Es wäre geschichtsvergessen davon auszugehen, Identitätspolitik sei erst seit der Wahl Donald Trumps so ein heiß diskutiertes Thema in der Linken.
Oder mit Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (2016). Oder jetzt mit Francis Fukuyamas „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ (2018). Im Grunde ist das Thema so alt wie die Linke selbst, inklusive Anarchismus. Sogenannte Minderheiten fordern ihre Rechte, fordern Teilhabe, klagen Mitgenanntsein ein – und nicht nur Mitgemeintsein. Damit stellen sie den Alleinvertretungsanspruch einer dominanten Gruppe infrage. Bei solchen Dominanzgruppen handelt es sich um solche, die gar nicht als eine Gruppe unter vielen wahrgenommen werden (am wenigsten von den Gruppenmitgliedern selbst): Männer, die für die Menschheit stehen, Arbeiter, die alle Ausgebeuteten repräsentieren. Identitätspolitik zweifelt also, wenn sie von links kommt, Repräsentationsansprüche an. Und sie klagt Auslassungen ein.
Gegen Stellvertretung und gegen Ausgrenzung zu sein, das klingt beides durchaus kompatibel mit anarchistischen Haltungen. Dennoch sind Minderheiten und ihre Identitätspolitiken nicht gerade ein Steckenpferd des Anarchismus. In seinem viel diskutierten Manifest „Temporäre Autonome Zone“ stellt der Anarcho-Taoist Hakim Bey beispielsweise fest: „Die heutige anarchistische ‚Bewegung‘ kennt in ihren Reihen praktisch keine Schwarzen, Hispanics, Native Americans oder Kinder … obwohl diese wirklich unterdrückten Gruppen von jeglicher antiautoritären Revolte theoretisch das meiste zu erwarten haben. Könnte es sein“, fragt Bey weiter, „daß der AnarchISMUS kein konkretes Programm zu bieten hat, mit dem die Erniedrigten und Beleidigten ihre Bedürfnisse & Wünsche durchsetzen (oder zumindest realistisch für deren Durchsetzung kämpfen) können?“ (1) Das Buch erschien 1994 auf Deutsch, der Teil des Manifests, aus dem das Zitat stammt, ist aus dem Jahr 1987.
Viel hat sich wohl nicht getan in den letzten dreißig Jahren. Die Kinder türkischer „GastarbeiterInnen“, Schwarze und People of Color oder queer-feministische Frauen* haben sich nur selten unter der schwarzen Fahne des Anarchismus organisiert. Das liegt einerseits ganz praktisch am konkreten Programm, dessen Fehlen Bey schon moniert. Das liegt andererseits aber auch daran, dass der traditionelle Anarchismus kein theoretisches Gespür für Minderheiten hat. Im Gros des Anarchismus wird universalistisch gedacht, partikulare Erfahrungen und kulturelle Differenzen spielen keine Rolle. Auf der einen Seite steht da der Staat als „Garantie aller Ausbeutungen zum Nutzen einer kleinen Zahl glücklicher Privilegierter“, schreibt Michail Bakunin. (2)
Auf der anderen Seite die „Volksmassen“, die den Schaden haben. Dass unter den Volksmassen weiße Menschen eher an Privilegien beteiligt werden als Schwarze, Männer bessere Chancen im Berufsleben haben als Frauen, Erwachsenen mehr Gehör zukommt als Kindern usw., wird nicht berücksichtigt. Verschiedene Teile der „Volksmassen“ werden aber sehr unterschiedlich unterdrückt, ausgebeutet und diskriminiert. Frauen anders als Männer, Schwarze Frauen anders als weiße Frauen usw. Diese verschiedenen Ausbeutungs- und Diskriminierungsformen beruhen auf kulturellen Differenzen: Merkmale, die eine Geschlechtszugehörigkeit anzeigen oder solche, die Gruppen ethnisch voneinander unterscheiden, führen dazu, dass Menschen in Gruppen eingeteilt und je nach Einteilung sehr verschieden behandelt werden. Kulturell sind diese Differenzen insofern sie nichts mit Natur zu tun haben, sondern Ergebnis und Effekt von kollektiver Wahrnehmung (eben der Einteilung) sind. Kollektive Identität ist immer ein „Effekt diskursiver Praktiken“, wie Judith Butler es nannte. (3)
An diesen Unterschieden jedenfalls sollte auch der Kampf gegen Ausbeutung und soziale Ungleichheit ansetzen. Das meinen Feministinnen seit rund 150 Jahren und auch in anderen sozialen Bewegungen seit den 1960ern ist darauf bestanden worden. Im Anarchismus hat man diese Debatten weitgehend verpennt. Dabei war es schon im Kontext der Spanischen Revolution 1936, die für AnarchistInnen ja zu Recht ein wichtiger Bezugspunkt ist, zu Verwerfungen gekommen, weil die Genossen (in männlicher Schreibweise) sich auf dem Differenzauge blind gestellt haben. Die später anarchafeministisch genannte Organisation der Anarchistinnen, „Mujeres Libres“ (Freie Frauen), wäre wohl ohne Machotum und Sexismus in der eigenen Bewegung gar nicht entstanden. Darauf hat zuletzt Martin Baxmeyer in der schönen Biographie einer ihrer Gründerinnen, Amparo Poch y Gascón, noch einmal hingewiesen. Gründung und politisches Selbstverständnis der Mujeres Libres blieben unverstanden, so Baxmeyer, „wenn man sie nicht als Reaktion auf den Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit innerhalb der anarchistischen Bewegung Spaniens begreift.“ (4) Die Möglichkeit war die Befreiung aller, die Wirklichkeit das Belächeln, das Ausbeuten, das Reduzieren der Frauen aufs Kochen und Pflegen, selbst innerhalb der Bewegung.
So produzieren alle Formen der Vergesellschaftung ihre strukturellen Minderheiten. Und dabei geht es nicht um ein paar Leute, die unterm Strich der Revolution zu vernachlässigen wären. Das Wort Minderheit sollte selbstverständlich quantitativ und qualitativ gelesen werden. Quantitativ ist klar: die, die weniger sind (Schwarze in den USA im Vergleich zu Leuten, die als weiß gelten). Qualitativ: Diejenigen, die weniger gelten, die weniger Möglichkeiten haben, die als weniger Wert erachtet werden (Schwarze in Südafrika, Arme in der Welt). Identitätspolitik als Minderheitenpolitik kann dann auch eine Politik sein, die für die zahlenmäßig allergrößte Mehrheit gemacht wird. Aber trotzdem: Wie groß auch immer, nie umfassen die Gemeinten alle und jeden, nie haben alle die gleichen Diskriminierungs-, Ausbeutungs- und Unterdrückungserfahrungen. Auf diese vermeintlich gleichen Erfahrungen setzt aber der traditionelle Anarchismus von Bakunin seine Revolutionshoffnung. (Und selbst Hakim Bey hofft auf eine „Lebenskunst des fortgesetzten Aufbegehrens“ (5) aller.)
An die Gleichheit in der Erfahrung zu appellieren, ist aber, wenn soziale Gleichheit erkämpft werden soll, ein Holzweg. Die Unterschiede müssen, auch wenn es paradox erscheint, erkannt und zum Ausgangspunkt genommen werden, um von ihnen aus solidarische Bezugnahmen zu ermöglichen.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
1) Hakim Bey: T.A.Z. – Die Temporäre Autonome Zone. Edition ID-Archiv, Berlin/ Amsterdam 1994, S. 72
2) Michael Bakunin: „Drei Vorträge vor den Arbeitern des Tals von St.-Imier im Schweizer Jura, Mai 1871.“ In: Ders.: Staat, Erziehung. Revolution. Ausgewählte Texte (1869-1871). Verlag Edition AV, Lich 2015, S. 351-401, hier S. 360.
3) Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1991, S. 39.
4) Martin Baxmeyer: Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der spanischen Revolution. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, S. 54.
5) Hakim Bey, a.a.O., S. 150.
Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier