Buchbesprechung

Ein Leben nach den Barrikaden

Anne Reiches persönliche Spurensuche

| Peter Nowak

Anne Reiche: Auf der Spur, Edition Cimarron, Brüssel 2018, 274 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-90-824465-2-4

„Doch ich will diesen Weg zu Ende geh‘n

und ich weiß, wir werden die Sonne seh‘n!

Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“

„Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“ ist eines der persönlichsten Lieder von Rio Reiser, dem Sänger der anarchistischen Westberliner Rockband Ton Steine Scherben. Die Strophe könnte das Motto von Anne Reiches Biographie sein, die sie unter dem Titel „Auf der Spur“ in der Edition Cimarron veröffentlich hat. Es ist ein trauriges und zugleich kämpferisches Buch, so wie die Songs von Rio und den Scherben oft traurig und gerade deshalb extrem kraftvoll sind. Reiche war jahrelang eine enge Freundin von Rio Reiser. Nach seinem Tod hatte sie jeden Lebensmut verloren. Doch wie so oft im Leben stand sie wieder auf und kämpfte mit viel Trauer und Kraft weiter. Anne Reiche hat ein Buch geschrieben, das die Biographie einer militanten Linken erzählt, das berührt, gerade weil es so ehrlich ist, weil es Trauer und Niederlagen nicht verschweigt. Reiche schreibt, wie sie in den späten 1960er Jahren ihr Studium zu Gunsten des Engagements in der radikalen Linken aufgab. Sie hatte Freund*innen, die zum Blues gehörten – der radikalen Westberliner Linken, die tausende Anhänger*innen umfasste. Der Staat rüstete auf, bald waren enge Freund*innen tot, Reiche musste ihre erste Gefängnisstrafe absitzen und wollte sich danach zurückziehen. Ein Kronzeuge beschuldigte sie jedoch, an einem Bankraub beteiligt gewesen zu sein, was ihr eine langjährige Haftstrafe einbrachte. Im Gefängnis schloss sie sich der RAF an, weil sie ohne kollektive Struktur im Knast nicht leben wollte. Reiche beschreibt, wie sie als Teil des Gefangenenkollektivs an einem mehrwöchigen Hungerstreik teilnahm und welche Qualen sie während der Zwangsernährung durchstehen musste. Man kann viel von den bleiernen Jahren im Gefängnis lesen, wo die Gefangenen weggesperrt vom Rest der Gesellschaft ihre Zeit verbrachten. Anne Reiche bat ihren berühmten Bruder Reimut um Unterstützung, der sowohl in der APO als auch in der linken Wissenschaft einen guten Namen hatte. Doch Reimut Reiche wollte seiner Schwester nicht helfen. Für Anne wieder so ein Moment, wo die Nacht am Tiefsten war.

Nach ihrer Freilassung im Januar 1982, nach zehn Jahren Knast, verzweifelte Reiche fast daran, dass sie die Erfahrungen aus dem Isolationstrakt kaum vermitteln konnte. Doch sie lernte neue Genoss*innen kennen, zog in die besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstraße und stürzte sich in politische Aktivitäten, die dann in die Barrikadentage 1988 mündeten, als Tausende Aktivist*innen aus ganz Westeuropa die Häuser vor einer Räumung verteidigen wollten. In letzter Minute kam es dort zu einer Einigung. Die Räumung wurde abgeblasen und im Gegenzug die Barrikaden abgebaut. Auch ein großer Teil der Radikalen war erleichtert, dass die Kämpfe ausgeblieben sind.

Doch für Anne Reiche war der Kompromiss eine Niederlage. Sie gehörte zu einer Gruppe von radikalen Linken, die es auf einen Entscheidungskampf ankommen lassen wollten. Reiche befürchtete, dass eine legalisierte Hafenstraße ein Ort der Befriedung werden könnte. Nachdem die Barrikaden abgebaut wurden und viele Linke die verhinderte Räumung feierten, hatte Anne Reiche andere Gefühle: „Wir lebten und wir hatten die Häuser. Aber wir waren nicht mehr dieselben. […] Zu Diskussionen außerhalb bin ich kaum noch gegangen. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich uns scheiße fand, große Töne spucken und dann kneifen?“ Doch wieder rappelte sie sich auf und entdeckte, dass es auch ein Leben nach den Barrikaden gibt. Sie studierte Architektur und wollte am Hafenrand Häuser errichten, in denen die Menschen gerne wohnen. Erneut holte sie sich Narben, dieses Mal auch von zuvor engen Genoss*innen, die nun als Mitglieder der Genossenschaft Hafenstraße ihre kleine Macht nutzten. „Die Diskussionen waren emotionsgeladen, die Vorwürfe gingen bis zum Verrat“, gibt Reiche Einblicke in die innerlinken Auseinandersetzungen. Als dann kurz nach Rio Reiser auch noch ihr Bruder Jochen starb, der trotz politischer Differenzen immer auf ihrer Seite gestanden hatte, zog sich Anne Reiche für längere Zeit aus Deutschland zurück. Doch das letzte Kapitel endet mit dem Zitat eines jungen Mannes, der nach den G20-Protesten 2017 Hamburg in Untersuchungshaft kam: „Die Freude der persönlichen Erfahrung des Zusammenkommens so vieler Menschen jeden Alters und aus aller Welt, die sich nicht der totalen Logik des Geldes und der kapitalistischen Welt unterworfen haben, kann keine Form der Gefangenenschaft bezwingen.“

Peter Nowak