Dieser utopische Artikel des libertären Munizipalisten Pierre Bance schließt an den Aufruf von Commercy an und formuliert auf den Forderungen der Gelbwesten-Bewegung nach Formen direkter Demokratie eine libertäre Utopie. (GWR-Red.)
Die Spontaneität der Bewegung der „Gilets jaunes“ (Gelbwesten) und auch ihre verwirrende Heterogenität lassen einige problematische Entwicklungen und Abwege befürchten, ohne dass man schon sagen könnte, welche. Aber wäre das ein Grund dafür, dass diejenigen, die bei jeder Gelegenheit nach einer Volksbewegung rufen – also Linksradikale, Libertäre, Syndikalist*innen – nun plötzlich abseits stehen bleiben sollten, während dieses Volk seine Angelegenheiten in die eigenen Hände nimmt? Wer hätte schon im Jahre 1789 vorausgesehen, dass die anfängliche Bauernrevolte auf die Entstehung einer Republik hinauslaufen würde? Die sozialistischen Parteien und die Arbeitergewerkschaften, die im 19. und 20. Jahrhundert angetreten sind, gegen den industriellen und bourgeoisen Kapitalismus Widerstand zu leisten, sind verknöchert durch die zu häufige Inanspruchnahme der Institutionen und nicht mehr in der Lage, auf die Macht des Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts, sei es auf digitaler, sei es auf finanzpolitischer Ebene zu antworten. Sondern sie befinden sich ständig in der Defensive, häufen Niederlage auf Niederlage, agieren ohne jede Phantasie und begraben so ihre Versprechen für ein besseres Leben. Wird aber diese Hoffnung auf Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität – wenn auch noch konfus – nicht heute viel eher von denen genährt, die die neue Weltordnung Macrons einfach nicht mehr wollen?
Genug von der Arroganz der Macht
Die Sansculotten (1) des Jahres 2018 haben genug von dieser Arroganz der Regierenden, die den individuellen Erfolg propagieren, um Ungleichheiten zu rechtfertigen und dabei diejenigen verachten, die nicht allein zu Rande kommen; der Regierenden, die die Reichen schützen und die Anderen auspressen. Hier haben wir einen Präsidenten der Republik, der sich wie eine Majestät aufführt, um seine neoliberale Politik der strukturellen Anpassung an die Bedürfnisse der Banken und der Notwendigkeiten des Europäischen Marktes durchzusetzen und dabei auf eine Steuerpolitik zurückzugreifen, die mehr und mehr den guten alten Zeiten der Salzsteuer gleicht. Aber angesichts der pazifistisch (2) handelnden Bürger*innen, die lediglich eine Veränderung der Politik fordern, bekommt die Arroganz der Macht bereits Angst und verbarrikadiert sich in ihren Schlössern. Was auch immer passiert, so versucht sie zu spalten, die Netten gegen die Randalierer*innen („casseurs“) (3) oder sie verstärkt einen Diskurs der Verschwörung: Noch mehr als die Black Blocks werden die Ultra-Rechten angeführt und geben die Rechtfertigung dafür ab, ihre bewaffneten Wächter vorzuschieben, mit dem Auftrag, die Ordnung Jupiters (4) wiederherzustellen.
Aber merkt Macron eigentlich, dass er von den Gelbwesten als Sonnenkönig Louis XVI. neu eingekleidet wird und dass sie seinen Abtritt verlangen, wenn auch noch nicht seinen Kopf? Doch er sagt: Uff, die Ordnung ist wiederhergestellt, auf den Champs-Elysées kann wieder der Warenverkehr fließen und die Luft verunreinigt werden. Und morgen werden dort wieder die Militärs defilieren, um Macrons Austerlitz (5) zu feiern. Die kleinen Marquis’ (Herzöge) im Parlament, denen der Angstschweiß im Gesicht steht, werden jubilieren. Und die Bürokraten werden wieder einschlafen. Wenn sie dann besiegt sind, werden sich die Gelbwesten wieder zurückziehen, sich fügen und damit fortfahren, gegen Monatsende mit dem Wenigen, was ihnen bleibt, zu improvisieren? Ist ihre Bewegung dazu verurteilt, sich ihren Ermüdungserscheinungen hinzugeben oder der Gewalt des Rechtsstaates zu weichen? Nein, das wird nicht der Fall sein, wenn sie sich dafür entscheiden, sich zu organisieren. Und zwar sich auf andere Weise zu organisieren. Indem sie an die direkte Demokratie anknüpfen und an den Föderalismus der unabhängigen Communes.
Utopie der lokalen Komitees, auf Dauer gestellt
Trotz ihrer unterschiedlichen Meinungen, ihrer Herkunft aus verschiedenen sozialen Milieus, trotz ihrer unterschiedlichen Berufe kamen sie in dieser Bewegung alle zusammen, um ihre Würde zu verteidigen. Die Prekarität der einen entspricht dem Gefühl des Erschöpftseins der anderen. Sie haben erfahren, dass sie sich trotz ihrer Unterschiedlichkeiten gegenseitig verstehen können. Sie waren dazu fähig, kollektiv zu handeln und die Mächtigen in Bedrängnis zu bringen. Sie haben begriffen, dass sie das, was sie trennt, beiseite lassen können und ihre gemeinsamen Interessen, ihre alltäglichen Sorgen zur Basis ihres Anliegens machen können. Es geht jetzt darum, dieser überraschenden Begegnung der Beunruhigten, die auf dem Lande und den ins Land ausgreifenden Polypenarmen der Städte entstanden ist, eine Dauerhaftigkeit zu verleihen. Es geht darum, einen stabilen Ausgleich dieser Gegensätzlichkeiten zu finden. Man muss lokale Komitees schaffen, die nach den Prinzipien der direkten Demokratie organisiert werden: mit souverän entscheidenden Vollversammlungen, Funktionsträger*innen mit imperativem Mandat und jederzeit abwählbar, mit der Rotation der zugeteilten Verantwortungsbereiche.
Diese unabhängigen Communes, die parallel zu den bestehenden Gemeinderäten eingerichtet werden, sollten die sozialen, egalitären und ökologischen Forderungen der unteren Schichten ausdrücken. Wenn sie mit etwas nicht zufrieden sind, dann versuchen sie, ihre Antworten umzusetzen, ohne sich dabei um eine legale Repäsentationsinstanz zu kümmern. Das kann dann bedeuten, sich mit dem Bürgermeister oder dem Departements-Präfekten anzulegen, oder auch einen Abgeordneten auf seine Hinterbank zu verweisen. Tag für Tag wird sich, auf pazifistische Weise, die emanzipatorische Gesellschaft abzeichnen – eine Gesellschaft, die von Herrschaft, allen Formen von Herrschaft befreit ist. Wenn das nötig wird, werden sich diese freien Communes föderieren, um ihre Erfahrungen, ihre Analysen auszutauschen und die Verwaltung der öffentlichen Einrichtungen in die Hand zu nehmen (Schulen, Transportnetz, Gesundheitssystem, Umwelt usw.). Auf diese Weise wird der Staat Stück für Stück an den Rand gedrängt, seine Macht wird ausgedünnt bis zu dem Punkt, an dem er gänzlich nutzlos wird und es genügen wird, ein letztes Mal gegen die Pyramide der autoritären Ordnung zu drücken, damit sie zusammenfällt. Das wird ein langer und schwieriger Weg, aber er ist möglich.
Ich hör’ schon die Stimmen der Bedenkenträger. Das sei doch ein utopistischer Diskurs, so erwidern die organischen Intellektuellen der Rechten – und die linken Verbalradikalen setzen das nur mit ihren Genoss*innen auf der anderen Seite fort. „Zum Teufel mit der munizipalistischen Verrücktheit“, sagten schon die Versailler. (6) „Nur ja keine Unordnung“, so schreien diejenigen, die – oft fälschlicherweise – denken, dass sie bei einem Wandel alles verlieren. „Das ist nicht realistisch“ – werden die Wohlmeinenden denken, die sich das schon gern wünschen würden, aber nicht dran glauben. Sie alle haben sich noch immer nicht vom staatlichen Denken losgelöst. Sie wollen immer wieder warten, bis zum Ende der Zeiten, dass ihre Abgeordeten, ihre Chefs, die Intellektuellen die Lösung finden, die diese Leute unter keinen Umständen suchen: die Emanzipation des Volkes.
Die Programme der Politiker*innen sind jedoch nicht länger zu akzeptieren; die Reden Macrons und von Castaner (Innenminister) über eine große Verständigung in den Katakomben der Nationalversammlung noch weit weniger. Die Bürger*innen müssen ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. Sie sind die Einzigen, die die Phantasie besitzen, die Föderation der Communes aufzubauen – ohne jeden Cäsar oder Volkstribun. Mögen sie dem Aufruf von Commercy folgen! Auf dass sie das tun – verdammt nochmal!
Pierre Bance
Der Text stammt aus der anarchistischen Website: À Contretemps, Dezember 2018: http://acontretemps.org/spip.php?article678 Übersetzung: Lou Marin (GWR)
Anmerkungen des Übersetzers:
1) Begriff aus der Französischen Revolution: Ohne Kniebundhose – Letztere wurden von Adel und Klerus getragen, Arbeiter und Kleinbürger trugen dagegen lange Hosen.
2) Im frz. Original: „pacifique“. Es ist für die frz. politische Diskussion typisch, im weiteren bürgerlichen Milieu immer nur entweder von „pazifistisch“ oder von „Gewalt“ (violence) zu sprechen. Obwohl es eine kleine Szene der gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams gibt, ist dieser Begriff und ihre Differenz zum bürgerlichen Pazifismus nicht verbreitet. So werden Sachbeschädigungen fast ausschließlich – in der medialen Berichterstattung sowieso, aber auch bei Bürger*innen und linken Aktivist*innen – als „Gewalt“ bezeichnet.
3) „Casseurs“ ist der in Frankreich sowohl von den Medien wie auch von Aktivist*innen gleichermaßen benutzte Begriff für das, was in BRD-Medien oft mit „Links-Autonome“ (ein ganz besonderer Blödsinn, weil das suggeriert, der normale Autonome sei rechts!) oder Randalierer*innen oder auch Chaot*innen bezeichnet wird, während Aktivist*innen in der BRD doch durchweg den Eigenbegriff „Militanz“ oder „Autonome“ benutzen.
4) „Jupiter“: Gemeint ist mit diesem Begriff Macron selbst, der selbst einmal seine effektiv von oben nach unten strukturierte Befehlskette mit dem Abstand von Jupiter zur Bevölkerung verglichen hat. Seither klebt an ihm von Seiten der Bevölkerung dieser Begriff.
5) Von Napoleon gewonnene Schlacht von 1805.
6) „Versailler“ ist eine Anspielung auf die Adeligen und die Königlichen in Versaille zur Zeit der Pariser Commune 1871 – weshalb bei dieser Übersetzung auch der Begriff Communes in frz. Begrifflichkeit belassen wurde, um ihn nicht mit einer simplen „Gemeinde“ oder „Kommune“ im deutschen Verwaltungsverständnis zu verwechseln. Der Autor versteht sich als libertärer Munizipalist im Sinne Bookchins, vor einigen Jahren auch unter dem Namen „libertärer Kommunalismus“ diskutiert.
Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier