Es ist Samstag, 27. Oktober 2018, 8 Uhr, Sonnenaufgang, Temperaturen knapp über Null. Auf einer mit Zelten übersäten Wiese bei Düren in Nordrhein-Westfalen putzen die Letzten noch schnell ihre Zähne, während der Großteil sich schon zu einem Demozug formiert. Bunte Banner mit Sprüchen wie „Burn borders not coal“, „Wald retten, Kohle stoppen“, „System change not climate change“, ragen aus der Masse der in weiße Maleranzüge gekleideten Aktivist*innen.
Wenige Minuten später setzt sich der fröhliche und energiegeladene Zug aus tausenden Menschen über die Felder in Bewegung. Das Ziel sind die 15 Kilometer entfernten Gleise der Hambach-Bahn, über die täglich tonnenweise Braunkohle aus dem Tagebau in die naheliegenden Kraftwerke transportiert wird.
Das Bündnis Ende Gelände hatte erneut zu einer Aktion zivilen Ungehorsams, einer Massenblockade von Kohleinfrastruktur, aufgerufen und in einem öffentlichen Aufruf angekündigt, sich „der geplanten Zerstörung des Hambacher Forstes entgegenzustellen und den reibungslosen Ablauf im Betrieb des Rheinischen Reviers mächtig durcheinander zu bringen“. Ziel war es, „ein Zeichen gegen den weiteren Abbau und die Verbrennung von Kohle, eine der entscheidenden Ursachen für die globale Klimaerwärmung und ihre dramatischen Folgen“ zu setzen.
Die politische Ausgangslage für die Ende-Gelände-Aktion war komplex: In den Wochen vor der Aktion hatte die drohende Rodung der verbleibenden Fläche des Hambacher Forsts zu Gunsten einer Ausdehnung des Braunkohletagebaus Hambach eine unerwartet starke Protestwelle ausgelöst. Relativ kurz vor dem geplanten Datum der Ende-Gelände-Aktion hatte ein Gericht die weitere Rodung und damit auch die Räumung des Hambacher Forsts vorläufig gestoppt – ein großer Erfolg für die Klimabewegung [die GWR berichtete]. Gleichzeitig tagte schon die Kohle-Kommission, die den Regierungsauftrag hat, einen Fahrplan für den Kohleausstieg in Deutschland zu entwickeln. Würden sich in dieser Situation viele motivieren lassen, Ende Oktober an der Ende Gelände Aktion teilzunehmen? Würde sich der Sinn der Aktion öffentlich gut vermitteln lassen?
Daneben zeichnete sich im Vorfeld der Aktion ab, dass voraussichtlich mit erheblicher Repression seitens der eng mit RWE verbundenen Landesregierung Nordrhein-Westfalen und ihrer Behörden zu rechnen sein würde. So bot die Versammlungsbehörde Ende Gelände keine auch nur ansatzweise akzeptable Fläche für ein Camp an; bis wenige Tage vor der Aktion war daher unklar, an welchem Ort die Aktivist*innen schlafen würden. Zusätzlich hatte RWE – wie auch schon bei früheren Aktionen und Camps – Druck auf lokale Grundstückseigentümer*innen ausgeübt, ihre Flächen nicht für Klimaproteste zur Verfügung zu stellen. Dies erschwerte die Suche nach einer Campfläche zusätzlich.
Und dann?
Dann kamen ca. 6.500 Aktivist*innen – mehr als bei allen vorherigen Aktionen von Ende Gelände. Unter den Aktivist*innen waren viele Leute aus dem europäischen Ausland und – so legt es zumindest die interne Auswertung von Ende Gelände nahe – etliche Leute, die zum ersten Mal an einer solchen Aktion teilnahmen. Zum ersten Mal hatte Ende Gelände einen Sonderzug organisiert, der von Prag losfuhr und nach mehreren Zwischenstopps ungefähr 1.000 Menschen ins Rheinland brachte. Auf einem privaten Grundstück, das allerdings in einiger Distanz von den Zielorten der Blockaden und auf der anderen Seite einer Autobahn lag und deswegen nicht der bevorzugte Ort von Ende Gelände war, wurde in kürzester Zeit ein funktionierendes Camp aufgebaut. Und am Ende schafften es ungefähr 2.000 Leute auf die Gleise der Hambach-Bahn, trotz Bemühens der Polizei, sie daran zu hindern, und blockierten diese für mehr als 24 Stunden. Medien berichteten lokal wie bundesweit – teilweise mit spürbarer Sympathie für die Aktion, teilweise auch faktisch nicht korrekt. Für eine gewisse öffentliche Aufregung sorgte beispielsweise die Meldung, Ende Gelände Aktivist*innen hätten eine Sperrung der Autobahn in der Nähe des Tagebaus ausgelöst; die Autobahn war aber bereits vor der Überquerung durch Aktivist*innen gesperrt worden.
War die Ende Gelände Aktion also ein Erfolg?
Ja. Trotzdem ist – nicht unerwartet bei einer basisdemokratisch organisierten Aktion dieser Größe – nicht alles gut gelaufen. Es gab viel Polizeirepression, die verhinderte, dass noch mehr Menschen Blockadepunkte erreichen konnten, was für den einen oder die andere frustrierend gewesen sein mag. Es war eine Herausforderung, Tausende von teilweise unerfahrenen Aktivist*innen mit Informationen zu versorgen und angemessen an den Entscheidungsprozessen während der Aktion zu beteiligen. Und es bestand ein Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit, die Aktion voraus zu planen und die organisatorischen Strukturen nicht zu überfordern und gleichzeitig selbstbestimmtes Handeln von Aktivist*innen während der Aktion zu ermöglichen.
Die Auswirkungen der Ende-Gelände-Aktion auf die öffentliche Meinung und die Regierungspolitik sind schwer einzuschätzen. Die Aktion war nur eine – wenn auch prominente – unter einer Vielzahl von kleinen und größeren Aktionen der stark gewachsenen Klimabewegung.Größere Teile der lokalen Bevölkerung stehen Ende Gelände und ähnlichen Aktionen nach wie vor sehr kritisch gegenüber. Der repressive Polizeieinsatz dürfte teilweise auf Druck aus der lokalen Bevölkerung zurückzuführen sein; manche der Polizist*innen vor Ort ließen hingegen Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes erkennen. Die öffentliche Meinung zum Thema Klimaschutz scheint sich insgesamt allerdings verändert zu haben, möglicherweise mit ausgelöst durch den besonders heißen Sommer 2018: Mehr Menschen fordern nicht nur in Deutschland, sondern auch international, entschiedene Maßnahmen zum Klimaschutz – und sind auch bereit, dafür auf die Straße zu gehen. Es ist plausibel anzunehmen, dass der öffentliche Protest auch Auswirkungen auf die Arbeit von Gremien wie beispielsweise die Kohlekommission hat. Akteur*innen, die sich für einen schnellen und umfassenden Kohleausstieg einsetzen, werden damit gestärkt und legitimiert. Und es gibt Anzeichen, dass RWE und damit auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen einem Kohleausstieg nicht mehr so fundamental im Wege stehen, wie dies noch vor nicht allzu langer Zeit der Fall war – vorausgesetzt, dass RWE im Gegenzug eine erhebliche Summe an Entschädigungszahlungen erhält. Das Verhältnis von Ende Gelände zu Arbeiter*innen in der Kohleindustrie und Gewerkschaften hingegen ist weiter schwierig, trotz des Versuchs von Ende Gelände auf diese zuzugehen und deutlich zu machen, dass sich die Proteste nicht gegen die Arbeitenden richten.
Im internationalen Zusammenhang ist einer der entscheidenden Erfolge von Ende Gelände, wachsende und neu entstehende Netzwerke und Gruppen in anderen europäischen Ländern inspiriert zu haben und sich gleichzeitig von ihnen inspirieren zu lassen. Diese Netzwerke und Gruppen fordern teils mit gleichen, teils mit anderen Schwerpunkten als Ende Gelände ebenfalls radikale Veränderungen in der weltweiten Klimapolitik und bedienen sich der Mittel des zivilen Ungehorsams. Zwei Beispiele sind Free the Soil und Limity jsme my. Das europäische Netzwerk Free the Soil plant eine große Aktion zivilen Ungehorsams gegen einen großen europäischen Düngemittelhersteller. Limity jsme my ist ein tschechisches Netzwerk, das ähnlich wie Ende Gelände mit Aktionen zivilen Ungehorsams gegen Kohlenutzung protestiert. Ende Gelände inspiriert auch Aktivist*innen in Ländern, in denen es bisher keine Klimagerechtigkeitsbewegung von unten gibt – so fand beispielsweise im Sommer 2018 das erste polnische Klimacamp statt.
Wie weiter?
Für Ende Gelände und die Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland scheint zukünftig folgendes wichtig:
Öffentlicher Druck auf Gremien wie die Kohlekommission ist notwendig. Die Kommission hat angekündigt, im Februar 2019 verspätet ihre Ergebnisse präsentieren zu wollen. Voraussichtlich werden diese aus Klimasicht unbefriedigend sein; zudem gibt die Kommission nur Empfehlungen ab, die erst noch umgesetzt werden müssen. Die derzeitige Stärke und Breite der Klimabewegung ist eine große Chance. Gleichzeitig ist es wichtig, sicherzustellen, dass sich verschiedene Akteur*innen auch weiterhin solidarisch aufeinander beziehen, starke Netzwerke aufgebaut werden und die Gleichwertigkeit verschiedener Kämpfe anerkannt wird. Ende Gelände und andere Gruppen in der Klimabewegung müssen Probleme, die sich aus dem starken Wachstum der Bewegung in den vergangenen Monaten möglicherweise ergeben, analysieren und lösen. Bestehende Strukturen, welche basisdemokratische Entscheidungsprozesse zulassen, die Integration neuer Aktivist*innen ermöglichen und helfen, Hierarchien aktiv abzubauen, müssen erhalten und, wenn nötig, weiter entwickelt werden.Die Forderung von Ende Gelände nach einem sofortigen Kohleausstieg trifft unter den Arbeiter*innen von RWE auf eine starke Oppositionshaltung, die seitens RWE instrumentalisiert wird. Deswegen ist es wichtig, dass die Klimabewegung weiterhin versucht, soziale und ökologische Fragen zusammen zu denken und – auch wenn dies manchmal mühsam ist – den Dialog mit Gewerkschaften, Arbeiter*innen in der Kohleindustrie und der lokalen Bevölkerung zu suchen. Lokale Verbündete in den Kohleregionen sind für die Legitimität der Proteste wichtig.
Wir finden: Es gibt weiterhin viel zu tun, aber es gibt auch erhebliches Potenzial, dass es getan wird – die Bewegung ist so groß und stark wie nie.
Zwei Aktivist*innen von Ende Gelände