Im Bundestag und mehreren Bundesländern werden gerade Transplantationsgesetze diskutiert, die durch finanzielle Anreize und freigestellte Transplantationsbeauftragte dafür sorgen sollen, dass potenzielle Organ-SpenderInnen identifiziert werden. Daneben wird auch gefordert, die bisherige „Entscheidungslösung“ durch eine „Widerspruchslösung“ zu ersetzen. (GWR-Red.)
Seit September 2018 wird wieder in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert, in Deutschland sollte jede Person als Organspender gelten, die nicht ausdrücklich widerspricht oder deren Angehörige kein Veto geltend machen. Dabei ist die derzeit geltende Regelung erst im Mai 2012 vom Bundestag verabschiedet worden: Alle Krankenversicherten werden von ihren Krankenkassen regelmäßig angeschrieben und erhalten einen Organspenderausweis zugeschickt mit der Aufforderung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich zu entscheiden (deshalb „Entscheidungslösung“), dass der ausdrückliche Zweck des Gesetzes die Förderung der Organspende ist, gleichzeitig aber gefordert wird, „ergebnisoffen“ solle die Information sein, hat zu vielen Diskussionen geführt. Jedenfalls wurde das Ziel nicht erreicht. Deshalb fordern immer mehr Ärztefunktionäre und GesundheitspolitikerInnen, die „Entscheidungslösung“ durch eine „Widerspruchslösung“ zu ersetzen, die alle Menschen als SpenderInnen voraussetzt, es sei denn sie hinterlegen einen Widerspruch.
Manche Verfügung über den eigenen Körper wurde in den letzten Jahrzehnten scheinbar liberalisiert: Abtreibungsrecht, pränatale Diagnostik, Verfügung über Drogen zur Selbstverbesserung, Schönheitsoperationen, Tattoos, … um nur einige „Anwendungsfelder“ der Individualisierung zu nennen.
Aber keine dieser Verfügungen ist ohne Widersprüche, so werden Schwangerschaftsabbrüche von evangelikalen FundamentalistInnen kriminalisiert, gleichzeitig werden Menschen beargwöhnt, die trotz vorgeburtlicher Diagnostik ein möglicherweise behindertes Kind gerade nicht abtreiben. Außerdem führt das scheinbare Selbstbestimmungsrecht zunehmend zu Kommerzialisierungen des Körpers und dadurch zu Fremdzugriffen wie zum Beispiel Leihmutterschaft. Gleichzeitig sind Tendenzen der Normierung stärker geworden: Was ein „gesunder Körper“ ist, wie er gefördert werden sollte und welche Sanktionen vielleicht sogar angedroht werden könnten (Krankenkassenbeiträge!), wenn jemand sich „unvernünftig“ verhält. Körper und „Gesundheit“ sind also Kampfplätze öffentlicher Auseinandersetzungen. Oder auch von Klassenauseinandersetzungen, denken wir nur an den Körper der Unterschichten, die gerne als übergewichtig, ungepflegt, von Fastfood, Alkohol und Zigaretten geformt vorgestellt werden, unsportlich, nachlässig und irgendwie ungesund. Ganz anders die Mittelklassen, hier wird – wie beim „Self-Tracking“ – in eigener Regie betrieben, was auch ein chinesisches Punktesystem selbstverantwortlichen Verhaltens nicht besser regulieren könnte.
Beim Thema Organspende entsteht eine Biopolitik, die Verfügungen über Leben und Tod tendenziell gerade aus dem Belieben der Individuen lösen will. Und während bei jedem Arztbesuch etliche Einwilligungs-Formulare zu unterschreiben sind (sogar, ob man mit Namen aufgerufen werden darf!) und umfassende Aufklärung dokumentiert wird, soll ausgerechnet der größtmögliche Eingriff durch Schweigen und Nichtwissen legitimiert sein. Das geht nur, wenn die Regulierung der Organtransplantation den Individuen mehr Verfügungsrechte verspricht: Über Spenderorgane, die ihnen sonst entzogen wären.
„Organspende – eine nationale Aufgabe“
So ist das Plädoyer des Bundesgesundheitsministers Spahn in der FAZ vom 6.9.2018 betitelt. Wie auch der SPD-Talkshow-Dauergast Karl Lauterbach, zahlreiche Ärztefunktionäre und der Pausenclown des Gesundheitswesens Eckhart von Hirschhausen wird er nicht müde, folgende „Fakten“ aufzulisten: Über 10.000 Menschen warten in Deutschland auf Spenderorgane, während die Zahl der OrganspenderInnen sinkt. Dabei befürworten über 80 % der in Umfragen Interviewten die Organspende. Die Fragestellung wird allerdings nicht mitgeliefert, es geht ja auch nur darum, den demokratischen Mehrheitswillen zu demonstrieren, wie dieser hergestellt wird bleibt Betriebsgeheimnis.
36 Prozent der Bevölkerung haben einen Spenderausweis; dennoch gab es 2017 nur 797 Organspender, 2018 immerhin 955, was schon als erster Erfolg der Debatte begriffen wird (HAZ vom 12.1.2019). 2015 gab es 27.258 „Hirntote“, 2.780 Menschen, die nach allen medizinischen Kriterien als SpenderInnen geeignet gewesen wären, aber nur 877 Transplantationen (FAS vom 9.9.18).
„Zunächst“ diskutiert der Bundestag organisatorische Vorbereitungen, die ohnehin notwendig werden, um eine „Kultur der Organspende“ als Voraussetzung zu schaffen. Geändert werden muss zunächst, dass es für Kliniken zu teuer ist, OrganspenderInnen zu identifizieren, Zeit, Räume, Personal dafür bereitzustellen, die nicht angemessen vergütet werden und für „rentablere“ Operationen fehlen. Dass es keine systematische Suche nach „Organspendern“ durch freigestellte „Transplantationsbeauftragte“ gibt, soll nun durch ein „Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende“ geändert werden. Materielle Anreize sollen die Kliniken belohnen, wenn sie eine Infrastruktur für die Suche nach Organspendern schaffen.
Es ist aber absehbar, dass das nicht ausreichen wird. Die Ärzte scheuen auch die zeitaufwendigen und schwierigen Gespräche mit den Angehörigen. Und spätestens nach einigen Jahren wird Bilanz gezogen und die „Widerspruchslösung“ durchgesetzt. Denn – wie wir noch beim „Mangel an Spenderorganen“ sehen werden – es könnte sich um einen „expandierenden Markt“ handeln.
Und es geht für Gesundheitsminister Jens Spahn und andere Funktionäre des Systems der Krankenverwaltung auch noch um etwas andres: „Ich sehe in dieser Debatte eine große Chance auch für unser Selbstbild als demokratische Nation.“ (FAZ 6.9.18). Schon die Debatte über „einen nicht geringen Eingriff des Staates in die Freiheit des Einzelnen“ mache Hoffnung „auf eine weitere Sternstunde unserer parlamentarischen Demokratie“. Natürlich ist dabei ebenso wahr wie geschickt, dass auch eine Niederlage in der Sache noch staatstragend ausgeschlachtet werden kann und Jens Spahn sich als Organisator der Diskussion für Höheres empfiehlt.
Wird einerseits der Zugriff des Staates und des medizinisch-industriellen Komplexes auf den potentiellen Organspender gefeiert und mit Unterstellungen und Diffamierungen der Zögernden Druck ausgeübt, so wird vom Gesundheitsminister andererseits die „Lösung also, bei der man der Organspende automatisch zustimmt, solange man nicht ‚nein‘ sagt“ heruntergespielt, das sei ja wohl nicht zuviel verlangt, sich damit auseinanderzusetzen und zu entscheiden: „Eine Pflicht, zu der man konsequenzlos ‚nein‘ sagen kann, ist keine Pflicht. Was stimmt: Es wäre eine Pflicht zu aktivem Freiheitsgebrauch.“
Und während Spahn sich also noch ganz offen gibt, zetern in den Leserbriefspalten Interessierte, es sei „unterlassene Hilfeleistung“ (müsste also bestraft werden) wenn jemand „Nein“ zur Organspende sagt. Solche Positionen sind durch „Medizinethiker“ wie Nikolas Knöpffler oder Dieter Birnbacher vorbereitet worden, die den Diskurs des „Organmangels“ befeuert haben und es „Verschwendung“ und „unterlassene Hilfeleistung“ nennen, wenn Hirntote nicht für Organspenden zur Verfügung stehen. „Täglich sterben Menschen, weil für sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan zur Verfügung steht“, wird in endlosen Varianten und auf verschiedene PatientInnengruppen „heruntergebrochen“ berichtet. Der einfachste Einwand: Sie sterben an ihren Krankheiten! Nicht am „Mangel an Spenderorganen“. Und es gibt auch kein „Recht auf Spenderorgane“, das sind alles ganz irre Konzepte.
Der „Mangel an Spenderorganen“ hat mehr als einen Grund; eigentlich geht es um einen „Mangel an Hirntoten“ (dazu mehr im Artikel „Wenn die Zustimmung ausbleibt, macht der Staat selbst, dass zugestimmt wird“). Denn nur Hirntote sind – von den möglichen Lebendspenden hier einmal abgesehen – potentielle OrganspenderInnen. „Eine Medizin, die gelernt hat, auf aussichtslose Behandlung zu verzichten“, produziert aber weniger Hirntote, wie Stephan Sahm in der FAZ vom 30.10.2018 gezeigt hat, „sonst wäre die Republik angesichts von achthunderttausend Sterbefällen im Jahr in Deutschland eine einzige Intensivstation, auf der Menschen dem Tod mit den Mitteln modernster Technologie eine Weile vorenthalten würden“. Es gibt die Furcht vor „Übertherapie“ (und deren Kosten!) und die jahrelange Förderung von Patientenverfügungen, die die Behandlung verbindlich begrenzen. Weiterbehandlung bis zum Hirntod kann dann Körperverletzung sein. Das „Artefakt“ Hirntod wird seltener, weil vorher bereits die Behandlung beendet wird, wenn keine Besserung zu erwarten ist. „Denn den Hirntod kann man machen. Man fragt, ob so die neue Ausrichtung der Tätigkeit der Transplantationsbeauftragten in den Kliniken zu verstehen ist …“! Sie sollen potentielle SpenderInnen identifizieren und für die Spende vorbereiten! Übrigens wird in viele PatientInnenverfügungen nun eine Passage eingesetzt, die beinhaltet, dass für den Zweck der Organspende der Wunsch nach Beendigung der Behandlung suspendiert wird, auch hier darf der medizinisch-industrielle Komplex darauf vertrauen, dass die PatientInnen das überlesen oder gar nicht ahnen, dass ihr Anliegen, nicht über bestimmte Erfahrungen hinaus behandelt zu werden, damit gerade außer Kraft gesetzt wird! „Die Therapie muss dabei nicht nur weitergeführt, sie muss verfeinert werden, um die Organe tauglich für eine Transplantation zu halten.“ (Sahm) Die Fortführung der Intensivtherapie kann dabei zum Wachkoma, nicht zum Hirntod führen.
In anderen Ländern wird der „Mangel“ durch die „Ausdehnung des Kreises der Spender“ behoben: In Belgien und den Niederlanden gilt der Zusammenbruch des Kreislaufs als Kriterium, man wartet nicht bis zum Hirntod (Sahm). Dementsprechend fordert Dieter Birnbacher, man müsse die Tote-Spender-Regel aufgeben, auch Hirntote lebten noch.
Der „Hirntod“ als Feststellung des Todes hat auch eine Nebenwirkung, die sich für die Ökonomie der Organspende bislang fatal auswirken konnte: „Wenn eine Klinik beginnt, bei jemanden, der verstorben ist, die Hirntod-Diagnostik durchzuführen, dann sagt die Krankenkasse: Das zahlen wir nicht mehr. Das heißt, da liegt jemand auf der Intensivstation, was per se schon teuer ist, und die Kasse zahlt nicht mehr. Die Klinik bekommt zwar einen Teil der Kosten durch die deutsche Stiftung Organspende finanziert, aber auf einem großen Teil der Kosten bleibt sie sitzen. In so einem betriebswirtschaftlich aufgezogenen Markt, wie es der Gesundheitsmarkt mittlerweile ist, ist das natürlich kein Anreiz.“ (FAS, 4. November 2018, Zitat Jürgen Graf, Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Frankfurt).
Der „Mangel an Organen“ wird auch niemals beseitigt werden, sondern eher wachsen, aus folgenden Gründen: Es werden mehr Menschen auf die Wartelisten gesetzt, denn auch hohes Alter oder eine Krebserkrankung gelten nicht mehr als Ausschlussgrund. Auch Säuglinge und Kleinkinder werden immer häufiger transplantiert oder auf die Liste gesetzt. Last not least: Die Transplantierten! Sie werden mehrfach neue Organe benötigen. Die Verbreitung der Techniken und der in den Kliniken „notwendigen“ Fallzahlen führen zwangsläufig dazu, dass für immer mehr PatientInnen die Transplantation zur „Therapie der Wahl“ erklärt wird. So kann der Mangel niemals enden. Dies ist bei diagnostizierten Mangelzuständen übrigens die Regel, nicht die Ausnahme!
Die „Ethiker“ unterscheiden sich als „Nationaler“ oder „Deutscher“ „Ethikrat“ von anderen InteressentInnen dadurch, dass sie den Diskurs von „Verwertung“ zu „Solidarität“ verschieben. Solidarität kann dabei ganz unaltruistisch so konzipiert werden, dass der Bürger sich gegen das „Risiko“ (klassische versicherungsmathematische Kategorie!) des Organversagens versichert, indem er Teil eines staats-gesellschaftlichen Organpools ist.
Oder: es falle in den Verantwortungsbereich staatlichen Handelns, die Individuen bestmöglichst zu schützen, also auch gegen Organversagen (was sie nicht bedenken: Es entstehen Legitimationsprobleme, wenn der Staat beansprucht, das effektiv zu organisieren. Tut er es nicht, wird wieder die Alternative „Markt“, Deregulierung angerufen). Anton Leist, der gegen die Widerspruchslösung argumentiert hat, hat vertreten, die Krankenkassenbeiträge könnten für Nicht-Spender höher sein als für Organspender. In der Bundestagsdebatte am 28. November 2018 wollten alle Parteien „Handlungsbedarf“ erkennen, zum guten Ton gehörte schon die Aussage, dass man selbstverständlich einen Organspenderausweis bei sich habe. Unterschiede zeigten sich in den phantasievollen Beiträgen, durch welche Maßnahmen Organspender „gewonnen“ werden können.
Die AfD fordert, die Bereitschaft zur Organspende als Ehrenamt anzuerkennen und entsprechend zu fördern. Aus ihrer Sicht wären dabei öffentliche Ehrungen, Urkunden oder Ehrennadeln denkbar, natürlich nur solange es nicht „zum Äußersten“ (aber das war eine Formulierung aus einer anderen Partei) gekommen ist. Potenzielle Organspender könnten auch Ehrenamtskarten erhalten, wie sie bereits von einigen Bundesländern ausgegeben werden. Die Inhaber erhalten Preisnachlässe beim Kauf von bestimmten Waren, Dienstleistungen oder Eintrittskarten. Klar wird hier der „Wert“ der Organe in Rechnung gestellt. Und „Mangel“ ist ja das geradezu klassische Thema der Ökonomie! An jeder Stelle der „ethischen“ Argumentationen schleicht sich die Ökonomie ein.
Natürlich, ist ein Hintergrund des „Mangel“-Diskurses die Vorstellung, es sei Transplantationsmedizin mittel- und langfristig kostensparend im Vergleich zu jahrelanger Behandlung etwa mit Dialyse (und besonders die Nierenkranken stehen für dieses Kalkül ein). Das kann mit guten Gründen auch bezweifelt werden, das Sozialprestige von Chirurgen (sogar im Unterschied zu anderen Fachärzten) dürfte eine größere Rolle spielen, auch die Gewinne, die Krankenhäuser mit prestigeträchtigen Operationen einfahren, gehen ins Kalkül sicherlich stärker ein als der Nutzen für die Lebensqualität der PatientInnen. Wie so oft ist die Frage, welche „Kosten“ eingerechnet werden und welche unberücksichtigt bleiben.
Nur kurz erwähnt sei, dass als Alternative zu staatlicher Verwaltung und Zuteilung wie auf jedem Gebiet die ökonomisch-privatwirtschaftliche Alternative diskutiert wird: Organhandel. Und wie bei Drogen oder Prostitution: Besser ein legaler und regulierter Markt als ein krimineller Schwarzmarkt, so manche EthikerInnen. Oder: Warum sollte die Selbstinstrumentalisierung und Selbst-Vermarktung hier Halt machen? Bisher ist das „unternehmerische Selbst“ auf diesem Feld aber auf die Ärmsten der Armen beschränkt, außerhalb der Metropolen, in den Bloodlands der Organspende, wenn nicht gar direkter Zwang angewandt wird.
Johann Bauer
Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier