Buchbesprechung

„…die Sache mit der Freiheit, immer noch“ (1)

Muss man die alten Interviews aus dem Ja-Anarchismus-Band neu auflegen? Muss man!

| Kerstin Wilhelms-Zywocki

Bernd Drücke (Hg.): Ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Unrast, Münster, November 2018, 354 Seiten, 26 Zeichnungen von Findus, 18 Euro, ISBN 978-3-89771-256-0

2006 trat die erste Ausgabe von „Ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert“ mit der Mission an, dem durch die RAF und die dauerhafte mediale Verknüpfung mit Chaos und Gewalt verunglimpften Begriff ‚Anarchie‘ ein realistischeres Bild von Anarchist*innen und ihren vielfältigen Projekten entgegenzusetzen. In vielen Interviews entstand dadurch ein lebendiges Bild von der Vielfalt der gewaltfreien anarchistischen Bewegung. Das Buch war so erfolgreich, dass zwei weitere Bände folgten: „Anarchismus Hoch 2“ und „Anarchismus Hoch 3“.

„Ja! Anarchismus“ hingegen war bald vergriffen und wurde im Internet zu horrenden Preisen gehandelt. Die Hoffnung des „Blarzen Schwocks“, niemand würde dieses Interview lesen, wenn es „nur“ in einem Buch erscheint, hat sich also nicht bestätigt… (S. 92) Statt im Chaos des GWR-Büros zu versinken (sorry, ‚herrschaftsfreie Ordnung‘ selbstverständlich!), erfreuten sich „Ja! Anarchismus“ und die Folgebände reger Beliebtheit, was sicherlich auch daran liegt, dass die Interviews einen niedrigschwelligen, weniger akademisch verschwurbelten Einblick in das ‚wirkliche‘ Dasein von ‚echten‘ Anarchist*innen bieten, wie Herausgeber Bernd Drücke im Vorwort zur Neuauflage schreibt. Und so wurde die Entscheidung für eine zweite Auflage auch mit dem Ziel getroffen, die Interviews wieder zugänglich zu machen, um sie zum einen dem Schwarzmarkt zu entreißen, aber vor allem um die Lebensleistung vieler Protagonist*innen zu würdigen und ihre Erinnerungen und Erfahrungen vor dem Vergessen zu bewahren.

Dass dies leider nötig geworden ist, zeigen die vielen Nachrufe, die den Interviews in der Neuauflage folgen. Bernd Drücke und Jochen Knoblauch haben sich von allen inzwischen verstorbenen Genoss*innen in der Graswurzelrevolution verabschiedet, ihre Lebenswege und Lebenswerke gewürdigt und diese Nachrufe als Zeichen der Anerkennung und Würdigung in die Neuauflage von „Ja! Anarchismus“ aufgenommen. Dies zeigt nicht nur die hohe Wertschätzung, die Bernd Drücke seinen Gesprächspartner*innen und Wegbegleiter*innen entgegenbringt, es zeigt auch den schwierigen Weg, den eine Neuauflage eines Interview-Bandes meistern muss. Einerseits soll das historische Textmaterial erhalten bleiben und wieder verfügbar gemacht werden.

Andererseits entsteht gerade bei einem Band bestehend aus Interviews, die natürlich stets tagesaktuelle Bezüge enthalten, das Bedürfnis der Aktualisierung und Neukontextualisierung. Dieser Herausforderung wird der Band gerecht, indem vielen Interviews ein Nachtrag folgt, der den Fortgang des Projekts skizziert. (2) Die Neuauflage ist also auch deshalb wichtig, weil sie zeigt, wie sich viele libertäre Projekte über Jahrzehnte und Generationen fortsetzen, dass sie keine One-Wo*man-Shows sind und dass sie durchaus das Potenzial haben, auch in schwierigen Zeiten und gegen alle Widerstände zu bestehen. Das ist wahrscheinlich gerade jetzt eine wichtige Botschaft! „Jetzt erst recht“, schreibt Bernd Drücke dementsprechend in seinem Vorwort zur Neuauflage, und tatsächlich scheinen die Interviews keinen Deut ihrer einstigen Wirkung eingebüßt zu haben: Noch immer zeigt dieser Band, wie aktiv, bunt und vielfältig die anarchistische Bewegung ist, wie jede*r Einzelne sich in ihr verwirklichen kann und wie sich Widerstand als lebendige Utopie formiert.

Es stimmt daher, was Konstantin Wecker in seinem Vorwort zur Neuauflage, das ja bereits im Oktober 2018 in der Graswurzelrevolution Nr. 432 als Vorabdruck veröffentlicht wurde, schreibt: „Es wäre zum Verzweifeln, gäbe es nicht Menschen wie die in diesem Buch versammelten, die sich zwar gegen die Übermacht der Autoritären nicht durchsetzen können, die deren Anmaßung aber den Nimbus der Alternativlosigkeit rauben, indem sie freiheitliche Denk- und Lebensalternativen aufzeigen.“ (S.13)

Kerstin Wilhelms-Zywocki

Anmerkungen:

1) Zitat aus dem Interview mit Klaus dem Geiger, Seite 64.

2) Schade ist, dass ein solcher Nachtrag bei dem Interview mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg fehlt, denn gerade der Verlag Edition Nautilus, der in den vergangenen Jahren unheimlich erfolgreich geworden ist, hätte einen Nachtrag verdient gehabt!

Lesungen:

„ja! Anarchismus“-Veranstaltungen mit dem Herausgeber Bernd Drücke:

30. März 2019, ab 19 Uhr in der Baracke, Scharnhorststraße 100, Münster

11. Mai, 17:30 Uhr, Anarchistische Buchmesse, Jugenkulturzentrum forum, Mannheim (siehe Programm in dieser GWR/LiBu Seite11)