Interview

„Solidarität ist das Wichtigste, wenn es um Feminismus geht“

Ein Gespräch mit den Feministinnen Kerstin Wilhelms-Zywocki und Marina Minor

| Interview: Bernd Drücke, Marvin Feldmann

Interviewbeitrag
v.l.n.r.: Kerstin Wilhems-Zywocki, Marina Minor, Marvin Feldmann, Bernd Drücke - Foto: Klaus Blödow (Medienforum)

Marvin Feldmann: Könnt ihr uns etwas zur Geschichte des 8. März sagen? In welchem Kontext ist dieser Tag zum Frauen*kampftag geworden? Welche Bedeutung hat er heute für euch?

Kerstin Wilhelms-Zywocki: Der Frauen*kampftag ist um 1900 herum entstanden, im Kontext der Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Da gab es viele verschiedene Gruppierungen, auch bürgerliche wie zum Beispiel die Suffragetten, aber auch sozialistische Bewegungen in der Internationalen. In Deutschland ist das vor allem mit dem Namen Clara Zetkin verbunden. Sie hat 1910 die Einführung des Frauentags, den es in den USA seit 1909 gibt, vorgeschlagen. 1911 wurde dann der erste Frauentag organisiert. Es drehte sich zu der Zeit viel um das Wahlrecht, dessen 100-jähriges Bestehen wir dieses Jahr feiern. Später stand zum Beispiel der Erste Weltkrieg als Thema im Vordergrund.

Der Frauen*kampftag war immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, die Themen, die dort diskutiert wurden, waren stets für die Gesellschaft als Ganzes wichtig. Das betrifft auch deine zweite Frage zur Bedeutung des Tags heute: Wenn wir heute auf feministische Debatten und Geschlechterkonstruktionen blicken, lernen wir viel davon, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Wichtig ist der Tag, um die verschiedenen Perspektiven von Frauen* in verschiedenen Lebenssituationen und Gesellschaften sichtbar zu machen und sich für die Rechte von Frauen* in unterschiedlichen Lebensphasen einzusetzen. Damit ist nicht nur der Gender Pay Gap (2) beziehungsweise das geschlechtsspezifische Lohngefälle gemeint, sondern auch die spezifische Position von Frauen* beispielsweise in Fluchtsituationen, in Kriegsgebieten oder in ausgebeuteten Arbeitsverhältnissen. Diese Perspektiven machen wir stark am 8. März.

Marina Minor: Ich verbinde mit dem Frauen*kampftag den Streik 1917 in Petrograd (heute St. Petersburg), der von Textilarbeiterinnen losgetreten wurde. In Russland gab es zu der Zeit noch den Julianischen Kalender, d.h. nach deren Kalender war das eigentlich der 23. Februar, aber der hat mit dem 8. März korrespondiert. Am internationalen Frauenkampftag waren Demonstrationen und Streiks üblich. 1917 befand sich Russland im Krieg. Die gesellschaftliche Situation war von extremer Armut und Elend geprägt, viele Männer sind im Krieg gestorben. In Petrograd sind 90.000 Textilarbeiterinnen in den Streik getreten. Sie haben dann auch ihre Kollegen und Kolleginnen aus den Metallbetrieben mobilisiert, sodass sich eine Dynamik in der Stadt entwickelt und fast die Hälfte der Industriearbeiterinnen gestreikt hat. Sie haben Brot, Frieden und Freiheit gefordert und auch gegen die Zaren-Diktatur gestreikt. Das Interessante war, dass sich die politischen Komitees erst mal gegen den Streik ausgesprochen haben, weil sie sich vor einer Niederlage gefürchtet haben. Das hat die Streikenden trotzdem nicht abgehalten. Im Verlauf der Geschichte kam ein revolutionärer Prozess ins Rollen. Der Höhepunkt war im Oktober 1917, als das Proletariat die Macht unter der Führung der Bolschewiki übernommen hat. Nach der Revolution hatten Frauen die Möglichkeit und das Recht auf kostenlose Abtreibung, gleiche Rechte in der Ehe, die Scheidung war möglich ohne viel Aufwand, gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Hausarbeit sollte nach und nach vergesellschaftet werden, sodass die Leute auch weniger von der Familie abhängig sein und ohne Zwang leben konnten. Die Leute haben versucht, öffentliche Küchen und Wäschereien einzurichten, sodass solche Hausarbeiten kollektiv übernommen werden konnten. Das ist auch aus einer Notwendigkeit entstanden, weil die Menschen ihre materielle Lebensgrundlage sichern mussten. Russland war damals ein sehr armes Land. Auch die Situation für Homosexuelle und transsexuelle Personen war in dieser Anfangsphase der Revolution besser. All diese Sachen wurden dann im Verlauf, teilweise unter Lenin, spätestens aber unter Stalin leider weitestgehend zurückgenommen und die Situation der Frauen hatte sich wieder verschlechtert. Aber erst mal sind das fortschrittliche Sachen. Der 8. März als Frauen*kampftag erinnert heute auch an diese Kämpfe. Da sind noch viele andere Kämpfe, die auf der Welt stattgefunden haben. Diese Bewegungen, ihre Errungenschaften und Niederlagen spiegeln uns die heutigen Verhältnisse unserer Gesellschaft und können uns zu Reflexion anregen. Zum Beispiel ist die Abtreibung heute noch nicht kostenlos und legal für alle Frauen. Es gibt noch einiges zu tun.

Bernd Drücke: Seit 1921 wird der 8. März global als Kampftag der Frauenbewegung gefeiert. Marina, du bist aktiv im Frauen*streik-Bündnis Münster. Eure Gruppe ist Teil eines bundesweiten feministischen Netzwerkes (3). Welche Ziele verfolgt ihr? Was plant ihr für den 8. März?

Marina: Unsere Gruppe hat sich vor ein paar Wochen in Münster zusammengefunden. Wir sind Frauen* und Queers, vor allem Studierende, einige Berufstätige, viele mit akademischem Hintergrund und aktiv in unterschiedlichen politischen Kontexten. Wir hatten einige Treffen und organisieren gerade eine Demo für den 9. März in Münster. Es soll Veranstaltungen, auch am 8. März, geben, die sich um Feminismus und den Frauen*streik drehen. Wir wollen eine Diskussion anstoßen: Was ist ein Streik? Was ist ein politischer Streik? Warum jetzt ein feministischer Streik? Was wollen wir bestreiken? Warum wollen wir streiken? Wir wollen auch mit Menschen außerhalb der linken Blase darüber diskutieren und laden ein, mit uns gemeinsam etwas zu organisieren.

Marvin: Eure Gruppe bzw. die Kampagne heißt ja Frauen*streik Münster. Wird es in Münster denn einen Streik geben? Wird es in Deutschland Streiks geben?

Marina: Inspiriert wurde das Ganze u.a. von der riesigen Streikbewegung im spanischen Staat 2018, wo fast sechs Millionen Frauen* und Queers gestreikt haben. Ob es in Deutschland 2019 einen Streik geben wird, kann ich nicht sagen, aber seit diesem Jahr läuft die politische Organisation. Es wäre super, wenn es in den nächsten Jahren so sein würde, dass Menschen sich organisieren und zusammen streiken. Das wäre ein langfristiges Ziel. Dafür ist wichtig, ein Bündnis oder Komitee aufzubauen.

Das Interview als Stream – Quelle: nrwision

Marvin: Heute existieren verschiedenste feministische Strömungen. Was heißt denn Feminismus für euch?

Marina: Es ist schwierig, eine akademische Definition dafür zu geben, was denn Feminismus sei. Feminismus ist eine politische Bewegung, eine Denkströmung, aber auch eine Haltung gegenüber sich selber und anderen. Er appelliert gegen Gewalt an Frauen*, die immer noch häufig, u.a. in der Familie stattfindet, und macht das Thema in der Gesellschaft sichtbar. Er wendet sich gegen Sexismus und Sexualisierung und kritisiert auch die etablierten Rollen, wie eine Frau* sein soll, wie ein Mann* sein soll, wie wir uns verhalten sollen, wie wir aussehen sollen, wie wir zu denken haben. Wir sollten auch hinterfragen, ob es überhaupt nur entweder Frauen oder Männer naturgegeben gibt, oder ob nicht Geschlecht etwas kulturell, gesellschaftlich und geschichtlich Konstruiertes ist, was Menschen auch schadet, unterdrückt und politisch instrumentalisiert wird, um Herrschaft zu reproduzieren.

Es gibt darüber hinaus noch einen wirtschaftlichen und politischen Aspekt. Seit der Wirtschaftskrise 2008, den sozialen Kürzungen und der zunehmenden Privatisierung beobachten wir, dass diese Folgen Frauen* am stärksten treffen. Viele von ihnen sind in Teilzeitberufen oder befristet beschäftigt. In gering geschätzten Berufen, wie Pflege, Reinigung, Bildung, Dienstleistung und Erziehung, arbeiten überwiegend Frauen*. Das sind Berufe, die für unsere Gesellschaft von großer Bedeutung sind. Ohne diese Tätigkeiten läuft gar nichts. Gerade hier wird aber gekürzt und gespart. Die Bosse und der Staat verlassen sich darauf, dass diese Arbeit trotzdem weiterhin gemacht wird. Vieles davon, was wir Menschen brauchen, wird in die Familien hinein verlagert. Putzen, Haushalt, Kinder, emotionale Fürsorge, Pflege von Älteren – all das sollen die Leute dann gratis zuhause machen. Im Prinzip quasi die Arbeitskraft für den Kapitalismus reproduzieren. Die Bosse und der Staat verlassen sich darauf, dass die Arbeitskraft für den Kapitalismus im privaten Haushalt reproduziert und sichergestellt wird. Das wird immer noch meist von Frauen* gemacht, neben der Lohnarbeit, die sie auch verrichten. Dies hängt mit den Rollenbildern in unserer Gesellschaft zusammen. Der Frau* wird zugeschrieben, die emotional Kompetente, Weiche, Fürsorgliche zu sein, die dann noch gratis aufräumen und putzen soll. Feminismus ist für mich auch das Bewusstsein für diese gesellschaftlichen Probleme. Neben diesem Bewusstsein ist es auch ein politischer Kampf, eine Bewegung, ein Prozess, in dem wir alle miteinander und voneinander lernen.

Kerstin: Ja, dem kann ich mich anschließen. Marina, du hast vom politischen Kampf, von der Bewegung gesprochen. Für mich bedeutet Feminismus vor allem Solidarität. Bei allem, was gerade politisch passiert, ist das Wichtigste für mich der Zusammenhalt der unterschiedlichen Gruppierungen. Marvin, du hast die vielen feministischen Strömungen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen angesprochen. Das ist einerseits toll, andererseits ein Riesen-Problem für den Feminismus als Bewegung. Gerade wenn wir mal in die sozialen Netzwerke schauen, da gibt es nicht nur immer wieder die Shitstorms von toxischen Männlichkeiten*, auch Feminist*innen zerreißen sich gegenseitig.

Der Feminismus, wenn er sich um Frauen* kümmert oder um die spezifische Position von Frauen* in der Gesellschaft, hat es mit einem heterogenen Feld zu tun. Frauen* sind ja nie nur Frauen*, sie sind Arbeitnehmer*innen in unterschiedlichen Jobs, geprägt von Klasse, von ‚race‘, und eben nicht nur von ‚gender‘. Jede einzelne dieser feministischen Strömungen, von denen du gerade sprachst, mit diesen unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen, blickt auf Frauen* – mit Sternchen! (4) – aus einer eigenen Perspektive und diese Perspektive hat ihre Berechtigung. Auch wenn wir damit nicht immer einverstanden sind oder Dinge vielleicht anders sehen würden aus unserer Perspektive, müssen wir diese anderen Strömungen ernst nehmen und uns mit ihnen erst einmal solidarisch zeigen. Intern kann man dann über Unterschiede diskutieren, das soll man auch, das ist Teil einer pluralen freiheitlichen Gesellschaft. Aber wenn ich zum Beispiel sehe, dass bei Trans-Personen angezweifelt wird, ob sie wirklich richtige Frauen* sind, weil z.B. einem Menschen, der irrtümlicherweise als Mann* oder als männlich klassifiziert wurde, und der dann im Erwachsenenalter die Geschlechtsanpassung vornehmen lässt, vorgeworfen wird, 20 Jahre von den männlichen Privilegien profitiert zu haben. Solche Diskussionen helfen niemandem. Deshalb bedeutet für mich – und das ist vielleicht nochmal eine Antwort auf diese erste Frage, was bedeutet der 8. März dieses Jahr – den Begriff der Solidarität stark zu machen, gerade auch in diesem ätzenden Kampf in den sozialen Netzwerken, gegen den Hass des Patriarchats, der sich in Figuren wie Trump und Bolsonaro personifiziert.

Marvin: Der 8. März ist ja nicht mehr nur ein Tag der linken feministischen Bewegung, sondern wird auch von politischen Parteien bis hin zur CDU benutzt und zunehmend kommerzialisiert. Jetzt geht gerade die Werbung wieder los für Frauen*produkte, die dann im Kontext des Internationalen Frauen*tags beworben werden. Ebenso wurden einst radikale feministische Forderungen durch die Politik aufgegriffen und so teilweise in das neoliberale kapitalistische System integriert. Wie würdet ihr das bewerten? Muss ein libertär-sozialistischer Feminismus sich dagegenstellen oder gilt da auch zuallererst die Prämisse der Solidarität?

Kerstin: Solidarität ist das Wichtigste, wenn es um den Feminismus geht. Du hast recht, es wird viel kommerzialisiert und eingebettet in das kapitalistische System. Jemand hat mal gesagt, die Frauenbewegung war deshalb so erfolgreich, weil sie die Klassenfrage nicht gestellt hat. Das sind Momente, in denen eine spezifisch libertäre Sichtweise auf Gesellschaft wichtig ist. Ich würde mich vielleicht aber ein bisschen von der Formulierung wegbewegen, mich dagegenstellen zu müssen. Ich hätte eher gesagt, ich würde diese Aufmerksamkeit, die der 8. März gerade wieder liefert, um eine bestimmte, unsere bestimmte Perspektive auf den Feminismus daneben stellen und ergänzen. Mein Wunsch an so eine libertäre Perspektive wäre genau das, was ich vorhin schon versucht habe zu sagen, Frauen* sind nicht immer nur Frauen*. Sie befinden sich in verschiedenen Klassen und ethnischen Gruppen, oder auf der Flucht, im Krieg, im Arbeitskampf. Da müsste man stärker ansetzen als es bis jetzt der Fall ist, um spezifische politische Forderungen zu artikulieren. Bernd, wie sagen das die Berufs-Anarchisten?

Bernd: Ich würde sagen, es gibt mindestens zwei unterschiedliche Flügel in der feministischen Bewegung. Es gibt eine emanzipatorische, feministische Bewegung, das ist der Punkt, wo ich als Anarchist große Anknüpfungspunkte habe und der zu meiner pro-feministischen Weltanschauung gehört. Und es gibt einen „Alice-Schwarzer-Feminismus“, den ich auch kritisiere und teilweise problematisch finde, also zum Beispiel Schwarzers jahrelange Kampagne „Frauen zum Bund“. Warum sollen Frauen zum Bund gehen, wenn ich den Bund abschaffen will? Ich will überhaupt kein Militär, ich will eine entmilitarisierte Gesellschaft. Für mich ist eine egalitäre, eine gewaltfreie, herrschaftsfreie Gesellschaft das Ziel, das wir verfolgen und in unseren Forderungen benennen sollten, auch als emanzipatorische, pro-feministische oder eben feministische Bewegung. Das ist aus meiner Sicht ein Unterschied sowohl des Anarchismus als auch des emanzipatorischen Feminismus zum bürgerlichen „Alice-Schwarzer-Feminismus“.

Kerstin: Ja, es kann nicht dabei stehen bleiben, immer nur zu fordern, dass Frauen* das machen dürfen, was Männer* auch machen dürfen. Dann geht der Feminismus nicht weit genug. Sondern es muss darum gehen, Rollen und Verhaltensmuster, die wir erwerben, die wir antrainiert bekommen in unserer Erziehung zu hinterfragen, aufzubrechen. Das bedeutet, sowohl für Frauen* Handlungsoptionen zu schaffen als auch für Männer*. Wenn wir über Feminismus reden, dann reden wir auch immer über Männlichkeit, es geht gar nicht ohne. Genau hier müssen wir weiter gehen als der von dir so bezeichnete Alice-Schwarzer-Feminismus.

Marina: Wir können auch von diesem Prozess der Integration der Bewegung etwas lernen. Da muss man sich zum Beispiel klar werden, dass es sich nicht um Feminismus handelt, wenn Frauen* jetzt gewährt wird, in Chef-Etagen, in Managerjobs nach oben aufzusteigen; in Banken, wo sie sich dann im Prinzip in die Kapitalisten-Klasse hineinbegeben und Unterdrückung und Herrschaft über andere Menschen ausüben. Wie Kerstin gesagt hat, zentral ist Solidarität. Was wir auch lernen können, ist, dass wir nicht auf die Versprechen der Herrschenden reinfallen sollten. Versprechen wie zum Beispiel in den USA, „an der Wahl-Urne kann man den Sexismus abschaffen, ihr müsst alle nur wählen gehen und dann beseitigen wir dieses Problem“, dann gibt es Rechte für Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und so weiter; und dann wird aber doch von den gleichen Regierungen, die diese Versprechen machen, für Krieg gestimmt und für Abkommen, die dann Länder im globalen Süden nur noch mehr schädigen und in die Armut treiben. Man muss da gar nicht nur auf die USA zeigen. Werfen wir einen Blick auf unsere Regierung. Die SPD hat sich erst kritisch geäußert gegen den §219a, der das Recht auf Schwangerschaftsabbruch untergräbt und Ärzt*innen kriminalisiert, die über den Schwangerschaftsabbruch informieren. Auch die Basis der SPD ist gegen diese Regelung. Trotzdem sind sie in die GroKo gegangen und haben eine „Reform“ dieses Paragraphen gemacht. Das heißt, wir müssen lernen, dass wir uns auf die Regierung und diese Versprechen nicht verlassen können. Wir können nicht bis zur nächsten Wahl warten, sondern müssen unsere Probleme selber in die Hand nehmen, uns selber organisieren, uns nicht spalten lassen, handlungsfähig werden.

Bildquelle: https://berlin.carpe-diem.events/calendar/8503912-den-politischen-streik-zur-ckerobern-frauen-streik-berlin-at-aquarium-am-s-dblock/

Bernd: Im Januar 1919 wurde das Frauenwahlrecht erkämpft als eine der Errungenschaften der Novemberrevolutionen in Deutschland und Österreich. Heute sind aber 70% der Bundestagsabgeordneten Männer. Wenn wir sarkastisch sind, könnten wir sagen: „Frauen dürfen seit 100 Jahren Typen in Parlamente wählen. Toll!“ Frauen bekommen heute für die gleiche Arbeit in Deutschland im Schnitt 21% weniger Lohn, von Gleichberechtigung oder gar Emanzipation ist die Gesellschaft also noch weit entfernt. Was ist zu tun?

Kerstin: Das ist eine große Frage. Man muss einfach nerven, auf breiter gesellschaftlicher Ebene. Das Wichtigste ist, man darf sich nicht auf die vorhandenen Strukturen verlassen, auf die Gewerkschaften, auf die Parteien, die werden das für einen nicht regeln. Sondern wir müssen uns zusammenschließen in Aktionsbündnissen oder auch in den Betrieben, in den Betriebsräten Frauen*gruppen gründen, sich vernetzen, solidarisch gemeinsam weitermachen und weiterkämpfen.

Marina: Es wird ja dann häufig entgegengehalten: „Aber es gibt doch total oft Frauenquoten, schaut euch doch mal an, wie viele Frauen jetzt in der Uni sind und studieren gehen, das war damals nicht möglich und überhaupt gab es kaum Frauen in der Wissenschaft; auch in der Politik sind jetzt viele Frauen, es gibt Förderprogramme.“ Das stimmt und das ist super, dass es da schon diese Sachen gibt. Wahrscheinlich begeben wir uns bald in Zeiten, wo wir sowas eher noch verteidigen müssen. Trotzdem schafft es diese Ungerechtigkeit nicht weg. Das reicht nicht und da dürfen wir nicht stehenbleiben.

Frauen* verdienen weniger und die Hausarbeit, die viele Menschen leisten, also Sorgearbeit, auf die Kinder aufpassen, Putzen, Kochen, Wäsche waschen, all das ist auch Arbeit. Diese ist versteckt und unbezahlt, weil dies zuhause stattfindet und wird meistens von Frauen* verrichtet. In Partnerschaften liegt das u.a. auch an dem Ehegattensplitting. Es nötigt Paare dazu, dass der Mann* in Vollzeit arbeitet und seltener in Elternzeit geht, weil er im Schnitt mehr verdient als die Frau. So hängen diese beiden Sachen zusammen. Natürlich gibt es, wie bereits erwähnt, eine bestimmte Gruppe von Menschen in der Gesellschaft, die davon profitiert und auch der Staat profitiert davon, dass diese Arbeit gratis gemacht wird. Wenn man da langfristig Gerechtigkeit herstellen möchte, dann muss man das System da treffen, wo es lahmgelegt werden kann, wo es wehtut. Und das ist in den Betrieben. Dort zu streiken, das geht nicht vereinzelt, denn als Einzelne sind wir Repressionen ausgesetzt. Wir werden rausgeschmissen, wir werden dafür bestraft und sanktioniert. Wir müssen uns organisieren, überall dort, wo wir arbeiten, aber auch in Schulen und Unis, und Komitees bilden.

Das ist ein politischer kollektiver Prozess, der auch nicht von heute auf morgen stattfinden wird, sondern vielleicht Jahre braucht. Aber es sind Entwicklungen und die finden gerade statt. In Indien haben jetzt 200 Millionen Menschen gestreikt und an vorderster Front waren auch Frauen dabei, die den Streik unterstützt oder selbst gestreikt haben. In vielen anderen Ländern beobachten wir gerade ebenfalls wie die Streikbewegung wächst. Solche Kämpfe können Möglichkeiten bieten, Sexismus, Homophobie und Transfeindlichkeit gemeinsam zu überwinden. Es ist nicht bloß ein Kampf einer Klasse gegen eine andere, sondern ein gemeinsamer Kampf gegen ein Unterdrückungssystem, das im Neoliberalismus vielfältiger und komplexer geworden ist. Die einzelnen Kämpfe sind alle Teile dieses Kampfes und deswegen müssen wir zusammen halten, solidarisch sein, voneinander lernen und Menschen mit unterschiedlichen Orientierungen und Identitäten respektieren.

Bernd: In den letzten Jahren gab es große Errungenschaften der feministischen Bewegung weltweit. Trotzdem wurde in den USA ein extremer Nationalist, der damit prahlt, sexualisierte Gewalt gegen Frauen angewendet zu haben, zum Präsidenten des mächtigsten Landes der Welt gewählt. Und in Brasilien wurde im Oktober der Faschist Bolsonaro zum Präsidenten gewählt. Er verherrlicht die Militärdiktatur, propagiert Folter, Gewalt gegen Homosexuelle, will das Land von Linken „säubern“ und verharmlost sexualisierte Gewalt gegen Frauen, wie sein Vorbild Trump. Wie erklärt ihr euch das?

Kerstin: Ich bin heute in dieses Interview gekommen mit dem Vorsatz: „Ich will nur positive Sachen sagen“. Das wird schwierig, wenn wir jetzt über Bolsonaro und Trump reden. Aber vielleicht gibt es doch etwas Positives daran. Ich sehe in den Erfolgen dieser Machos ein Anzeichen dafür, dass die feministische Bewegung so erfolgreich ist, dass sie bei bestimmten Typen Ängste auslöst: Ängste um die eigenen Privilegien. um alte Strukturen, die durch den erfolgreichen Feminismus in Gefahr geraten sind. Wenn Männer* so einen Typen wie Trump wählen, dann wählen die den nicht, obwohl, sondern weil er ein Sexist ist. Wenn Bolsonaro mit seinen Übergriffen auf Frauen prahlt, dann kommt das bei einem bestimmten Publikum gut an. Das hat etwas mit Gewalt, mit Macht und Hierarchien zu tun, die im Spätpatriarchat noch immer herrschen, aber ums Überleben kämpfen. Genau das ist der richtige Begriff, es ist ein Spätpatriarchat. Ich würde das als letztes Aufbäumen lesen. Ich gehe davon aus, dass das zugrunde geht. Ganz sicher.

Bernd: Das hoffe ich auch. Ich sehe auch positive Entwicklungen. Gut finde ich, dass in den USA die größte feministische Bewegung seit Jahrzehnten angestoßen wurde, Millionen Frauen und solidarische, antisexistische Männer sind auf die Straße gegangen, um gegen den Sexisten Trump zu demonstrieren. Ähnliches sehe ich in der Türkei, wo einerseits auch üble Entwicklungen stattfinden, wo eine Autokratie um den Patriarchen Erdoğan entstanden ist. Obwohl die Demos am 8. März 2018 verboten wurden, sind Millionen Frauen in der Türkei auf die Straße gegangen. Das macht Hoffnung.

Kerstin: Ja, und auch dieser unglaubliche Erfolg von #MeToo, von dieser internationalen Bewegung in Zeiten des Trumpismus. Das zeigt, dass wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben. Aber das bedeutet auch, dass da, wo diese Faschisten an der Macht sind, sich Widerstand formiert. Das bietet viele Potenziale. Darauf würde ich am Weltfrauen*tag gerne schauen. Auf die Potenziale, auf das Positive und die Errungenschaften.

Bernd: Trump ist ein Inbegriff für Sexismus und „toxische Männlichkeit“. In den Medien (5) wird gerade ein Werbespot von Gillette diskutiert, in dem es um toxische Männlichkeit nach #MeToo geht. Du hast dich damit auseinandergesetzt. Erzähl bitte mal.

Kerstin: Das ist ein gutes Beispiel für das, was ich mit dem letzten Aufbäumen des Spätpatriarchats meine. Es wird eine Werbung ausgestrahlt, die typische Verhaltensmuster toxischer Männlichkeit anprangert und mit der Frage „Is this the best a man can get?“ alternative Verhaltensmuster darstellt.

Grundsätzlich eher unproblematische Dinge, wie ‚schlag einer Frau nicht auf den Hintern‘, ‚mobbe nicht‘ und ‚verprügle niemanden‘. Unter dem Video auf Youtube kann man die Kommentare der Männer* lesen, die sich dadurch in ihrer Männlichkeit bedroht sehen. Sie schütten jede Menge Hass aus, wie man das mittlerweile in den Sozialen Medien schon gewohnt ist. Von echten Argumenten fehlt da jede Spur! Diese Leute haben keine Argumente, sie haben Angst davor, ihre Privilegien zu verlieren und wehren sich dagegen mit Händen und Füßen. Aber Fakt ist, dieser Spot wird über das Fernsehen in alle Haushalte übertragen und eine große Reichweite haben. Die Message lautet „It‘s only by challenging ourselves to do more, that we can get closer to our best” in Anlehnung an Gillettes Slogan “The best a man can get”. Super Sache! Jetzt kann man einwenden, das ist Kommerzialisierung und natürlich ist das ein kapitalistisches Unternehmen, das kommerzielle Werbung betreibt. Aber wenn die Debatte da ankommt, im Mainstream des Nachmittagsfernsehens, halte ich das erstmal für etwas Gutes.

Marvin: Welche Bedeutung hat Feminismus für den Kampf hin zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft?

Marina: Für den internationalen Frauen*kampftag und die feministische Bewegung ist es wichtig, dass sich die Leute solidarisch organisieren, Komitees und Kollektive bilden. Es gibt dabei kein zentrales Oben, von wo dann Anweisungen kommen, wie man diesen Kampf zu führen hat. Es ist eine dezentrale Bewegung, die sich selbst organisiert, wo Menschen diskutieren und zusammen Entscheidungen treffen. Das ist ein Lernprozess, in dem es okay ist, Fehler zu machen. Es ist international und auch nicht nur Frauen* und Frauen* gegen die Männer*, sondern alle Geschlechter zusammen, denn ein Mann* kann genauso Feminist sein und sich gegen Sexismus aussprechen und organisieren. All das sind für mich Sachen, die im Prinzip schon eine herrschaftsfreie Gesellschaft im Gedanken, in der Idee, in der Hoffnung vorwegnehmen.

Kerstin: Auch als vor allem gewaltfreie Bewegung sehe ich den Feminismus als ein Potenzial, eingefahrene und bekannte Machtstrukturen systematisch zu hinterfragen und zu verändern.

Bernd und Marvin: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Marina Minor (*1995) studiert Psychologie, Philosophie und Geschichte an der Uni Münster und ist u.a. bei der LINKEN, im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und im Frauen*streik-Bündnis aktiv. GWR-Autorin Dr. Kerstin Wilhelms-Zywocki (*1982) blickt als Literaturwissenschaftlerin aus einer analytischen Perspektive auf Debatten zum Thema Feminismus und Gender-Studies. Interviewt wurden die beiden von GWR-Praktikant Marvin Feldmann und GWR-Redakteur Bernd Drücke im Studio des Medienforums Münster. Die Radio-Graswurzelrevolution-Sendung zum Thema „Feminismus, Emanzipation und Frauen*streik“ wurde am 28. Februar und am 3. März 2019 im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt. Sie kann in der Mediathek von NRWision unter https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-frauen-streik-und-emanzipation-190226/ nachgehört werden. (1)

Anmerkungen:

1) Diese und weitere Radio-Graswurzelrevolution-Sendungen findet Ihr hier: https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/radio-graswurzelrevolution/

2) Gender Pay Gap (geschlechtsspezifischer Lohnunterschied) ist ein soziologischer Begriff, der die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Brutto-Stundenlohn von Frauen und Männern beschreibt und als prozentualer Anteil des durchschnittlichen Brutto-Stundenlohns der Männer angegeben wird.

3)Siehe: https://frauenstreik.org/ortsgruppen/

4) Das Sternchen ist ein Hilfsmittel, um auch die sogenannten ‚queeren‘ oder diversen Geschlechtsidentitäten zumindest symbolisch zu bezeichnen. Es soll verdeutlichen, dass es sich bei Geschlecht um ein Spektrum vielfältigster Geschlechtsidentitäten, Körperlichkeiten und Ausrucksweisen handelt. Die deutsche Sprache gerät dort an ihre Grenzen, wo ich nicht mehr einfach Leser und Leserin sagen kann. Hier ist die inklusive Schreibweise Leser*in hilfreich. Mit Frauen* sind demnach auch jene Personen gemeint, die über männliche Geschlechtsmerkmale verfügen und daher bei der Geburt und in entsprechenden offiziellen Dokumenten als ‚männlich‘ klassifiziert wurden und so aufgewachsen sind, sich aber als Frauen identifizieren (sogenannte Transfrauen). Zudem meint der Begriff umgekehrt Transmänner, also Personen, die sich als männlich erleben, von der Gesellschaft aber meist als weiblich gelesen werden, sowie Enbys (= engl. n. b. = non-binary), die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren. Die meisten feministischen Strömungen inkludieren diese Gruppen, außer z.B. die sogenannten Terfs (= trans exclusive radical feminists), die ausschließlich die Position von Frauen (ohne Sternchen) vertreten.

5) Siehe: Gillette-Werbung kritisiert toxische Männlichkeit – toxische Männer blamieren sich mit Reaktionen, https://www.bento.de/gefuehle/gillette-werbung-kritisiert-toxische-maennlichkeit-toxische-maenner-blamieren-sich-mit-reaktionen-a-4ad09a9b-b53f-4874-b532-1d5a6e0af292