„Ganz sicher mein Lieblingsbürgermeister. Es gibt tatsächlich keine Konkurrenz.“ (Noam Chomsky)
Wäre Jón Gnarr 2010 nicht als anarchistischer Bürgermeister Reykjavíks, der Hauptstadt Islands (Hauptwohnsitz der ca. 347.000 Einwohner*innen des Inselstaates), zu Berühmtheit gelangt, würde vermutlich kaum ein Hahn nach diesem Buch einer problematischen Jugend fernab des europäischen Festlandes krähen. Auch das giftgrüne Buchcover lädt kaum zum Lesen ein – warum das trübe Foto noch einen Weichzeichner brauchte, bleibt das Geheimnis des Grafikers.
Schöner wird das miserable Cover (siehe Abb. auf dieser Seite) auch nicht durch die warenförmige Verzierung mit dem Strichcode unserer Konsumwelt, offenbar eine Vorgabe des Verlags. Doch die Persönlichkeit des Jón Gnarr, des Punks, Kabarettisten und Zufallspolitikers ist zu illuster, als dass mensch darüber nicht mehr wissen möchte. Es ist aber nur die Vor-Vor-Geschichte eines ebenso bemerkenswerten wie von Allen unvorhergesehenen libertären Coups, der die isländische Gesellschaft veränderte und der bis heute Kreise zieht. Eine Links-Grüne ist jetzt, 2018, Isländische Ministerpräsidentin. Jón hingegen hat die Brocken fallen lassen, seine Spaß-Partei „Besti flokkurinn“ (Beste Partei) aufgelöst und dem Establishment echt punky den Stinkefinger gezeigt. Er schreibt jetzt, nach vier Jahren guter Regierung, mit Rückenwind seiner guten Taten wieder Bücher, wie seit seinem 19. Lebensjahr. (1)
Dieses Buch ist der zweite Teil der Jugend-„Saga“ Jóns, dem „schwarzen Schaf der Familie“. Den ersten Teil über seine Kindheit, „Indianer und Piraten“ (2) wollte er explizit nicht als Sachbuch oder Biografie verstanden wissen, weil da einiges dazugedichtet sei, da wo er sich nicht mehr so recht erinnere. Seltsam, dass „Der Outlaw“ nun als Sachbuch figuriert. „Memoiren sind Fiktionen.“ Jóns´ Pa ist ewiger Streifen-Cop und Kommunist (Version Moskau). Seine Ma sieht die Dinge etwas anders, mainstreamig liberal-konservativ, rechts. Das birgt Konfliktstoff. „Ich möchte, dass man bei diesem Buch weint. Ich möchte auch, dass man lacht. Aber das ist keine Pflicht“, schreibt Gnarr, inzwischen selbst mehrfacher Vater, über das Buch seiner Kindheit.
Eigentlich heißt das zweite autobiografische Buch von Jón Gnarr „Útlaginn“, Der Geächtete. Dieser Titel fußt auf der mythischen isländischen Figur des listigen Gísli Súrsson, einem wegen verübter Blutrache vogelfrei Ausgestoßenen, der vor gut tausend Jahren 13 Jahre gejagt und dann erschlagen wurde. Von der Saga und ihrem Protagonisten gibt es ein anschauliches Bild in Form einer Skulptur und einen Film von 1981. Jón identifizierte sich im Internat als Jugendlicher mit der Lage dieses Geächteten (Outlaw ist eine wirklich schlechte Übersetzung dafür) und dessen abenteuerlich-tragischer Geschichte, zumal sie sich im selben Landesteil zutrug, in dem Jón einen Teil seiner Jugend verbringen musste. (3)
Jón oder „Jónsi Punk“ mit seinem fable für die britische Anarchopunkband CRASS und nur für CRASS, die er für ihre anarchopazifistischen Texte abgöttisch bewunderte, wurde nach chaotischer Kindheit von seinen ratlosen Eltern aus Reykjavík in das Landschulinternat Núpur (heute eine Touristenunterkunft), am Arsch der Welt, eher eine Anstalt für schwer Erziehbare, abgeschoben. Seinen Cop-Vater schildert er aus seiner damaligen Wahrnehmung als einen langweiligen Zur-Arbeit-Geher und seine Mutter, eine strenge Krankenhausangestellte, als eine zwar schwer respekteinflößende, aber seinen Eskapaden gegenüber letztlich ebenso resignierende Domama.
Für Jón beginnt im abgelegenen, eisigen Núpur ein neues, hartes Leben, immerhin ohne die bisherige elterliche Daueraufsicht. Luxus oder Wohlbehütetheit gibt es dort nicht, dafür vergitterte Fenster und die Hierarchie der Krassen. In ihr findet er seine Nische als immer lustiger Clown, der sich zwar nichts gefallen lässt – die Schwachen werden untergebuttert und schikaniert – der aber auch für fast alles zu haben ist. Die harsche Landschaft rundum findet er öde, treibt sich aber doch verbotener Weise darin herum. Das kann leicht lebensgefährlich werden, da wo die Temperaturen niedrig und die Weglosigkeiten die Regel sind.
Wie in alle Knäste der Welt, findet auch bis hier in die Einöde die Droge ihren Weg. Es wird (selten) gekifft und dann mangels Kif auch geschnüffelt bis zur Gehirnerweichung. Hustensaft und geklaute Pillen sind Ersatzstoffe. Alk gibt es kaum, aber wenn mensch an ihn rankommt, wird gesoffen bis zur Bewusstlosigkeit. Und weil das Zeug rar ist, wird es auch gefährlicher Weise gefixt.
Jón bedrängen Komplexe und als unaufgeklärter Heranwachsender hat er seine liebe Mühe mit dem Ding zwischen seinen Beinen. Zwar hätte er durchaus Chancen bei den im Internat auch vorhandenen Mädchen, aber er ist zu verklemmt und wichst, als es plötzlich bei ihm anfängt, heimlich und häufig, mit schlechtem Gewissen. Sein krumm gewachsener Penis macht ihn nicht gerade mutiger zur Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht.
Dennoch verliebt er sich in eine neu angekommene Punkerin, die jedoch nicht wie er auf der CRASS-Superschmalspur ist, die er so fundamental-missionarisch vertritt. Seine neue Freundin findet zu seinem Entzücken CRASS gut – aber auch Anderes, sogar Nicht-Punkiges. Jón entdeckt durch sie John Lennon und dessen Song „Imagine“, der inhaltlich ebenso cool ist wie CRASS-Texte. Sogar eine Lennon-Matte lässt er sich nun wachsen. Im Laufe der Erzählung verstehen wir, dass Jónsis damaliger Anarchismus ebenso schmalspurig ist wie sein Musikverständnis und erleben ihn bei allerhand, teils lebensgefährlichen Dummheiten.
Schließlich, als er gerade sein Talent zum Schauspielern entdeckt hat und darin aufgeht, versaut er mit dem Núpur-Ensemble auf Tournee alles. Trunken vom plötzlichen Erfolg und angesoffen dazu, knacken und plündern die angehenden Schauspieler*innen einen Kiosk und schwelgen in erbeuteten Süßigkeiten, die sie irgendwie meinen verdient zu haben. Das jedoch beendet das Theaterexperiment abrupt, ebenso wie Jóns Aufenthalt in Núpur: er landet wieder bei seinen Eltern und in seinem geliebten Reykjavík, das er verändert vorfindet. Ebenso wie sein Zimmer – die lieben Eltern haben seine Punk-Plakate abgehängt, seine Sachen weggeräumt und es als „Gästezimmer“ steril renoviert.
Nach einigen vergeblichen halbherzigen Erziehungsversuchen kapitulieren die Alten erneut und lassen den Dingen ihren Lauf. Jón zieht nach längerem Rumhängen bei ihnen aus und unterzieht sich nach dem Scheitern einer intensiv-romantischen aber beischlaflosen Liebesaffäre einer schmerzhaften Penisoperation, die ihn für die nächste Zeit die Lust auf Sex vergessen lässt. Dafür schluckt er umso mehr Rohypnol-Pillen, die der Arzt ihm bereitwillig verschreibt und verpennt zu Hause den Tag. Bis sich unverhofft sein reparierter Schwanz wieder meldet.
Angespitzt durch ein trotzkistisches Blatt versucht Jónsi sich nun als Proletarier und wartet vergeblich darauf, beim Steinekloppen am Bau seine echten Arbeiterhelden zu treffen. Die Arbeiter haben aber nur das Übliche im Kopf – Scheiß konsumieren, Soaps glotzen und Schnulzen hören. Sie machen sich über Jóns´ Proletkult lustig. Der hält noch eine Weile eisern durch, bis er hinschmeißt und als Jungprolet erst mal von Stütze lebt. In seinem neuen Kellerzimmerchen fühlt er sich wohl und autonom. Er freundet sich mit den schrägen Nachbarn an, lernt von einem Tao und Kung Fu. Die Bude tapeziert er mit Anarchokram und korrespondiert mit politischen Gefangenen. Aber das verblasst neben seiner Gier nach zügellosem Leben.
Jetzt will er nur noch leben und lustig sein, scheiß auf den Rest und auf den Punk. Sein lädierter Pimmel hat sich geradegestellt wieder zurückgemeldet. Jón will Sex. Und den kriegt er nicht als stinkiger Street-Anarchopunk. Lederjacke und CRASS-T-Shirt landen ohne Bedauern in der Tonne. Jón metamorphost lustgetrieben zum geschniegelten „Bauhaus“-NewWaver in schnieken Modeklamotten. Eines Abends wird er von einer angetrunkenen Partyteilnehmerin seines Nachbarn entjungfert. Die Situation ist würdelos. Von da an macht er High Life. Das funktioniert eine Weile gut. Tanzen, Vögeln und Saufen werden zum Lebenszweck. Den Rest machen Alk und Pillen, um den weggedrückten Depri zu kompensieren und möglichst wenig Schlaf zu brauchen. Ein Break ist die ABM, die er vom Amt auf die Nase gedrückt bekommt, da sonst seine Stütze versiegt. Erst leert er städtische Müllbehälter, dann landet er in der Gartenarbeit des psychiatrischen Pflegeheims Arnarholt. Die Arbeit macht ihm zunehmend Spaß und er freundet sich mit Insassen an, Addi und anderen skurrilen Typen. Da es in der Anstalt auch hübsche Frauen gibt, gefällt es ihm so gut, dass er nach der ABM dort voll anheuert. Nach der Arbeit wieder High Life was das Zeug hält – zum Schlafen kaum Zeit. Das müssen die Pillen regeln.
Dass Jón am Ende zusammenbricht, beinahe seinen Verstand und sein Leben verliert, nimmt die Lesenden dieses Exzess-Lebens nicht wunder. Aber nach dem Koma braucht es auch so etwas wie ein Wunder für Jón, wieder ins Leben zurückzufinden und sich neu zu erfinden. Dabei helfen ihm seine herbeigeeilte Mutter und andere nette Menschen. Wie wir wissen, wird er am Happy End wieder ein sympathischer Punk und bekannter Spaßmacher. So sympathisch, dass ihn 34,7% der Einwohner*innen von Reykjavík 2010 zum Bürgermeister wählen – und daran taten sie offenbar gut. Nach abgeschlossener Lektüre des streckenweise verstörenden Buches wissen wir: auch aus dem größten Hohlkopf kann noch ein guter Bürgermeister und Anarchist werden. Es gibt also noch Hoffnung für die Menschheit. Wer Jón Gnarr als Bürgermeister von Reykjavík erleben will, der als Schulabbrecher u.a. das Schulsystem seines Landes reformiert, darf sich durch sein drittes Buch lesen: „Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!“ (4) – Spaßfaktor garantiert. Vielleicht ist das eine Steilvorlage für den „Libertären Kommunalismus“, besser aber den von Jón, als den von „Apo“ Ötscharlatan. Wer hätte gedacht, dass der „Steisstrommler“-Verlag Klett eines Tages einen Anarchisten verlegt?
Jón Gnarr – Der Outlaw, Klett-Cotta, TROPEN Sachbuch, Stuttgart 2017, 287 Seiten, ISBN 978-3-608-50153-7, 20 Euro, auch als eBook
Anmerkungen:
1) https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Mehr-Punk-weniger-Hoelle-/story/25977893
2) auch bei TROPEN, ISBN 978-3-608-50141-4
3) https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:%C3%9Atlaginn.JPG
https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%ADsla_saga
3sat-Film Jón Gnarr – Mein Reykjavík: https://www.youtube.com/watch?v=FlmhkvwpZW0
4) TROPEN Verlag 2014, ISBN 978-3-608-50386-9, 8. Auflage!
Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier