In Frankreich hat sich unbemerkt von Eliten und Gewerkschaften eine neue soziale Bewegung formiert. Neben erfreulichen Erscheinungen trübt vor allem der Einfluss rechter Kräfte das Bild.
Seit ca. drei Wochen legen die Blockaden der sogenannten „Gelben Warnwesten“ oder „Gelbwesten“, der „Gilets Jaunes“, in Frankreich die gesamte Wirtschaft lahm. In jüngsten Berichten etwa des „Figaro Économie“ vom 3.12. wird von Umsatzeinbrüchen von 15 bis 25% je nach Sektor gesprochen. Betroffen sind vor allem kleine und mittlere Zulieferbetriebe sowie die großen Autofirmen wie Renault oder Peugeot oder Betriebe der Lebensmittelbranche. Durch die Blockaden der Gelbwesten ist deren empfindliche Infrastruktur angegriffen worden. Die Gelbwesten blockieren, über das gesamte Land verteilt, wochentags und am Wochenende, in Schichten vielerorts auch in der Nacht, strategische Verkehrskreisel, die zu Produktionsstätten führen, oftmals auch direkt Tankstellen oder Bezahlstellen auf Autobahnen. Dabei werden in der Regel Privat-PKWs gefiltert durchgelassen, während LKWs oft lange blockiert werden. So kommt es zu den Lieferengpässen und Produktionsausfällen wegen fehlender Ersatzteile oder Lieferungen.
Begleitet werden diese dezentralen Proteste, die äußerst effektiv wirken, von samstäglichen Massendemos der Gilet Jaunes. Davon hat es bisher drei Mobilisierungs-Samstage gegeben, am 17. November beteiligten sich im ganzen Land 282000 Demonstrant*innen, am 24. November 166000 und am 1. Dezember 136000. Bei der letztgenannten Mobilisierung fuhren rund 10000 Menschen nach Paris, wo es am Rande der Demonstration zu zahlreichen Sachbeschädigungen, Plünderungen und physischen Angriffen auf die Polizei kam.
Klassenübergreifende Zusammensetzung
Die Bewegung setzt sich aus klassenübergreifenden Milieus zusammen – eine sehr heterogene und widersprüchliche Struktur hat sich herauskristallisiert. Viele Pendler*innen, die auf Autofahrten von ihrer Landwohnung zum Arbeitsplatz angewiesen sind, bildeten den Ausgangspunkt. Zu ihnen kamen sehr schnell Rentner*innen, denen die Rente nicht mehr reicht; am Rande der Prekarität wirtschaftende Kleingewerbetreibende oder LKW-Speditionen; aber auch allein erziehende Mütter – und nun haben sich zuletzt Bauern/Bäuerinnen sowie Student*innen der Bewegung angeschlossen.
Aufgrund der betroffenen Pendler*innenbevölkerung, die auf dem Lande lebt, stand bereits seit Sommer die von Macron gesenkte Geschwindigkeitsbegrenzung auf allen Landstraßen auf 80 km/h im Zentrum eines steigenden Unmuts. Die drastisch gestiegenen Benzinpreise im Herbst und die Aussicht auf eine von Macron dekretierte Ökosteuer ab dem 1. Januar 2019 brachten die Wut zum Überschäumen. Es ist also ursprünglich eine Bewegung von Autofahrer*innen, der unteren Mittelklasse also, derjenigen, die sich noch ein Auto leisten können. Die typisch bürokratisch-staatliche Politik der Ökosteuer hat ihre Forderungen als absoluten Gegensatz zu Ökologie und Klimawandel erscheinen lassen – aber nur, weil sich Macron als weltweiter Vorreiter einer Klimapolitik präsentiert, die aber keineswegs radikal-ökologisch, sondern bürokratisch-fiskal organisiert ist und bei der im Dunkeln verschwindet, ob und wieviel der damit eingenommenen Gelder tatsächlich für Maßnahmen gegen den Klimawandel ausgegeben werden. So entsteht ein falscher Gegensatz zwischen Ängsten vor dem Prekariat einer finanziell immer stärker belasteten Mittelklasse und einer Vorstellung von Ökologie als Politik für die Privilegierten. Dies verdeutlicht sich in dem Slogan der Gelbwesten: „fin du mois au lieu du fin du monde“, in etwa: Wir machen uns Sorgen um das Monatsende, weil unser Geld, unser Einkommen nur bis zum 15., 20. oder 25. des Monats reicht, während die Regierenden und die Ökolog*innen sich um das Ende der Welt (angebliche Verhinderung durch ökologische Steuerpolitik) Sorgen machen.
Inzwischen hat die Bewegung aber weitere soziale Forderungen mit aufgenommen, etwa die Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns.
Präsident Macron hat nach nur einem Jahr Regierung bereits vollkommen abgewirtschaftet. Vor allem seine Abschaffung der Vermögenssteuer (bwz. Umwandlung in eine Immobiliensteuer) im Dezember 2017 haben ihn in den Augen fast aller Franzosen/Französinnen zu einem „Präsidenten der Reichen“ werden lassen.
Doch auch die Gewerkschaften stecken in einer Krise und haben die Bewegung der Gelbwesten nicht kommen sehen, die völlig dezentral über Internet-Aufrufe an den Gewerkschaften vorbei entstanden ist – dies eine Quittung für die rituell und seit einigen Jahren sehr erfolglos gewordenen Gewerkschaftsmobilisierungen, bei denen seit einem Jahr zudem die CGT und die basisdemokratische Gewerkschaft SUD allein – also ohne Bündnis mit anderen Gewerkschaften – und relativ machtlos gegen die neoliberalen Arbeitsgesetze Macrons steht.
Neue Qualität der Führerlosigkeit
Erste Analysen aus anarchistischen Kreisen feiern diese diffuse Organisierung der Gelbwesten bereits als neue Form direkter Demokratie, so etwa die weithin angesehene anarchistische Website „À Contretemps“. Sie loben vor allem die Weigerung der Bewegung, einen medial bekannten und für die Regierung ansprechbaren Repäsentanten auf frankreichweiter Ebene zu benennen. Wenn überhaupt, dann gibt es bisher nur auf lokaler und Departements-Ebene gewählte Sprecher*innen. Die emanzipativsten Konzepte aus den Reihen der Bewegung fordern ein Ende des fast allmächtigen Präsidialsystems, eine Einführung des Verhältniswahlrechts, eine Vervielfachung von Referenden bei wichtigen Fragen, lokale Vollversammlungen oder auch Funktionsträger mit imperativem Mandat, Rotation und permanenter Abwählbarkeit.
Diese Tendenz zu Formen direkter Demokratie und die tatsächliche Ungreifbarkeit der Bewegung aufgrund der Abwesenheit nationaler Anführer*innen für regierungsoffizielle Einbindung und Verhandlungspolitik ist jedoch durch zuweilen rüde interne Umgangsformen bedroht: So hat Eric Drouet, LKW-Fahrer und über seinen Facebook-Account einer der Initiatoren der Bewegung (heute gibt es 13 verschiedene Gilets-Jaunes-Facebook-Accounts) Jacline Mouraud – einer anderen Mitbegründerin, der politische Karrieretendenzen nachgesagt werden – angeblich mit dem Tode gedroht, wenn sie sich als Vertreterin der Bewegung mit der Regierung trifft. So jedenfalls Mourads Darstellung. Sie hat schließlich abgesagt.
Noch nie dagewesene Querfront der Militanz
Bisher hat die Bewegung vier Todesopfer und zahlreiche Verletzte zu beklagen. Meist starben die Menschen bei Auffahrunfällen auf gestaute LKWs oder Autos bei den entstandenen langen Staus der Blockaden. Die mediale Berichterstattung hat sich stark auf die militanten Akteur*innen bei den samstäglichen Mobilisierungen in Paris konzentriert. Die Gewaltdiskussion unter den Gilet Jaunes ist voll entbrannt, viele Aktivist*innen haben bereits nach den Auseinandersetzungen am 24. November auf den Champs-Élysées weiter regional blockiert, anstatt nach Paris zu fahren. Die dortigen heftigen militanten Sachbeschädigungen und Kämpfe mit der Polizei gingen auch wesentlich nicht von den Gilets Jaunes aus, sondern einerseits von neofaschistischen Schlägertruppen, die Nationalflaggen schwenken und Die Marseillaise singen. Besonders „nationalistische Ultras“ wie die Action Française und die Bastion sociale taten sich da etwa am 3. Dezember bei den militanten Auseinandersetzungen am Arc de Triomphe ab dem frühen Morgen hervor. Etwas später am Nachmittag kamen auf linksradikaler Seite Leute vom Unsichtbaren Komitee sowie der Action Antifasciste Paris-Banlieue hinzu. Und obwohl sie an einer Stelle den antisemitischen Faschisten Yvan Benedetti fast krankenhausreif schlugen, der 2013 am Mord des Antifaschisten Clément Méric beteiligt war, konnte am 24. November und am 1. Dezember bei den militanten Schlachten doch überhaupt zum ersten Mal eine befremdliche praktische Querfront zwischen neofaschistischen und linksradikalen Militanten beobachtet werden, die sich nicht in ihren Kampfanzügen und ihrem Streetfighter-Verhalten, sondern nur durch nationalistische Flaggen, Parolen und Symbole voneinander unterschieden. Zwei weitere Komponenten machten die heterogene Zusammensetzung der Militanten aus, erstens Leute aus den Banlieues, die sich dann am späten Nachmittag vor allem an den Plünderungen beteiligten, zweitens beteiligten sich auch einige Leute aus den Reihen der Gilet Jaunes an den Angriffen auf die Polizei. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, sie können aus spontaner Wut und Verzweiflung über den bisher harten Kurs Macrons resultieren, aber auch aus ideologischer Nähe zu ultranationalistischen Gruppen oder Parteien. Immer wieder gibt es auch Statements nach der Art: „Man kümmert sich um die Migranten, nicht aber um die Franzosen“ (Obs, 22. Nov., S. 24).
Eine rechtspopulistische Bewegung?
Jedenfalls gibt es sehr viele Aktive in den Gilets Jaunes, die zugleich Mitglieder des RN (Rassemblement National, neuer Name des Front National) oder auch des rechten ideologischen Verbündeten „Debout La France“ sind. Da sind die Übergänge fließend. Auch neueste Meinungsumfragen seit Beginn der Bewegung zeigen, dass im Hinblick auf die kommenden Europawahlen vor allem der RN von Marine Le Pen von der Bewegung profitiert (mit jeweils 20-25%, soviel wie seit den Wahlen vor einem Jahr nicht mehr), während die linke France Insoumise von Jean-Luc Melenchon, die verzweifelt hinter der Bewegung herrennt, auf ihren bisherigen 10% stagniert. Eine Analyse aus den Reihen der französischen Anhänger*innen von Robert Kurz’ Wertkritik, Clèment Homs, charakterisiert die Bewegung als Zerfallsprodukt der vor sich gehenden Dekomposition des Kapitalismus. Homs kritisiert die linke Legitimation der Bewegung als „regressive Akzeptanz der zahlreichen Inhalte dieser Krisenideologien“ (vgl. Homs: „La gauche, les „gilets jaunes“ et la crise de la forme-sujet“, 2.12.2018).
Nach wochenlanger Hartnäckigkeit der Regierung Macron hat Premierminister Philippe am Dienstag, 3. Dezember, die schlimmsten Steuern erstmal auf Eis gelegt, die Ökosteuer-Einführung wird auf Ende 2019 verschoben, ebenso die Angleichung von Diesel- und Normalbenzin sowie die Erhöhung der Strompreise. Doch erste Reaktionen der Gilets Jaunes zeigen sich mit diesen Zugeständnissen nicht zufrieden, bezeichnen sie als „Brotkrümel“ und fordern eine Demokratisierung des gesamten Systems, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer sowie generelle Kaufkrafterhöhungen. Die Mobilisierung der Bauern/Bäuerinnen sowie die Student*innen verstärken derweil ihre Reihen.
Weitere Artikel zum Thema in der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos gibt es hier.