten haben den Vorteil, dass sie ihrer Tätigkeit ohnehin in riesigen Massenorganisationen nachgehen, in denen Agitation und revolutionäre Organisierung einigermaßen leicht sind. Die Bauernschaft ist dagegen über weite Distanzen verteilt, was die Kommunikation und damit auch die Organisierung deutlich erschwert. Eisner strebt in seiner Regierung, an der er auch seine Feinde aus der SPD an zentralen Stellen beteiligt, einen Kompromiss zwischen Parlamentarismus und Rätedemokratie an. Die Sozialdemokratie versucht jedoch systematisch, die Selbstorganisation der Proletarisierten auszuhebeln und den alten monarchistischen Staatsapparat zu erhalten. Als Eisner von einem Rechtsextremen ermordet wird, eskaliert der Konflikt. Der Landtag flieht, wodurch der Rätekongress die Regierungsmacht faktisch allein in den Händen hält. Als auffliegt, dass die Sozialdemokratie in Nürnberg eine gegenrevolutionäre Koalition mit den rechten Parteien DDP und BVP schmiedet, wird der Bruch vollständig vollzogen. Mit massiven Demonstrationen und Ankündigung eines Generalstreiks, erzwingen revolutionäre Arbeiter_innen und Soldaten die Ausrufung einer reinen Räterepublik am 7. April 1919. Eine Woche später wagt die Sozialdemokratie im Bund mit bürgerlichen und rechtsextremen Kräften einen Putsch. Die provisorische Räteregierung ist weitgehend paralysiert. Wieder sind es die Betriebs- und Soldatenräte, die in spontaner Selbstorganisation eine revolutionäre Selbstverteidigung aufstellen und den Putsch niederschlagen (Schaupp 2017).

In zeitgenössischen Texten wird das Modell der Rätedemokratie immer wieder dem „Parteiführertum“ entgegengestellt. Anstelle professioneller Politiker_innen sollen die Proletarisierten aus ihren Betrieben oder Kasernen Delegierte wählen, die sie persönlich kennen. Diese werden zwar meist nicht mit imperativen Mandaten ausgestattet, können aber jederzeit abberufen werden, wenn sie sich von ihrer Basis entfremden. Nach demselben Prinzip delegieren die jeweiligen Räte dann weitere Beauftragte für spezifische Angelegenheiten oder höhere Koordinationsebenen. Das einzige Mal, dass dieses Prinzip bundesweit angewendet wird, ist der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte, der vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 in Berlin tagt. Die Art und Weise wie die Delegierten bestimmt werden, bleibt dabei den lokalen Räten überlassen. Als Faustregel gilt, dass auf etwa 200.000 Einwohner_innen ein Delegierter kommt. Aus den Soldatenräten soll ein Delegierter auf jeweils 100.000 Militärangehörige gewählt werden (Vollzugsrat 1918). Da jedoch die Mehrheit der Delegierten Sozialdemokraten sind, bleibt der aus der Versammlung gewählte Zentralrat während der folgenden Wochen der revolutionären Kämpfe in ganz Deutschland inaktiv. Er erhebt auch keinerlei Einspruch gegen die sukzessive Zerschlagung der Rätestrukturen. Am 4. Februar 1919 überträgt er seine nominelle Macht dann vollends an die Weimarer Nationalversammlung und wird aufgelöst. In Bayern existieren allerdings für ungefähr ein halbes Jahr tatsächlich funktionierende Rätestrukturen.

Bezüglich der Akteure der Revolution lässt sich also folgendes feststellen: Richtig ist, dass unter den führenden Köpfen der Räterepublik eine erstaunlich hohe Anzahl von Literaten vertreten war. Da man in diesen Positionen sonst eher an Großindustrielle und Militärs gewohnt ist, war diese Tatsache damals – und scheint es heute noch – irritierend. Diese Literaten, zu denen Kurt Eisner, Ernst Toller, Gustav Landauer, Erich Mühsam und andere zählen, hätten die Revolution aber kaum herbeischreiben können. Stattdessen stützen sie sich auf eine Basis von kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeitern, die diesen Intellektuellen genau deshalb vertrauen, weil sie sich in deren Schriften besser verstanden fühlten als in den Erlassen des besiegten Obrigkeitsstaates. Die Räterepublik war also keine Phantasie von Literaten, sondern Produkt der Selbstorganisation der Proletarisierten.

These II: Frauen waren an wichtigen Stellen an der Revolution beteiligt, wurden dann aber zurückgedrängt

Mehr noch als Männer waren Frauen von den materiellen Nöten des Krieges betroffen. Zu den allgemeinen Gefahren kommt bei ihnen noch eine besondere Arbeitsbelastung hinzu: Erwerbslose Frauen und Mädchen, Hausfrauen und Mütter sind an die „Arbeitsfront“ beordert worden. Das Verbot von Frauenarbeit im Bergbau war zwischenzeitlich aufgehoben worden. Besonders stark hat der Anteil von Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie zugenommen. Die Munitionsarbeiterinnen drehen Patronenhülsen und fräsen Gewinde für Granaten und Sprengminen. Ihr Lohn ist dabei im Durchschnitt um die Hälfte niedriger als derjenige ihrer Kollegen. Hinzu kommt freilich nach wie vor die Reproduktionsarbeit im Haushalt. Einige Frauen in den Rüstungsbetrieben verüben kleine Sabotageakte. Sie füllen zu wenig Sprengstoff in die Granaten, sodass die Zünder nicht heranreichen, sie machen die Zünder unbrauchbar oder lassen aufrührerische Flugblätter auf den Toiletten liegen (Gerstenberg 2018). Immer wieder finden in München Frauendemonstrationen für den Frieden statt, während des Januarstreiks waren sie maßgeblich an der revolutionären Agitation beteiligt.

Photograph of Tony Sender 4
Toni Sender

Am 16. Dezember 1918 wird in München die strömungsübergreifende linke Frauenplattform „Bund sozialistischer Frauen“ (BSF) gegründet. Auf Initiative des BSF hin wird dem Ministerium für soziale Fürsorge am 11. Feburar 1919 ein eigenes Referat für Frauenrecht angegliedert. Es nimmt im Wittelsbacher Palais seine Arbeit auf. Der Bund schlägt für die Leitung des Referates die parteilose Sozialistin Gertrude Baer vor. Unter ihr beschäftigt sich das Referat hauptsächlich mit der Arbeitssituation von Frauen, die aufgrund der zahlreichen männlichen Frontheimkehrer mit Massenentlassungen konfrontiert sind. Baer gerät immer wieder in Konflikt mit ihrem Vorgesetzten, dem Sozialminister Unterleitner. Sie hat es nicht nur schwer weil sie eine Frau ist, sondern auch ihre Parteilosigkeit ist dem Sozialdemokraten ein Dorn im Auge. So wird das Referat bereits Anfang April 1919 wieder aufgelöst (Sternsdorf-Hauck 1989).

Auf Druck der Frauen wird zunächst das Gesinderecht aufgehoben, das Hausher_innen die Verfügungsgewalt über die komplette Lebensführung ihrer Hausangestellten zugesprochen hatte. Dem BSF gehen die neuen Regelungen jedoch noch nicht weit genug. Er problematisiert den Status der Dienstmädchen und der weiblichen Hausarbeit grundsätzlich. Heymann schreibt in einem Artikel, dass es generell unter der Würde des Menschen sei, einen anderen bedienen zu müssen. Sie fordert „Zentralhaushaltungen“ mit vielen Familienwohnungen, in denen Essen, Heizung, Wäsche und so weiter gemeinsam geregelt werden. Auch Krippen, Kindergärten und Horte sollten an diese Haushalte angeschlossen sein. Die Arbeiten sollen weiter von Hausangestellten ausgeführt werden, allerdings unter geregelter Arbeitszeit und gegen gute Bezahlung. Außerdem müsse der höchste Stand der Technik eingesetzt werden, wie zum Beispiel „Vacuummaschinen zum Reinigen der Wohnungen.“ Die Vorschläge zielen darauf ab, dass Hausangestellte sich fortan weigern sollen, in Einzelhaushalten zu dienen. Neben dem Nutzen für alle Beteiligten sei ein solches Modell auch ökonomisch wesentlich vernünftiger, da es immense Kosten einspare. „Der kapitalistische Staat hat abgewirtschaftet“, schließt sie ihren Artikel. „Wir gehen mit Riesenschritten der Sozialisierung entgegen.“ (zit. n. Sternsdorf-Hauck 1989, S. 33)

Feministische Erfolge gibt es auch auf einem anderen Gebiet. Als Maßnahme gegen konterrevolutionäre Aktivitäten wird in der Räterepublik ein Revolutionstribunal eingerichtet. Darin werden erstmals Frauen als Richterinnen zugelassen. Bisher durften diese zwar Jura studieren, nicht aber als Juristinnen arbeiten. Das bayerische Revolutionstribunal ist damit das erste deutsche Gericht, in dem Frauen als Richterinnen arbeiten. Darüber hinaus beantragt die Referentin für Frauenrecht im Ministerium für soziale Fürsorge bei Delikten, die von Frauen begangen worden sind oder in denen Frauen als Klägerinnen auftreten, eine paritätische Besetzung des Gerichts mit Männern und Frauen. Während seiner gesamten Tätigkeit verhängt das Tribunal kein einziges Todesurteil und nur wenige Freiheitsstrafen, weshalb es als relativ harmlos gilt. Ein weiterer Erfolg der Frauen wird bereits unter Eisner erzielt: Erstmals in der Geschichte Deutschlands erhalten Frauen das Wahlrecht.

Aber auch die Rätestrukturen selbst haben ein Problem mit männlicher Dominanz. Auf der Frauenkonferenz der USPD hält die Frankfurter Revolutionärin Toni Sender eine Rede, die die Rolle von Frauen in der Revolution anschaulich beschreibt: „In den Arbeiterräten selbst fanden wir nur eine ganz spärliche Anzahl weiblicher Vertreter, die in gar keinem Verhältnis stand zu der Anzahl der erwerbstätigen Frauen. Aber gar erst in den Vollzugsausschüssen: Dort war nur in den allerseltensten Fällen eine weibliche Delegierte aufzufinden.“ Eine solche patriarchale Struktur der Räte widerspreche jedoch ihrem demokratischen Grundgedanken. So wirft sie ihren ebenfalls anwesenden männlichen Genossen vor: „Die Räte können nur dann Ausdruck des Massenwillens werden, was sie ja sein sollen, wenn das Recht der Mitwirkung und Mitbestimmung nicht für eine ganze Hälfte des Proletariats toter Buchstabe bleibt. Als Sozialisten verlangen wir ja grundsätzlich das Recht der sozialen und menschlichen Gleichberechtigung, über das Recht politischer Gleichberechtigung hinaus. Wie wollten wir das verkennen, dass die Frauen am besten selbst die Sachverwalter ihrer eigenen Interessen sein werden.“ Deshalb, erklärt Sender, müsse es eigene Frauenräte geben (Sender 1920).

Auch auf einer Sitzung des Gesamträtekongresses in München fordert der BSF die Errichtung eigener Frauenräte. Der Antrag wird aber nur von den Linksradikalen unterstützt, so dass es zu keiner formalen Repräsentation der Frauen kommt. Darüber hinaus gibt es in der vierten Phase der Revolution einen regelrechten antifeministischen Backlash unter den Linken. Während vorher Frauen an führenden Stellen in den revolutionären Organisationen vertreten waren, werden sie nun wieder zurückgedrängt. So setzt Eugen Leviné in der Münchner KPD durch, dass Frauen keine Parteiverlautbarungen mehr unterzeichnen dürfen und aus Führungsposten entfernt werden (Schaupp 2017). Zusammenfassend kann festgehalten werden: Frauen waren, insbesondere in der Frühphase, führend an der Revolution beteiligt und wurden später gezielt zurückgedrängt.

These III: Die Räterepublik war nicht auf München beschränkt, sondern erstreckte sich über ganz Bayern

Für die bayerische Revolution hat sich Großteils der Name „Münchner Räterepublik“ eingebürgert. Dadurch wird der Eindruck vermittelt, die Revolution habe nur in München stattgefunden. Tatsächlich war München unbestreitbar das Zentrum der revolutionären Aktivitäten, aber die Räterepublik erstreckte sich de facto über ganz Bayern. Es gab Rätestrukturen bis in die kleinsten Provinzdörfer. Orte wie Bad Aibling, Kolbermoor oder Urfeld waren revolutionäre Hochburgen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Rätebewegung vor allem an denjenigen Orten stark ist, in denen Arbeiter_innen in Industriebetrieben massenhaft zusammenarbeiten.

Bereits am ersten Tag nach dem Sturz der Monarchie erklären nicht nur alle bayerischen Großstädte ihre Unterstützung des sozialistischen „Volksstaats“. Auch aus 32 kleineren Städten treffen begeisterte Telegramme ein. In den folgenden Tagen wird sich die Rätebewegung in allen Regierungsbezirken noch bis in die kleinsten Ortschaften ausbreiten – und zwar ohne äußeres Eingreifen, sondern durch spontane revolutionäre Aktionen der Arbeiter_innen, sowie lokalen sozialistischen Parteien und Gruppen. In kaum einer dieser Ortschaften werden dabei die Münchner Deklarationen einfach kopiert. Die lokalen Machtverhältnisse werden auf je eigene Weise gegen die Widerstände der örtlichen Eliten geändert. Die bis zu diesen Tagen so gut wie gar nicht politisch repräsentierten proletarisierten Massen halten plötzlich die Macht in den Händen. Allerdings bleiben die kommunalen Verwaltungsapparate unter Eisner weitgehend unangetastet und die monarchistischen Beamten walten weiter ihres Amtes (Seligmann 1998).

Später ist es die Nachricht von der Ermordung Eisners, die in ganz Bayern eine Art zweite Revolution auslöst. In unterfränkischen Würzburg besetzt der Soldatenrat das Rathaus und ruft die Räteregierung aus. In Rosenheim wird die rote Fahne auf dem Rathaus gehisst und von einer mehrere tausend Menschen umfassenden Menge der Rücktritt des Bürgermeisters erzwungen. Das Rathaus wird von zweihundert Mann Republikanischer Schutztruppe besetzt. Im oberbayerischen Ingolstadt übernimmt der Arbeiter- und Bauernrat die Kontrolle über die Verwaltung. In Schweinfurt werden Post- und Telegrafenamt durch Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrats. Im oberpfälzischen Leonberg zieht die Trauerdemonstration zum Schloss des verhassten Grafen von der Mühle-Eckhart. Sein Schloss wird vollständig geplündert und verwüstet. Der dazugehörige Park wird enteignet und für die Bebauung mit kostenlosen Wohnungen für Arbeitslose vorgesehen. Die Polizei wird vollständig entwaffnet. Im schwäbischen Augsburg verwüstet noch am Tag des Mords eine wütende Menge die Redaktionen der bürgerlichen Zeitungen, das Bischofspalais und das Justizgebäude. Außerdem stürmen die aufgebrachten Arbeiter_innen das Gefängnis und befreien alle Gefangenen. Der lokale Arbeiter- und Soldatenrat besetzt alle öffentlichen Gebäude und stellt die bürgerlichen Zeitungen unter Zensur (Seligmann 1998).

Die letztendliche Ausrufung der Räterepublik geschieht nicht etwa auf Initiative Münchens, sondern vor allem auf Druck der Industriearbeiterschaft in Nürnberg und Augsburg. Letztere droht an, in den Generalstreik zu treten, bis die Räterepublik ausgerufen sei. Zuvor hatten vor allem die Vereinigungen der Arbeitslosen diese Forderung in täglichen Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. Nun schließen sich viele Arbeiter_innen- und Soldatenräten an. Besonders wichtig für die Ausbreitung der Räterepublik in der Provinz ist die Rolle der Bauernschaft. Diese war über die gesamte Zeit der Revolution durch den Bayerischen Bauernbund (BBB) in den verschiedenen Regierungen vertreten. Als am 4. April 1919 über die Ausrufung der Räterepublik beraten wird, erklärt der Vertreter des BBB, dass die Bauernschaft einer Räterepublik nur dann zustimmen werde, wenn bäuerlicher Grundbesitz vorerst nicht sozialisiert werden würde. Da die Teilnahme der Bauernschaft für alle Anwesenden zwingende Voraussetzung ist, sieht sich die Versammlung gezwungen, die Forderungen der Bauern anzunehmen. Während der Räterepublik selbst stellt die Bauernschaft die Revolutionär_innen immer wieder vor Probleme. Viele Bauern haben Angst, dass die Kommunist_innen ihnen ihre Höfe wegnehmen wollen. Durch die Kontrolle über die Nahrungsmittel stellen die Bauern eine ernstzunehmende politische Macht dar, zudem ist nur eine Minderheit von ihnen revolutionär eingestellt. So werden in der vierten Phase der Revolution über München von einem Flugzeug aus Flugblätter der sozialdemokratischen Gegenregierung abgeworfen. Diese verkünden, dass die Bauernschaft von Franken, der Oberpfalz und dem Ries eine Lebensmittelsblockade gegen München verhängt haben. Der Vorsitzende der Münchner KPD, Eugen Leviné, fordert, dass dieses Problem nach dem russischen Vorbild gelöst werden müsse und Strafexpeditionen die Bauern dazu zwingen sollen, wieder Lebensmittel zu liefern. Tatsächlich wird von diesem Vorgehen aber wieder Abstand genommen. So herrscht im revolutionären München bald eine Hungersnot (Schaupp 2017).

Im Münchner Rätekongress wird die rätedemokratische Repräsentation der Provinz immer wieder diskutiert. Einerseits sieht man sich aufgrund der angespannten Lage, die immer schneller auf einen Bürgerkrieg zusteuert, dazu gezwungen, im Zweifelsfall schnelle Entscheidungen zu treffen. Andererseits mahnen die Räte aus der Provinz immer wieder ihr Mitbestimmungsrecht an. Meist wird dann versucht, einen Kompromiss zwischen Agilität und Inklusivität zu finden. Auch nach der Niederschlagung der Rätebewegung in München wird die Rolle der Provinzstädte noch einmal deutlich: Die Reste der Roten Armee ziehen sich ins südöstlich der Landeshauptstadt gelegene Rosenheim und nach Kolbermoor zurück, wo es jeweils eine starke revolutionäre Basis gibt. Dort kämpfen sie noch mehrere Tage weiter. Insgesamt lässt sich also festhalten: Die Räterepublik war nicht auf München beschränkt, sondern erstreckte sich über ganz Bayern.

These IV: Mit der Gegenrevolutionären Koalition erweckte die Sozialdemokratie eine bereits besiegte Rechte wieder zum Leben

Zentraler Gegner der Revolution war in allen fünf Phasen die Führung der Sozialdemokratie. (2) Die politische Rechte hat zu dieser Zeit ihre Macht fast vollständig eingebüßt. Ihre zentrale Organisation war im monarchistischen Deutschland das preußische Militär. Das aber hat nach der deutschen Niederlage im Weltkrieg nicht nur seine materielle Macht verloren, sondern auch sein Ansehen in der Bevölkerung fast vollständig verspielt. Die SPD-Spitze um Erhard Auer sieht jedoch nach dem Sturz der Monarchie in den Überbleibseln des monarchistischen Verwaltungsapparats seinen zentralen Verbündeten für sein Anliegen, Bayern in parlamentarische Bahnen zu lenken und die Rätedemokratie auszuhebeln. Die Tatsache, dass Eisner nichts dafür tut, die monarchistischen Beamten aus ihren Positionen zu ersetzen, gibt Auer dabei den entscheidenden Vorteil. So schickt das Innenministerium beispielsweise Antworten auf Anfragen und Beschwerden der lokalen Räte in der Provinz nie an die anfragenden Räte selbst zurück, sondern auf dem herkömmlichen Verwaltungsweg an die jeweiligen Magistrate.

SPD logo 1969
Damals wie heute zwischen Reaktion und Elend: Die… ihr wisst schon.

Von Anfang an bereitet Auer aber auch schon die gewaltsame Niederschlagung der Rätebewegung vor. Zu diesem Zweck gründet er Weihnachten 1918 gemeinsam mit monarchistischen Militärs und Vertretern des Münchner Bürgertums eine Bürgerwehr. Beteiligt sind auch die Münchner Sektion des Deutschen Alpenvereins, sowie der Turnerverein und verschiedene Studentenverbindungen. Erzbischof Faulhaber will die Bürgerwehr zu gegebener Zeit durch das Läuten der Münchner Kirchenglocken zum Kampf zu rufen lassen. Auer erklärt, dass er als Innenminister die Polizei unter Kontrolle habe und sogar die Polizeireviere zu Waffendepots für die Bürgerwehr umfunktionieren könne. Es wird ein detaillierter Plan zur Besetzung wichtiger öffentlicher Gebäude vorbereitet. Die SPD-Anführer Auer und Buttmann scheuen sich nicht einmal davor, den Aufruf zur Bildung einer gegenrevolutionären Bürgerwehr eigenhändig zu unterzeichnen und überall in München plakatieren zu lassen. Später zwingt Eisner die beiden Sozialdemokraten zwar dazu, ihre Unterschriften zu widerrufen, die Bürgerwehr arbeitet aber im Geheimen weiter.

Auch vor einer Zusammenarbeit mit der präfaschistischen Thule-Gesellschaft schreckt die SPD-Führung nicht zurück. Dabei handelt es sich um einen vor allem antisemitisch motivierten Geheimbund um den Esoteriker Rudolf Glauer. Dieser gründet sich zum Kampf gegen den Linksruck in Bayern, für den sie eine jüdische Verschwörung verantwortlich machen. Zunächst beschränkt sie sich auf antisemitische Propaganda, dann gründet sie den „Kampfbund Thule“ als militärischen Arm ihrer Geheimgesellschaft. Später wird aus dieser Terrorgruppe das Freikorps Oberland hervorgehen, das sich der Bekämpfung von Revolutionär_innen in ganz Deutschland verschreibt. Ihr erstes Ziel ist die Entführung Kurt Eisners und die Installation von Erhard Auer als Ministerpräsident. Bei einer Rede Eisners in Bad Aibling unternehmen sie den entsprechenden Versuch. Es ist jedoch eine große Zahl linker Arbeiter aus dem nahen Kolbermoor anwesend, die Eisner schützen. So misslingt die erste Gewaltaktion (Gilbhard 2015).

Später führt das ehemalige Thule-Mitglied Anton von Arco Valley ein Attentat auf Eisner aus. Arco Valley wurde zuvor aus der Thule-Gesellschaft ausgeschlossen, nachdem man dort herausgefunden hatte, dass seine Großmutter Jüdin ist. Um seine antisemitische Gesinnung zu beweisen, erschießt Arco Valley den Ministerpräsidenten. Zu diesem Zeitpunkt ist die Spaltung zwischen Sozialdemokratie und Linken bereits so weit fortgeschritten, dass letztere davon sofort davon ausgehen, dass hinter der Ermordung Eisners nur Auer stecken könne. Ein Linker stürmt in den Landtag und eröffnet das Feuer. Auer wird schwer verwundet. Seinen Platz nimmt der nicht minder gegenrevolutionär gesinnte Johannes Hoffmann ein. Während dieser einerseits mit den Vertretern des Rätekongresses über eine neue sozialistische Regierung verhandelt, leitet er gleichzeitig die Bildung einer bürgerlichen Gegenregierung mit den bereits ausgeschalteten rechten Parteien BVP und DDP ein. Nach der Ausrufung der Räterepublik bildet er mit diesen in Bamberg eine Gegenregierung, deren primäres Ziel der Sturz der Räte ist.

Zunächst reaktiviert Hoffmann die Pläne eines Putsches in München. Auch hier koordiniert sich die Sozialdemokratie mit der Thule-Gesellschaft, die versucht, die Räte zu infiltrieren und Informationen zu beschaffen. Der Putsch scheitert jedoch an einem Koordinierungsfehler. Eigentlich hätte gleichzeitig mit dem Losschlagen der Putschisten in München gegenrevolutionäre Truppen von Ingolstadt aus auf die Landeshauptstadt vorstoßen sollen. Diese Truppen werden dann aber nie in Bewegung gesetzt (Schaupp 2017). Daraufhin fragt Hoffmann beim Reichsmilitärminister, seinem Parteigenossen Noske, um Entsendung der Reichswehr an. Da die Reichswehr weitgehend demobilisiert wurde und die verbleibenden Soldaten zu großen Teilen Revolutionäre sind, verbündet sich die Sozialdemokratie für ihre Konterrevolution zudem mit den rechtsextremen Paramilitärs der Freikorps. Der wichtigste Freikorpsverband ist dabei der „Grenzschutz Ost“. Der Kommandant des Verbandes ist Oberst Franz Xafer von Epp, der bereits als Kolonialsoldat in China an der Niederschlagung des Boxeraufstandes und in Deutsch-Südwestafrika am Genozid an den Nama und Herero teilgenommen hat. Nun zieht er auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf in Thüringen mit der Unterstützung des sozialdemokratischen Militärministers immer mehr reaktionäre Milizionäre zusammen. Er findet seine Rekruten vor allem unter den Bauern und Studenten (Seligmann 1998).

Finanziert werden die Freikorps vor allem mittels Spenden aus dem Bürgertum. So wird es möglich, dass der Sold bei den reaktionären Truppen doppelt so hoch ist wie bei der Roten Armee, was schlussendlich für viele hungernde Männer den Ausschlag gibt, sich ihnen anzuschließen. Für jeden „Bereitschaftstag“ wird außerdem eine zusätzliche Prämie von fünf Mark gezahlt, für jeden „Kampftag“ zehn Mark. Außerdem gibt es Prämien für jeden Gefangenen. Dieses Provisionssystem trägt mit zur Brutalität der weißen Truppen bei. Um gefahrlos zu „Kampftagen“ zu kommen, beschießen sie immer wieder unbewaffnete Arbeiter_innen oder nehmen wahllos Gefangene. Trotzdem halten die Generäle die meisten ihrer Truppen für unzuverlässig, da es immer wieder zu Desertionen kommt. Ein geheimer Befehl ordnet deshalb strenge Kasernierung und häufiges Quartierwechseln in den besetzten Städten an, um die „zersetzende Wirkung des Verkehrs mit der Arbeiterbevölkerung“ zu vermeiden (Wollenberg 1929, S. 95).

So kommt es während des Vorrückens der Reichswehr und Freikorps immer wieder zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Dies wird durch die Regierung Hoffmann dadurch ‚legalisiert‘, dass den gegenrevolutionären Truppen befohlen wird, Revolutionär_innen an Ort und Stelle zu erschießen. In einem Offiziers-Handbuch zur Bekämpfung von „Spartakisten“ heißt es zudem: „Die Gruppen haben ihre Aufträge mit Gewalt durchzuführen, jedes Verhandeln mit dem Feinde oder mit der Bevölkerung ist verboten. Milde wird als Schlappheit, Gutmütigkeit als Unzuverlässigkeit der Truppen gedeutet.“ Deshalb müsse den Truppen auch, wann immer möglich, der Einsatz von schwerem Kriegsgerät wie Flammenwerfern erlaubt werden. Am Ende wird zusammengefasst: „Je schärfer die Mittel desto schneller der Erfolg.“ Nach der Niederschlagung der Räterepublik und über tausend Toten resümiert ein Kommandeur, diese Richtlinien hätten sich „voll bewährt.“ (zit. n. Jones 2017, S. 311) Die Bürgerschaft zeigt sich den gegenrevolutionären Truppen dankbar: ganze 690.000 Mark werden gesammelt und sollen unter den Soldaten verteilt werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die Rechte war mit der Niederlage des Deutschen Reichs im Weltkrieg weitgehend besiegt, wurde aber von der Sozialdemokratie im gegenrevolutionären Bündnis wieder in den Sattel gehoben.

These V: Die Niederschlagung der Räterepublik war die Geburtsstunde des Nationalsozialismus

Mit den Freikorps und der Thule-Gesellschaft hat die SPD Kräften zur Auferstehung verholfen, die eigentlich bereits besiegt schienen. Im Falle der Thule-Gesellschaft geht die politische Ausrichtung jedoch weit über das hinaus, was vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich an rechter Ideologie kursierte. Ziel der Gesellschaft ist es, der „jüdischen Weltverschwörung“ mit eigenen konspirativen Mitteln das Handwerk zu legen. Zu diesem Zweck wollen die Geheimbündler eine nationale Diktatur errichten, unter der schließlich alle Juden aus dem Deutschen Reich vertrieben werden sollen – ein Vorhaben, das in der bayerischen Bevölkerung einigen Anklang findet. Passend dazu bestimmt der Bund die folgenden Wahlsprüche: „Halte dein Blut rein“ und „Bedenke, daß du ein Deutscher bist“. Als Erkennungszeichen verordnet Rudolf Glauer das von einem Strahlenkranz eingefasste Hakenkreuz und das blanke Schwert. Der Gruß der Mitglieder bei ihren Treffen soll „Heil und Sieg“ lauten.

Zunächst macht sich die Thule-Gesellschaft antisemitische Propaganda zu ihrer zentralen Aufgabe. Zu diesem Zweck kauft Glauer mit dem Vermögen seiner Frau die Zeitung Münchner Beobachter. Unter seiner Chefredaktion wird das Boulevardblatt zum Zentralorgan der Thule-Gesellschaft, in dem diese gegen Juden und Revolutionäre hetzt. Von den Behörden des jungen „Volksstaats“ bleiben sie in ihren Umtrieben zunächst ungestört. Als für den 12. Januar 1919 Landtagswahlen festgesetzt werden, sehen die Reaktionäre ihre Chance wieder die politische Oberhand zu gewinnen. So beauftragt der Thule-Führer Glauer den Sportredakteur des Münchner Beobachters, Karl Harrer, sich in einem obskuren „Freien Arbeiterausschuss“ zu engagieren, aus dem dann unter Harrers Vorsitz die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) entsteht. Wenig überraschend sind ihre politischen Eckpfeiler, der völkische Nationalismus und der Antisemitismus (Gilbhard 2015).

Als am 26. April 1919 das Versteck der Thule-Gesellschaft im Hotel Vier Jahreszeiten auffliegt, wird unter anderem Rudolf Glauer verhaftet. Im Hotel sind Dokumente und Ausweise der Räteregierung gefälscht worden. Mehrere Thule-Agenten haben die kommunistische Partei und die Rote Armee infiltriert und bespitzelt. Die Erkenntnisse wurden direkt an die Gegenregierung in Bamberg weitergeleitet. Außerdem sind systematisch Kämpfer für die Freikorps rekrutiert worden. Einer der Verhafteten gibt an, Thule habe allein aus München 400 bis 500 rechte Kämpfer mobilisiert und mit gefälschten Papieren nach Bamberg geschmuggelt. Nun werden Thule-Mitglieder und Spitzel im Münchner Luitpoldgymnasium eingesperrt und sollen vor das Revolutionstribunal gestellt werden. Damit ist es in München zur ersten aktiven Auseinandersetzung der revolutionären Arbeiterbewegung mit dem entstehenden Faschismus gekommen.

Mehrteilige 3sat-Serie zu den revolutionären Vorgängen 1918/19 – Quelle: Youtube

Als am 30. April 1919 Reichswehr und Freikorps auf München vormarschieren und immer wieder Nachrichten von Massakern in der Stadt kursieren, entschließen sich die Rotgardisten in der Luitpoldkaserne, zehn dort festgehaltene Gefangene zu erschießen. Die meisten von ihnen gehören zu den festgesetzten Thule-Mitgliedern. Später wird diese einzige belegte Hinrichtung der Räterepublik als „Geiselmord“ firmieren. Die Gegenregierung lässt verkünden, man habe die Leichen verstümmelt aufgefunden und die abgeschnittenen Geschlechtsteile in Mülleimern entdeckt. Als zwei Tage später herauskommt, dass es sich um eine Lüge handelt, hat die Nachricht bereits ihre Wirkung getan. Besonders die Freikorps, die sich der Thule-Gesellschaft verbunden fühlen, werden in ihrem Hass noch weiter angestachelt. Vermutlich auch um ihre Verbindung zu Thule zu demonstrieren, marschieren viele Freikorps in München mit Hakenkreuzen auf ihren Stahlhelmen ein (Jones 2017). Am 4. August 1919 wird unter dem Namen Thule-Gesellschaft zur Erforschung deutscher Geschichte und Förderung deutscher Art e.V. die Geheimorganisation der rechtsextremen Konterrevolutionäre ins Münchner Vereinsregister eingetragen. Fortan kann sie offiziell und legal ihrer reaktionären Hetze nachgehen.

Am 1. Dezember 1919 wird das Kriegsrecht über München aufgehoben, aber Bayern bleibt zunächst von einer reaktionären Militärjunta beherrscht. Ein großer Teil der Freikorps wird in die Reichswehr übernommen. So auch das Freikorps Epp, das bei der Niederschlagung der Räterepublik am blutigsten vorgegangen ist und eine Vielzahl von Zivilisten und Gefangenen wie Gustav Landauer ermordet hat. Wenig später bekommt das Freikorps erneut die Chance, gegen die verhassten Kommunisten vorzugehen, als es in der Märzrevolution 1920 gegen die Rote Ruhrarmee eingesetzt wird. Als in Bayern der Aufstieg des Nationalsozialismus beginnt, rühmen sich Franz Xafer von Epp und seine Offiziere Röhm, Heß, Dietl, Frank und Strasser, dass das Freikorps Epp eine der „Geburtszellen der Bewegung“ gewesen sei. Andere Freikorpseinheiten bilden sogenannte Wehrverbände oder sie kommen bei paramilitärischen Verbänden wie dem Stahlhelm oder der SA unter. Ehemalige Angehörige von Freikorps betätigen sich zudem in „Einwohnerwehren“ und machen mit politischen Morden – unter anderem an Finanzminister Erzberger und Reichsaußenminister Rathenau – von sich reden (Schaupp 2017). Diejenigen Freikorpsverbände, die tatsächlich aufgelöst werden, sehen sich von Arbeitslosigkeit bedroht und in ihrem militaristischen Stolz gekränkt. Unter anderem deshalb kommt es im März 1920 zum Kapp-Putsch, der aber nach fünf Tagen angesichts des erfolgreichen Generalstreiks der Arbeiter_innen wieder zusammenbricht. Im Nachklang dessen sorgt das Freikorps Epp gemeinsam mit der rechtsextremen Einwohnerwehr Georg Escherich und dem Münchner Polizeichef in Bayern für den Sturz der Sozialdemokratischen Regierung unter Johannes Hoffmann. Neuer Ministerpräsident wird der rechte Monarchist Gustav von Kahr. Dieser schließt alle Sozialdemokraten aus der Regierung aus, startet eine Kampagne zur Ausweisung sogenannter „Ostjuden“ und weitet die Repressionen gegen Linke aus. So will er aus Bayern eine „Ordnungszelle des Deutschen Reiches“ machen. Zur selben Zeit überführt Adolf Hitler die von der Thule-Gesellschaft ins Leben gerufene DAP in die NSDAP. Aus der Thule-Zeitung Münchner Beobachter wird der Völkische Beobachter, das Zentralorgan der Nazis. Zusammenfassend kann also festgestellt werden: Die Niederschlagung der Rätebewegung war die Geburtsstunde des deutschen Faschismus.

Simon Schaupp

Anmerkungen:

1) Simon Schaupps Artikel ist ein Vorabdruck aus dem voraussichtlich im Januar 2019 im Mandelbaum Verlag in Wien erscheinenden Buch: Anna Leder, Andreas Pavlic (Hg.), Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, ca. 250 Seiten, ca. 17 Euro, ISBN 978385476-680-3

2) Im Gegensatz zur Führung nahmen viele Mitglieder der SPD an revolutionären Aktivitäten teil und hatten teilweise auch wichtige Ämter in den revolutionären Organisationen inne.

Quellen:

Gerstenberg, Günther (2018): Der Kurze Traum vom Frieden. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Umsturzes in München 1918 mit einem Exkurs über Sarah Sonja Lerch in Gießen von Cornelia Naumann. Lich: Edition AV

Gilbhard, Hermann (2015): Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz. München: Clemens Kiessling.

Hieronimus, Marc (2006): Krankheit und Tod 1918: zum Umgang mit der Spanischen Grippe in Frankreich, England und in dem Deutschen Reich. Münster: Lit.

Jones, Mark (2017): Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin: Propyläen

Klemperer, Viktor, (1919 [2015]): Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Berlin: Aufbau. Schaupp, Simon (2017): Der kurze Frühling der Räterepublik. Ein Tagebuch der bayerischen Revolution. Münster: Unrast.

Seligmann, Michael (1998): Aufstand der Räte. Die erste bayerische Räterepublik vom 7. April 1919. Grafenau-Döffingen: Trotzdem.Sender, Toni (1920 [2007]): Die Frauen und das Rätesystem. In: Panther, Theo (Hg.): Alle Macht den Räten! II. Rätemacht in der Diskussion. Münster: Unrast, S. 396 – 407.

Sternsdorf-Hauck, Christiane (1989): Brotmarken und rote Fahnen. Frauen in der bayrischen Revolution und Räterepublik 1918/19. Frankfurt a. M.: ISP.

Vollzugsrat der Groß-Berliner A.S.-Räte (1918 [2007]): Einladung zur Delegiertenversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte. In: Panther, Theo (ed.): Alle Macht den Räten! Münster: Unrast, S. 182-184.

Wollenberg, Erich (1929 [1972]): Als Rotarmist vor München. Hamburg: ISP.

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier