Bisher gilt für die Bundesrepublik eine (auch um Angehörige „erweiterte“) „Zustimmungslösung“, die voraussetzt, dass der Patient sich positiv entscheiden und erklären muss. Dies gilt als Ursache des „Organmangels“, denn Menschen setzen sich ungern mit dem Tod auseinander. Deshalb propagieren die Bundesärztekammer und viele „Gesundheits“-Politiker die „Widerspruchslösung“, die so heißt, weil der Patient gar nicht mehr gefragt werden muss, sondern „automatisch“ zustimmt – wenn er nicht ausdrücklich widerspricht (GWR-Red.).
Der SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach ist ebenso wie der Gesundheitsminister Spahn ein glühender Befürworter der „Widerspruchslösung“. Bei „Anne Will“ sagte er, man solle zumindest darüber nachgedacht haben, es sei zumutbar, dass Menschen eine Entscheidung abverlangt werde. Aber genau das geschieht ja bei der bisherigen Regelung, allerdings lässt diese den Gefragten auch die Möglichkeit sich eben nicht zu entscheiden! Auch das ist ja eine mögliche Entscheidung! Das soll aber ausgeschlossen und eingeschränkt werden, alle sollen „automatisch“ zunächst als Spender gelten, gerade wenn sie sich nicht auseinandergesetzt haben! „Automatisch“ wird unterstellt, dass Menschen ohne Spenderausweis und GegnerInnen der Organspende bisher nicht nachgedacht haben oder zu bequem sind. Dabei will gerade das Widerspruchs-Verfahren vermeiden, sie zu fragen und auf ihre Entscheidung zu warten. Um die Probleme des Verfahrens zu legitimieren, muss Lauterbach erklären, die meisten Menschen wüssten Bescheid und wollten auch ihre Organe spenden, seien aber eben zu bequem, das deutlich auszudrücken, deshalb im Sinne des Gemeinwohls und sogar im aufgeklärten Selbstinteresse, dass der Staat sie „stupst“. Gesundheitliche „Aufklärung“ zeigt sich als platteste Demagogie (Entschuldigung, die alten „Demagogen“ waren ja Demokraten!), wenn nicht als Massenbetrug, das ist „evidenz-basiert“.
Es ist eine schöne „Aufklärung“, die Schweigen als Zustimmung wertet und voraussetzt, dass ein rationales, aufgeklärtes Verhalten ausschließlich in ein „ja“ zur Organspende münden kann. Lauterbach möchte auch die Angehörigen eher wenig mitreden lassen, bei „Anne Will“ verkündete er: Doppelte Widerspruchslösung heißt auch für die Angehörigen, dass er (dass Spender und Empfänger fast immer als Männer vorgestellt werden, wäre ein eigenes Thema!) nicht widersprochen hat, also Spender ist.
Erfahrungen mit der „Widerspruchslösung“ in anderen Ländern zeigen ein anderes als das suggerierte Bild. So muss der österreichische Transplantationsmediziner Eschertzhuber, ein glühender Anhänger dieser „Lösung“, einräumen: „Es ist davon auszugehen, dass die allermeisten Menschen die Regelung nicht kennen.“ (FAZ vom 8.9.18); in Österreich sind nur 0,5 % der Bevölkerung im Widerspruchsregister eingetragen. Dieses Register wird relativ früh befragt, ob der potentielle Organspender dort registriert ist, seit 1995 waren 18 potentielle Spender dort zu finden, haben also widersprochen. Wenn Angehörige – wie in Österreich – gefragt werden, ob der potentielle Spender sich für oder gegen die Organspende geäußert habe, dann mit so interessanten Fragestellungen wie „Wie wichtig waren ihm Hilfsbereitschaft und Solidarität?“ (FAZ 8.9.2018). Dass die Angehörigen dann wie aus der Pistole geschossen antworten „Der alte Geizkragen?! Der hat doch nicht mal …“ oder „Sein Lebensmotto war ‚Mir gäbet nix‘“ kann man sich vorstellen.
Und dabei müsste man sich an die Aussagen der Angehörigen gar nicht gebunden fühlen: „Wir haben theoretisch die Rechtssicherheit für eine Organspende.“ Aber man versucht, nicht gegen die Angehörigen diese Rechtssicherheit durchzusetzen. Dies wiederum hat entscheidend mit den Legitimationsproblemen zu tun, die das Verfahren zeigt: Auf Youtube kann man Aussagen von Eltern anhören, die – ohne sich der Konsequenzen und konkreten Geschehnisse bewusst zu sein – in die Organspende ihrer Kinder eingewilligt haben, sich dafür anklagen und Initiativen gegen Organspende gegründet haben. Oft waren sie schockiert wie der Prozess tatsächlich verlief.
Eine „Spende“, die auf gesetzlicher Grundlage automatisiert ist
… würde man vielleicht eher „Steuer“ oder „Abgabe“ nennen müssen, vielleicht auch „Bereitstellungspflicht“. Sie hat die Tendenz zum Winterhilfswerk. Formal freiwillig, aber wer nicht spendet, stellt sich außerhalb der Wohlgesinnten. Es liegt auch nicht etwa an der Organisation der Organspende durch eine Stiftung. Auch die KritikerInnen der gängigen Praxis gehen in ihrer Kritik der Bundesärztekammer und der geltenden Regeln in die falsche Richtung, wenn etwa der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch meint: „Solange der Staat nicht die Verteilung von Lebenschancen übernimmt, stolpern wir von einem Skandal in einen anderen und die Vertrauenskrise der Bevölkerung wird immer tiefer.“ (FAZ 6.9.18) Natürlich übernimmt der Staat schon lange die Verteilung von Lebenschancen, man nennt das Sozialpolitik, Bildungspolitik usw. und es hat dabei noch immer zuverlässig das „Matthäus-Prinzip“ gegolten: Wer hat, dem wird gegeben!
Bei jeder Bewerbung (so auch um Spenderorgane!) kann man beobachten wie die „Kriterien“ so formuliert werden und so lange gedehnt und interpretiert werden, bis gewünschte Ergebnisse dabei herauskommen; darf das niemand wissen – wenn es doch alle wissen?
Die Krise der Transplantationsmedizin
Die PR-Aktion von Spahn und Co. wurde schwer beeinträchtigt durch die zeitgleiche Nachricht über nicht erforderliche Lebertransplantationen an der Uniklinik Essen: Sechs PatientInnen sollen medizinisch nicht notwendige Lebertransplantationen erhalten haben, die Richtlinien wurden missachtet, Wartelisten nicht korrekt geführt, Alkoholkranke hätten eine Leber erhalten, obwohl sie nicht wie vorgeschrieben sechs Monate „trocken“ waren. Eine der medizinisch nicht begründeten Transplantationen (der Gutachter sagt, es hätte schonendere Behandlungen gegeben) führte zum Tod des Patienten (FAZ 6.9.18).
Die große Krise der Transplantation liegt erst wenige Jahre zurück: 2012 kam heraus, dass ein Göttinger Arzt Eurotransplant falsche PatientInnendaten geliefert hatte, um bestimmte PatientInnen bevorzugt mit Spenderorganen zu versorgen (die also anderen, möglicherweise bedürftigeren PatientInnen entzogen wurden). Ähnliche Vorkommnisse in anderen Kliniken und die öffentliche Debatte führten zum Einbruch der Transplantationszahlen.
Es folgten die üblichen Rituale der Skandalbewältigung: schärfere Kontrollen, Beteiligung eines weiteren Arztes an der Entscheidung über die Platzierung der PatientInnen auf der Warteliste und Strafverschärfungen (Ärzte, die Patientendaten verändern, können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe sanktioniert werden). Ob solche Maßnahmen die behauptete Sicherung gegen Manipulationen gewährleisten, darf bezweifelt werden.
Seit öffentlich bekannt wurde, wie Wartelisten für Organempfänger manipuliert wurden, zweifeln viele Menschen auch in diesem Bereich an der Verteilungs-Gerechtigkeit (dass sie das in vielen anderen Lebensbereichen ohnehin tun, verstärkt den Zweifel). Letztlich bleibt das Definitionsrecht des Arztes zu diagnostizieren, wie krank/bedürftig/gefährdet sein Patient ist, das Einfallstor für die Feststellung der Dringlichkeit. Der Glaube an „objektive“, technisch erhobene Daten mag den Anteil von Entscheidung/Politik daran verschleiern, im Skandal und den sich anschließenden Gerichtsverhandlungen mit Gutachten und Gegengutachten wird er sichtbar. Man muss dabei keine Bereicherungsabsicht oder Korruption unterstellen, es genügt schon das Näheverhältnis zu „ihren“ PatientInnen, die Ärzte „schwach werden lassen“, menschlich verständlich.
Darüber hinaus entstehen durch die Transplantationszentren selbst falsche Anreize: Mindestens zwanzig Operationen im Jahr (und je mehr desto besser, wegen der Routine) sollten durchgeführt werden, angesichts weniger Spenderorgane ist die Konkurrenz, welche PatientInnen so beschrieben werden, dass sie „dran“ sind, naheliegend. Es ist also sogar der medizinische „Sachzwang“ der Manipulationen nahelegt: Je mehr Operationen, desto besser werden die Ärzte, desto größere Überlebenschancen haben die PatientInnen … Und wenn PatientInnen „kranker“ beschrieben werden, bekommen sie die „gespendeten“ Organe noch zu einer Zeit, in der Abstoßungsreaktionen und andere Schädigungen begrenzt sind so dass wiederum die Langzeit-Überlebenschancen wachsen.
Die Prozesse um Aiman O., den Göttinger Arzt, der die Akten manipuliert haben soll, zeigen außerdem, dass die „Objektivität“ medizinischer Einschätzungen fraglich ist: Gutachter und Angeklagte stritten um zahllose Details der Erkrankungen und Behandlungen, ob eine Transplantation notwendig war oder nicht, woran die PatientInnnen gestorben sind … Es wurden bei 102 Transplantationen 79 Richtlinienverstöße durch die Bundesärztekammer moniert. Das stärkt nicht das Vertrauen ins System. Der Vollständigkeit halber stellen wir auch hier die Frage: Wäre der Skandal anders verlaufen, wenn nicht ein „Ausländer“ „Ausländer“ bevorzugt hätte?
Und um die Sache richtig kompliziert zu machen: Doktor O. hat eine Alkoholikerin mit Leberzirrhose, bei der die Medizinische Hochschule Hannover sich regelgerecht geweigert hatte, sie auf die Wartelite für ein Spenderorgan zu setzen, transplantiert. Sie überlebte und wurde „trocken“. Ein anderer Trinker kippte betrunken im Krankenhaus um – „fünf Tage später wachte er in Göttingen wieder auf – mit neuer Leber.“ (FAZ vom 20.12.2013). „Wer heilt, hat Recht“? Voraussetzung war Betrug: O. behauptete, die Patientin sei trocken. Aber ihm wurde auch vorgehalten, dass er Patienten ohne Not eine Leber verpflanzt hatte, und diese starben! Oder sind die Regeln gar verfassungswidrig, weil sie bestimmte Gruppen bevorzugen?
Die immer gerne mit Umfragen argumentieren, dürfen gerne einmal Allensbach repräsentativ fragen lassen: Glauben Sie, dass der alkoholkranke Chefarzt keine neue Leber transplantiert bekommt, weil er die medizinischen Kriterien nicht erfüllt? Und sicherlich fürchten manche Kranke und Angehörige, dass es Interessen an Spenderorganen gibt, die dazu führen können, dass nicht alles getan wird, das Überleben zu sichern. Deshalb mag man „abstrakt“ bereit sein, aber …
Es ist nicht nur das Problem der Manipulation, sondern auch eine generelle Vertrauenskrise der Medizin. Fast im Wochenrhythmus werden Probleme der industriellen Medizin aufgedeckt: Kunstfehler und Schlampigkeiten, Hygienemängel, gefährliche Medikamente wie Blutdrucksenker, die mit krebsfördernden Stoffen verunreinigt sind, Transplantate, die zerbröckeln und schwere Leiden und aufwendige Nachoperationen zur Folge haben, überflüssige Operationen bei gleichzeitigen schweren Mängeln in weniger lukrativen Bereichen. Schließlich sogar Tötungen wie im Fall des angeklagten Pflegers Niels Högel (vgl. GWR 434: Der Wille zum Nichtwissen), das alles sind „Hintergrundgeräusche“, die das Vertrauen in die Kliniken nicht erhöhen. Und da schließt sich der Kreis zur Organspende-Diskussion.
Probleme der Transplantationsmedizin
… werden im Zusammenhang der Diskussion selten erwähnt. Lebensqualität und Lebenserwartung der Transplantierten sind höchst unterschiedlich. Es ist nicht ganz fair, die Qualen der Dialyse und die scheinbar problemlose Existenz der Transplantierten gegenüberzustellen. Die psychischen und sozialen Folgen können beträchtlich sein, aber auch die medizinischen rechtfertigen Einwände. Gehört nicht Niereninsuffizienz zu den Nebenwirkungen der Medikamente, die die Immunabwehr niederhalten, bis hin zur Dialyse? Hygienemaßnahmen und Verhaltensregeln, engmaschige Kontrolluntersuchungen und fortgesetzte medizinische Interventionen gehören zum Alltag der Transplantierten. Allein die Medikamente, die notwendig sind, um Abstoßungsreaktionen des Körpers gegen das fremde Organ zu unterdrücken, verweisen auf die Probleme. Todesursachen sind neben schweren Infektionen häufig auch Krebs, Schlaganfälle, Herzinfarkt, oft im Zusammenhang mit immunsuppressiven Medikamenten. 20 Jahre nach einer Lebertransplantation sind in Europa noch 43 % der Transplantierten am Leben. Bei einer Lungentransplantation sterben innerhalb von fünf Jahren mehr als die Hälfte der Transplantierten.
Die Überlebensraten sind wiederum ein Problem, weil schon die Auswahl der PatientInnnen die Raten verändern kann (Frauen über 55 haben eine entschieden kürzere Überlebenszeit als junge Menschen (FAZ vom 2.10.13). Den alarmierenden Zahlen zum Tod auf der Warteliste müssten auch Statistiken und lebensnahe Beschreibungen zu den Transplantationen hinzugefügt werden.
Aber nicht einmal, dass der erst 38jährige Fußballprofi Ivan Klasnic inzwischen die dritte Niere gespendet bekommen hat, war bei „Anne Will“ eine Nachfrage wert. Zuerst wurde die Niere, die ihm seine Mutter gespendet hatte, abgestoßen, dann konnte auch die von seinem Vater gespendete ihn nicht mehr vor der Dialyse bewahren, über die dritte Niere sagte er der „Welt“ „Wie lange meine Niere hält, steht in den Sternen.“ (21.09.18) Dabei ist die Abstoßungsreaktion bei nahen Verwandten am geringsten. Und die Nierenempfänger haben die besten Ergebnisse aller Transplantierten! Klasnic führt einen Millionenprozess gegen Werder Bremen um Schmerzensgeld, Behandlungskosten und Verdienstausfall, weil der Sportarzt seine Erkrankung nicht rechtzeitig diagnostiziert hatte: „Am ersten Verhandlungstag des Berufungsprozesses berichtete der 38 Jahre alte Klasnic nun von seiner täglichen Medikamenten-Einnahme und der Schwierigkeit, ein weiteres passendes Spenderorgan zu bekommen, falls seine aktuelle Niere versage.“
Alles kein Thema, nur wie quälend er die Dialyse fand und wie wichtig es ist, für Organspende zu werben! Anna Bergmann nennt so etwas „die naive Vorstellung von der simplen Lebensrettung durch Organspende“. Solche Fälle wie auch die oft gar nicht besonders eindrucksvolle Bilanz der Transplantationen bezogen auf gewonnene Lebensjahre und Lebensqualität erlauben die Frage, ob die Gelder in eine bessere Ausstattung der Grundversorgung nicht sinnvoller angelegt wären.
Was 1968 wirklich geschah
„Vom Temperament her hatten die Chirurgen etwas Verwegenes. Ein Kollege des Texaners Denton Cooley kommentierte in den neunziger Jahren: ‚Vor 25 Jahren fand [Cooley] es erst lohnend, ins Krankenhaus zu kommen, wenn er mindestens zehn Patienten zu operieren hatte.‘ Solche Männer ließen sich durch Fehlschläge nicht entmutigen: Von 17 Transplantationen, die Cooley 1968 durchführte, überlebten nur drei Patienten länger als sechs Monate.“ (Roy Porter: Die Kunst des Heilens. Berlin 2007, S. 621/622). Diese heroische Phase der Transplantationschirurgie, „in der Nieren-, Leber-, Herz-, Herz-Lungen- und andere Verpflanzungen den Forschern mehr einbrachten als den Patienten“ (Porter), wurde erst mehr als zehn Jahre später beendet, als die Abstoßungsreaktionen durch das Medikament Ciclosporin überwunden werden konnten.
In den 1990er Jahren wurden die erfolgsbesessenen Chirurgen immer kühner, Robert White verpflanzte sogar Köpfe; Andreas Tzakis ließ einen jugendlichen Patienten, der die Behandlung wegen quälender „Nebenwirkungen“ abbrechen wollte, „in Handschellen auf eine Trage geschnallt wieder ins Krankenhaus“ (Porter S. 622) schaffen. Soviel zum Thema „Vertrauen und Gewalt“. Die bedeutendste Innovation war jedoch die neue Definition von Leben und Tod durch die Harvard-Kommission 1968.
„Die ‚neurologische‘ Todesdefinition wurde 1968 vorgeschlagen. Anlass war die Verurteilung eines Arztes in Japan, der einem hirntoten Patienten Organe zur Transplantation entnommen hatte, wegen Mordes. Dadurch war das Problem der Rechtssicherheit in der Organbeschaffung akut geworden. Das daraufhin gegründete Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death schlug vor, das ‚irreversible Koma‘ als neues Todeskriterium zu definieren. (…) Das Komitee hielt diese neue Todesdefinition aus zwei Gründen für notwendig: Erstens sei die Belastung durch nicht mehr zu rettende, künstlich beatmete Patienten sehr hoch, sowohl für die Patienten als auch für deren Angehörige und die Krankenhäuser; zweitens führten obsolete Kriterien für die Todesdefinition zu einer Kontroverse über die Beschaffung von Transplantationsorganen.“ (1)
Durch technische Fortschritte greift die Medizin oft auf Lebensprozesse zu, die früher als „natürlich“ galten, ganz besonders am Anfang und Ende des Lebens. Seit Patientinnen einen Herz- und Atemstillstand auch überleben und auch Todkranke noch lange künstlich am Leben erhalten werden können, stellen sich ganz neue Fragen in Bezug auf das Lebensende.
Der Tod tritt erst durch das Abschalten der Beatmungsgeräte ein, ist also kein „natürlicher“, sondern Sterben durch Menschenhand. Wenn ein Mensch „juristisch“ tot ist, sind „eigentlich“ auch keine Pflegekräfte zuständig. Viele Berichte zeigen, dass Angehörige, aber auch Krankenpflegekräfte „überfordert“ sind, weil die „Toten“ ja atmen, Reflexe zeigen, letztlich wie andere PatientInnen der Intensivstation wirken. Noch auf dem OP-Tisch können Kreislaufprobleme der „SpenderIn“ eine „Wiederbelebung“ der Toten notwendig machen, um den Herztod zu unterdrücken.
Die SpenderInnen bekommen meist eine Narkose, muskelentspannende Medikamente, Arme und Beine werden festgebunden, um Reflexe zu unterdrücken. „Beim Einschnitt in den Körper der ‚SpenderIn‘ kann es zu Blutdruck-, Herzfrequenz und Adrenalinanstig kommen. Auch Rötungen des Gesichts, flächenhafte Hautrötungen und Schwitzen können eintreten. Bei ‚normalen‘ Operationen werden diese Zeichen als Schmerzreaktionen gewertet. Nicht jedoch bei ‚Hirntoten‘. Um diese Reaktionen zu unterdrücken, werden auch Schmerzmittel gegeben.“ (2)
Die logischen Widersprüche des Konzepts wurden natürlich durch immer weitere ausgefeilte Definitionen und juristische Winkelzüge geglättet, sorgen aber für fortwährende Zweifel. Denn es handelt sich um einen Bruch mit kulturellen Traditionen, mit intuitiver Wahrnehmung, mit Körperbildern und mit weltanschaulichen Überzeugungen.
Die „Hirntod“-Definition
Es ist ein furchtbares Paradox: Organe Toter kann man nicht verpflanzen. Die Vitalfunktionen müssen also erhalten werden. Dafür gibt es die Definition Hirntod, die feststellt, dass ein Mensch nicht mehr wie früher und ohne von medizinischen Apparaten am Leben erhalten zu werden, leben kann: Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm sind ausgefallen, zwei Ärzte haben das diagnostiziert und durch Unterschrift bestätigt, damit gilt der Mensch als tot und als Organspender. Er ist aber gerade noch nicht tot, denn sonst könnten keine Organe verpflanzt werden. In gewisser Weise also ein „lebender Leichnam“ oder ein sterbender Mensch? Wird der Sterbende instrumentalisiert für die Therapie Dritter? Und für Fallzahlen von Ärzten und Krankenhäusern?
Es gehört zu den Problemen der modernen Medizin, dass sie den „natürlichen Tod“ abgeschafft hat. Mit künstlicher Ernährung, Beatmung und zahlreichen Geräten kann ein Mensch Jahre am Leben erhalten werden, obwohl er bewusstlos ist und außerhalb der Apparate nicht lebensfähig. Die Person ist tot, der Körper lebt noch. muss man diese Aufspaltung für unproblematisch halten?
Vor allem zeigt der tote Körper noch Reflexe, der sinnlichen Wahrnehmung ist er kein Leichnam, das ist alles nicht einfach, hat sich erst allmählich durchsetzen können über die Versuche an Hingerichteten, so wie heute noch China sie ausschlachtet. Auch dass christliche Nächstenliebe sich in Organspende ausdrückt, ist ja noch ziemlich neu. Immerhin ist das ganze Verfahren mit dem Warten auf den Tod eines potenziellen Spenders kontaminiert.
Und außerhalb der schon verdächtig vehement Überzeugten (Spahn, Lauterbach, Hirschhausen, das hohnlachende Selbstbewusstsein gegen die Bedenkenträger lässt erkennen, dass „Aufklärung“ als militärischer Begriff in unübersichtlichem Gelände zu verstehen ist; dass sie eine Dialektik der Aufklärung nicht erkennen können ist bei soviel platter Überzeugtheit schon selbstverständlich) stehen die Menschen, deren kulturelles Verständnis von Leben und Tod, Körper und Person widersprüchlich und in Auflösung begriffen sein mag, die aber ein Unbehagen nicht loswerden. Oder eine Ahnung von einem Verlust. Mit welchem Recht will der hohnlachende Mediziner-Staat sie zwingen?
PatientInnenverfügung
Es wird oft vorkommen, dass in einer „Patientenverfügung“ lebensverlängernde Maßnahmen ausgeschlossen werden, wenn bestimmte Krankheitsbilder vorliegen und Behandlungen drohen. Die Bereitschaft zur Organspende zu erklären oder – falls die geplante „Widerspruchslösung“ Gesetz wird – Spenderin von Staats wegen zu sein, schließt genau solche Verfügungen aber aus! Bis zur Feststellung des Hirntods und bis zur Organentnahme müssen sämtliche lebenserhaltenden Funktionen, besonders die Beatmungstherapie, aufrechterhalten werden. Gegen den in einer „Patientenverfügung“ ausgedrückten Willen?
Die ersten Textbausteine sind im Netz, etwa: „Es ist mir bewusst, dass Organe nur nach Feststellung des unumkehrbaren Ausfalls der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod) bei aufrechterhaltenem Kreislauf-System und unter künstlicher Beatmung entnommen werden können. Deshalb gestatte ich ausnahmsweise für den Fall, dass bei mir eine Organspende medizinisch infrage kommt, die kurzfristige (ca. 72 Stunden) Durchführung intensivmedizinischer Maßnahmen zur Bestimmung des Hirntods nach den Richtlinien der Bundesärztekammer und zur anschließenden Entnahme der Organe.
Außerdem stimme ich der Durchführung von intensivmedizinischen Maßnahmen zu, die zum Schutz der Organe bis zu ihrer Entnahme erforderlich sind. Entsprechendes soll auch für den Fall gelten, dass zu erwarten ist, dass der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod) in wenigen Tagen eintreten wird.“ (3)
Totgeschwiegen wird also das Problem, dass Sterbende in Hinblick auf die Interessen der möglichen Organempfänger medizinisch behandelt werden. Nur weil sie nicht widersprochen haben und deshalb „automatisch“ Spender sind? Ist das mit dem Gedanken inhaltlich bestimmter Selbstbestimmung vereinbar? Übrigens gibt es sogar mit den „Patientenverfügungen“, die jemand ja bewusst festgelegt hat, das Problem, dass gerade die Situation schwerer Krankheit oder Verletzung auch zu einer Änderung von Überzeugungen führen kann. Überall schlichte „Lösungen“ für unlösbare Probleme. Darf aber eine Gesellschaft unlösbare Probleme kennen? Oder muss sie sie, so oder so, lösen? Vielleicht sagt auch das etwas über diese Gesellschaft.
Es müssen aber nicht alle die seltsame Versachlichung und Verdinglichung der Sterbenden mitmachen, die eben doch sehr kalt angeschaut werden. Das ist in Einklang mit den sich überall durchsetzenden „Verwertungsinteressen“. Verschieden sind sicherlich die Sensibilitäten, wo Menschenwürde verletzt wird oder wie sehr ein medizinischer, ökonomischer, staatlicher Zugriff als Übergriff empfunden wird. Es verschieben sich Grenzen.
Dabei sind schon die Patientenverfügungen im Verdacht, den Diskurs von einem würdigen Leben zu verschieben zum „würdigen Sterben“ oder „selbstbestimmten“ Tod. So sieht Michael Skambraks, ein erfahrener Arzt, das starke wirtschaftliche Interesse im Vordergrund, Kranke und Behinderte, die nicht mehr viel leisten, sondern Kosten verursachen, davon zu überzeugen.
Die Verfügungen dienen der juristischen Absicherung der Ärzte gegen den Vorwurf unterlassener Hilfeleistung, das ist in seiner Sicht die Funktion. Seine erfahrungsgesättigte Textanalyse typischer Patienten-Verfügungsprosa ist lesenswert, auch wenn man nicht allen seinen Alternativen zustimmt. Er kann zeigen, dass wohl den wenigsten die Inhalte und Konsequenzen ihrer „Verfügung“ tatsächlich klar sind. Ich bin allerdings der Ansicht, dass es tatsächliche Dilemmata gibt, etwa dass starke Schmerzmittel, die oft aber sinnvoll sind und von den Patientinnen gewünscht werden, natürlich auch massive Nebenwirkungen haben und letztlich zum Tod führen, so dass sein Alternativvorschlag „Ich möchte auf keinen Fall, dass mein Leben durch Medikamente oder andere medizinische Maßnahmen verkürzt wird“ das Problem leugnet.
Die Fliege im Urinal
… soll dazu führen und tut das auch, dass Männer weniger den Boden benetzen. Die „Widerspruchslösung“ „reiht sich nahtlos ein“ (um die bedeutendste sprachliche Hinterlassenschaft des KBW einmal zu bemühen) in das paternalistische „Nudge“-Konzept, das ein „sozial erwünschtes“ Verhalten nahelegt, es mühsam oder kostspielig macht, sich nicht so zu verhalten.
Das ist keineswegs so neu wie die Autoren einschlägiger Bücher glauben, sondern es handelt sich letztlich um „Angebote, die sie nicht ablehnen können“ (im Mafia-Jargon) oder um die schlichte Interessenlogik, der der gesamte Kapitalismus bis zur letzten Marxistischen Gruppe ohnehin folgt. Hier von einem „libertärem“ Paternalismus zu sprechen, wie es oft geschieht, heißt eben, wie im Beispiel der Organspende: Man kann ja widersprechen, es ist nur etwas aufwändiger …; man wird nicht gezwungen, wenn man diesen Aufwand betreibt. Dabei ist es bei jedem Zwang (Gesetz) so, dass es nicht tatsächlich zwingt, wenn man bereit ist, die Kosten und Probleme auf sich zu nehmen, die ein Zuwiderhandeln als Sanktionen dann erzeugt. Man müsste im Fall von „Nudge“ also eher von „schwachen Sanktionen“ ausgehen oder von großen praktischen Problemen des Zuwiderhandelns. Jedenfalls ist die Widerspruchslösung bei der Organspende von Thaler und Sunstein ausdrücklich empfohlen worden, ein Beispiel des von ihnen propagierten „libertären Paternalismus“. Dabei wollten sie es den Objekten „libertär“ leicht machen, sich gegen das nahegelegte Verhalten zu entscheiden, und sie wollten größtmögliche Transparenz, nur ein „Stupsen“ eben. Die etatistische Tradition deutscher Gesundheits- und Sozialpolitik ist da weniger zimperlich.
Wie bei jeder Meinungsforschung genügt „schon die Veränderung der Beschreibung einer Entscheidungssituation“, „eine einfache Umformulierung des Aufrufs“, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen (so propagieren es Sandro Ambuehl und Axel Ockenfels: Die Vorteile einer Entscheidungspflicht, FAZ 2.11. 2018): „Menschen tendieren dazu, dem gesetzten Standard zu folgen“, wird hier das Geschäftsgeheimnis ausgeplaudert.
Man könnte auch sagen, die Menschen werden von „Voreinstellungen“ manipuliert, denen sie nur mühsam ausweichen können, alle haben sich längst daran gewöhnt, dass technische Geräte sich nur mit beträchtlichem Zeit-und intellektuellem Aufwand neu „einstellen“ lassen. Als „Standard“ oder „Normalität“ definiertes Verhalten wird tatsächlich von den meisten Menschen sogar angestrebt, sie sind sich der Probleme von „Abweichung“ wohl bewusst. Zugehörigkeit wird belohnt. Deshalb beutet die „Widerspruchslösung“ die Normalitätswünsche der Menschen aus.
Wenn es eine „libertäre“ Variante vor der Unsterblichkeit gibt (Godwin war der Meinung, in der Herrschaftslosigkeit würden wir solchen Unsinn wie das Sterben natürlich unterlassen!), dann ist es nur Gegenseitigkeit: Ich möchte Organe gespendet erhalten und verfüge, dass nach meinem Tod meine Organe anderen spendenbereiten Menschen zur Verfügung stehen. Das wäre zu akzeptieren. Aber auch: Wir wollen uns der Medikalisierung des Lebens entziehen!
Johann Bauer
Anmerkungen:
1) www.bpb.de/apuz/33311/wie-tot-sind-hirntote-alte-frage-neue-antworten?p=all
2) Roberto Rotondo, vgl. https://www.transplantation-information.de/index.html
3) https://www.organspende-info.de/organspendeausweis/patientenverfuegung
www.journal360.de/interview-anna-bergmann/
Diskursanalyse des Organmangels:
Motakef, Mona: Körper Gabe. Ambivalente Ökonomien der Organspende. Bielefeld: Transcript Verlag 2011 (Reihe: Materialitäten 17)
Michael Skambraks: Vorsicht! Patientenverfügung. München: Edition Winterwork, 2017, ISBN 978-3-96014-397-0