Ein Freifahrtschein für den Großen Bruder

Die Auswirkungen des neuen Polizeigesetzes in Nordrhein-Westfalen

| Michèle Winkler

Bigbrother
Foto: Niv Singer via flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Am 12. Dezember 2018 hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen ein heftig umstrittenes neues Polizeigesetz verabschiedet. Nach Bayern hatte es in NRW die heftigsten Proteste gegen die umfassende Ausweitung polizeilicher Befugnisse gegeben (vgl. GWR 435). Auch wenn leichte Entschärfungen errungen wurden, können diese nur als Pyrrhussieg gelten.

Freifahrtschein für Polizeiwillkür

Die Polizei in NRW erhält sehr weitgehende neue Befugnisse: Telekommunikations- und Quellen-Telekommunikationsüberwachung, Aufenthaltsvorgaben, Kontaktverbote, elektronische Fußfessel, Strategische Fahndung und deutlich verlängerte Gewahrsamsdauern. Elektroschockgeräte werden als zusätzliche Waffen eingeführt und die Videobeobachtung darf weiter ausgebaut werden.

„Ordnungsland“-Aktion der Künstlergruppe Jae Pas (A. Stücher, J. Enste) in Berlin – Foto: Jae Pas

Ein wichtiger Kritikpunkt ist und bleibt die zeitliche und prognostische Vorverlagerung der Eingriffsschwellen, was den Weg für Polizeiwillkür bereitet. Entgegen der bisherigen Vorgaben, dass Polizei im Vorfeld möglicher Straftaten nur aufgrund sogenannter „konkreter Gefahren“ eingreifen darf, kann sie dies nun schon, wenn vagere Vermutungen bestehen, dass eine Person möglicherweise eine „terroristische Straftat“ planen könnte. Was als terroristische Straftat zählt, wird in einem sehr breiten Straftatenkatalog abgebildet: von Mord und Todschlag über Computersabotage oder das Herbeiführen einer Überschwemmung bis hin zu „Gefährlichen Eingriffen in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr“ oder gar zur Zerstörung eines Fahrzeugs der Polizei. Hat die Polizei NRW künftig die Vermutung, jemand könne etwas Derartiges planen und dies geschehe mit dem Ziel, „die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen, die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen“, und wenn diese sogenannten terroristischen Straftaten „durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen können“, dann darf sie reagieren. Und zwar nicht erst, wenn sie sehr konkrete Informationen über derartige Pläne hat, sondern schon „wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise“ geschehen könnte oder wenn sie eine Person verdächtigen, „deren individuelles Verhalten eine konkrete Wahrscheinlichkeit dafür begründet, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums“ eine dieser sogenannten terroristischen Straftaten begeht.

Es ist leider notwendig, sich diese Wortungetüme einmal ungefiltert anzuschauen, weil sonst nur schwer begreiflich wird, warum die Vagheit der genutzten Begrifflichkeiten so scharf kritisiert wird und als Freifahrtschein für Polizeiwillkür gilt. Durch bestimmte Tatsachen gerechtfertigte Annahmen“, „konkrete Wahrscheinlichkeiten“ und „übersehbare Zeiträume“ bestimmen künftig, ob die Polizei Geräte hacken, mit Schadsoftware infizieren („Staatstrojaner“) und Kommunikation mitlesen darf, ob sie Aufenthaltsvorgaben (wahlweise Hausarrest oder Betretungsverbote) machen oder Kontaktverbote aussprechen darf, ob sie Menschen mit elektronischen Fußfesseln belegt oder sie gleich in Gewahrsam nimmt, weil sie der Meinung ist, dass sich diese Maßnahmen anders nicht durchsetzen lassen.

Wir sollten uns dabei nicht von dem Wörtchen „terroristisch“ blenden lassen. Wie weitgehend die Möglichkeiten sind, bestimmtes Verhalten als möglicherweise terroristisch zu brandmarken, wird aus den Zitaten deutlich. Zudem müssen wir nur beispielhaft nach Ungarn oder Großbritannien blicken, um zu erahnen wie schnell sich etwas zu Terrorismus umdeuten lässt. Zudem sind sogenannte „false positives“ – also fälschlich als Gefährder*in eingestufte Personen – systemimmanent. Denn es lässt sich nicht herausfinden, ob eine Person etwa durch Gewahrsam, Fußfessel oder Kontaktverbot von einer geplanten Tat abgehalten wurde oder sie diese einfach niemals geplant hatte. Dass die neuen Befugnisse fälschlich auf Menschen angewendet werden, die nicht mal annähernd etwas Ähnliches im Sinn haben, scheint somit unausweichlich.

Freifahrtschein für rassistische Polizeikontrollen

Auch durch die sogenannte Strategische Fahndung bekommt die Polizei ein nahezu willkürlich einsetzbares Instrument. Sie darf für bis zu 28 Tage ein bestimmtes Gebiet festlegen, in dem verhaltens- und verdachtsunabhängige Identitätskontrollen durchgeführt werden können. Vermutet sie, dass in einem Gebiet Straftaten begangen werden sollen oder dass sich dort Menschen „unerlaubt aufhalten“, kann sie in diesem Gebiet Anhalt- und Sichtkontrollen durchführen.

Alle dort angetroffenen Personen können kontrolliert und mitgeführte Fahrzeuge und Gegenstände (auch von innen) begutachtet werden. Somit reicht es dann aus, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Der explizite Bezug zu „unerlaubtem Aufenthalt“ heißt, dass es der Polizei noch leichter gemacht wird aufgrund rassistischer oder anderer Stereotype Kontrollen durchzuführen.

Unterbindungsgewahrsam, Strafvorschriften und „Lex Hambi“

Die Maximaldauer des Unterbindungsgewahrsams wurde von 48 Stunden auf mehrere Tage erhöht. Soll ein unmittelbar bevorstehendes Verbrechen (Straftat mit Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr) verhindert werden, kann der Unterbindungsgewahrsam 14 Tage betragen, verlängerbar um weitere 14 Tage. Bei Wohnungsverweisungen, zum Beispiel wegen häuslicher Gewalt, kann ein Unterbindungsgewahrsam von bis zu 10 Tagen festgelegt werden.

Obwohl die „Präventivhaft“ für sogenannte Gefährder nach der großen Kritik doch nicht mehr explizit Teil des Gesetzes ist, wurde sie durch die Hintertür doch mit eingeführt. Wurden Kontaktverbote, Aufenthaltsvorgaben oder elektronische Fußfesseln verhängt, so kann die betroffene Person bis zu sieben Tage in Gewahrsam genommen werden, um die „Maßnahme durchzusetzen“. Das ist juristisch unsinnig und offenbart zugleich die Gedankenwelt hinter der Regelung: „Bist du nicht willig, so fährst du halt ein.“ Letztlich kann man davon ausgehen, dass diese Regelung alleinig angewendet wird, wenn die Polizei Ungehorsam befürchtet. Es gibt ihr die Möglichkeit, diesen zu bestrafen.

Ebenso verhält es sich mit den „Strafvorschriften“. Auch hier soll mit Strafe sanktioniert werden, wer den polizeilichen Anordnungen eines Kontaktverbots, der Aufenthaltsvorgaben oder der elektronischen Fußfessel nicht Folge leistet. Dass das Nichtbefolgen polizeilicher Anordnungen selbst zu einer Straftat werden soll, ist ein gefahrenabwehrrechtliches Novum und aus freiheitlicher Sicht ein Albtraum.

Zu guter Letzt hat das Innenministerium in NRW den Aktivist*innen im Hambacher Wald eine eigene Vorschrift gewidmet – die mittlerweile als „Lex Hambi“ bekannt ist. Wenn „Tatsachen die Annahme begründen, dass die Identitätsfeststellung innerhalb der Frist [von 12 Stunden] vorsätzlich verhindert worden ist“, so kann die Gewahrsamsdauer mit richterlicher Anordnung auf bis zu sieben Tage verlängert werden. Die Grünen halten insbesondere diese Regelung im neuen Gesetz für verfassungswidrig, was von vielen der Expert*innenmeinungen gestützt wird. Dass sich hier eine autoritäre Grundhaltung manifestiert, zeigt sich auch an den Aussagen eines CDU-Politikers zur Gesetzesverabschiedung: „weder Extremisten (sic!) noch Aktivisten sollen uns mehr auf der Nase rumtanzen“. Es ist davon auszugehen, dass die CDU diese Wette trotz des neuen Polizeigesetzes verlieren wird.

Die SPD und das sozialdemokratischste Polizeigesetz

Auf den letzten Metern des Gesetzgebungsprozess war auch noch auf die SPD und ihr Gespür für schlechte Kompromisse Verlass. Für ihre Zustimmung konnte die SPD der schwarz-gelben Regierung noch ein bedeutendes Zugeständnis abringen. Nachdem der fehlende Zugang zu anwaltlichem Beistand für Menschen in Gewahrsam als Missachtung rechtsstaatlicher Standards kritisiert worden war, ist durch die harten Verhandlungen der SPD nun „nach Vollzug der […] getroffenen richterlichen Entscheidung […] der in Gewahrsam genommenen Person ein anwaltlicher Beistand zu gewähren“. Es fällt leider schwer, mit etwas anderem als Zynismus darauf hinzuweisen, dass der anwaltliche Beistand eher VOR und WÄHREND der richterlichen Vorführung die gewünschte Wirkung erzielt hätte. Der SPD-Fraktionschef lobte daraufhin das neue Polizeigesetz als „das sozialdemokratischste aller 16 Bundesländer“. Neben dieser peinlichen Aufführung missachtete die Zustimmung der SPD-Landtagsfraktion den Beschluss des SPD-Landesparteitags, der eine Ablehnung des Gesetzes erfordert hätte.

Braune Soße färbt ab

Das neue Polizeigesetz in NRW ist ein Baustein innerhalb einer grundsätzlichen autoritären Verschiebung, die sich auf gesetzgeberischer Ebene, aber ebenso im behördlichen und polizeilichen Handeln zeigt. Auch wenn Bayern im Rennen um den Polizeistaat immer noch um Längen vorne liegt, hat NRW einen großen Schritt in die gleiche Richtung getan. Weitere Bundesländer sind schon dabei oder planen nachzuziehen: Niedersachsen, Sachsen und Brandenburg sind damit schon am Weitesten. Auch wenn sich die Ausgestaltung in Teilen voneinander unterscheidet, so gehen sie alle grundsätzlich in die gleiche Richtung: Vorverlagerung der Eingriffsgrenzen anhand der Gefährder-Figur, digitale Überwachung, freiheitsbeschränkende Maßnahmen, Erweiterung der Waffenkataloge. Auch wenn die Länder mit Regierungsbeteiligung der Union dabei schneller voran gehen, ist das in weiten Teilen eine Verschiebung, die unabhängig von den regierenden Parteien vor sich geht. Die rot-rote brandenburgische Landesregierung will gerade ebenso eine deutliche Verschärfung umsetzen, wie die große Koalition in Sachsen.

Die Grünen, die in Bayern und NRW die Protestbündnisse unterstützen, haben bei Regierungsbeteiligung in Hessen und Baden-Württemberg eine tragende Rolle bei den Verschärfungen inne. Dass die Regierungen in Thüringen und Berlin verlauten lassen, sich dieser Entwicklung vorerst zu entziehen, Die Entwicklung scheint also eine Eigenlogik zu haben, die unabhängig vom Parteibuch voran schreitet. Das ist einerseits auf den politischen Druck und die starke Lobbyarbeit von Polizeibehörden und deren Gewerkschaften zurückzuführen. Gleichzeitig lässt sie sich nicht ohne die gesamtgesellschaftliche Rechtsverschiebung verstehen, ohne die weit verbreitete rassistisch motivierte Gleichsetzung von „Terror“ und „Islam“ unter Ausblendung rechten Terrors und die neue Hochphase der politikwissenschaftlich unhaltbaren Extremismustheorie. Die menschenverachtenden Ideologien der Neuen Rechten inklusive der sogenannten AfD treiben also auch in der Sicherheitspolitik die Parteien vor sich her, ohne selbst Gesetzestexte schreiben zu müssen.

Lichtblicke
Demo gegen das Polizeigesetz in Düsseldorf, Sommer 2018, Foto: martin-bersing.de

Neben allem Frust über diese Entwicklungen sollte aber nicht vergessen werden, wie deutlich der Protest gegen die Gesetzesverschärfungen ausfällt. Neben den Demonstrationen mit rund 40.000 Menschen in München, waren auch in Düsseldorf und Hannover Zehntausende auf der Straße. Auch die vergleichsweise kleineren Demos in Potsdam und Dresden sind für die Thematik und Regionen als Erfolge anzusehen. Der Widerstand auf der Straße war unübersehbar und hat zumindest in Kombination mit den deutlichen Kritiken der Expert*innen für eine breite mediale Thematisierung und Verzögerungen und leichte Abschwächungen gesorgt. Auch wenn die vorgenommenen Änderungen in NRW marginal sind, so hat sich das Streiten, das Analysieren, das Organisieren doch gelohnt.

Die Landesregierungen sind gewarnt, dass das ein Thema ist, welches Proteste auslöst und dass nicht endlos weitere autoritäre Verschärfungen durchgewunken werden können. Es bleibt also wichtig, den Druck hochzuhalten, sich auszutauschen, die eigenen Erfahrungen zu teilen und mit den anderen Länderbündnissen solidarisch zu sein. Die Erfahrungen aus Bayern zeigen, dass auch nach der Gesetzesverabschiedung genug zu tun bleibt: wo wird das neue Gesetz angewandt? Wie kommt man an Informationen darüber und wie können Betroffene unterstützt werden? Sollte juristisch vorgegangen werden? Zudem sind durch die gemeinsame Organisierung neue Bündnisse und Allianzen entstanden, auf die sich weitere Projekte stützen können und werden.

Michèle Winkler ist Referentin des Grundrechtekomitees und hat im November 2018 in der GWR 433 über die unteilbar-Demo in Berlin berichtet und in der GWR 430 unter dem Titel „‚1984‘ war keine Gebrauchsanleitung!“ das neue Polizeiaufgabengesetz in Bayern als Meilenstein auf dem Weg zum Überwachungsstaat analysiert. 

Terminhinweise:

15.2. um 18:30 Uhr in der Alten Feuerwache in Köln: Daniel Loick: „Kritische Perspektiven auf Polizeiarbeit“.

Infos: www.grundrechtekomitee.de/node/968

16.2. 11-18 Uhr in der Alten Feuerwache in Köln, Ratschlag „Im Namen der Sicherheit?“ Autoritärer Staat und Perspektiven der Gegenwehr

Referent*innen: Jule Nagel David Jassey, Wilko Zicht, Ariane Landauer, Sebastian Bähr, Albert Scherr/Michèle Winkler.

Infos: www.grundrechtekomitee.de/node/967

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier