Ab nach Palo Alto

Marcus Wiebuschs Band „kettcar“ hat eine neue EP herausgebracht

| Nicolai Hagedorn, Steven Heller, Gregor Klotz

Es dürfte im Sommer 1999 gewesen sein, als wir mit unseren WIZO-T-Shirts den Frankfurter Punk-Schuppen „The Cave“ betraten und uns beim Bier bestellen an der Theke abfällige Blicke der Stammbesetzung des Clubs zuzogen. Bald wurde gefragt, was wir mit so einer Kinderpunk-Band denn hier wollten und auf die Nachfrage, welche Band denn keine Kinderband wäre, erhielten wir die Antwort, im deutschsprachigen Raum gebe es eh nur eine ernst zu nehmende Band, und das sei But Alive – vielleicht noch Rantanplan. Als aktuelle Empfehlung wurde „Köpfer“ von Rantanplan genannt: „Und jetzt verpisst euch.“

Selbstverständlich wurden in den darau

Selbstverständlich wurden in den darauf folgenden Wochen die nämlichen Platten und CDs organisiert und was sollte man sagen? DAS war wirklich heißer Scheiß und der Mann, der offenbar die meisten Lieder für die beiden Bands schrieb, Marcus Wiebusch, zum Stichwortgeber für Diskussionen im Jugendclub und in der ersten eigenen, massiv verrauchten Bude.

Wiebuschs Sprache war voller Wut, immer auf der Suche nach pathetischen Worten für die Narben, die Kapitalismus und Staatsgewalt in den Menschen hinterließen, für die Zwänge, die auch für uns immer konkreter wurden und die Möglichkeiten radikalen Widerstandes. Wiebuschs sprachliche Bilder waren für uns so beeindruckend wie hellsichtig, seine Einsichten wurden unsere, sein Blick auf die Welt war ein wichtiger Schritt der eigenen Politisierung. Wiebuschs aktuelle Band heißt kettcar, hat Ende 2017 das Album „Wir vs. Ich“ herausgebracht und am 15. März 2019 die EP „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“, die Band ist auch wieder auf Tour.

Wiebusch hat Karriere gemacht, soviel steht fest. „Wir vs. Ich“ ist sogar im Oktober 2017 auf Platz 4 in die deutschen Charts eingestiegen. Vom ehemaligen Helden der rebellischen Jugend ist dabei naturgemäß nicht mehr viel geblieben, Texte und Sound von kettcar sind inzwischen im deutschen Wohlfühlliberalismus angekommen und es ist schon erstaunlich, wie Wiebusch frühere Einsichten verworfen und sich nunmehr offenbar darauf verlegt hat, sich in seinen Texten selbst zu widerlegen. Der Sinn dieses Manövers bleibt jedenfalls verschlossen.

Palo Alto“ etwa, der beste Song der EP, ist ein konservatives Manifest und wo wir früher stundenlang darüber diskutierten, was genau die But Alive-Texte meinten, es oft nicht einfach war, die Metaphern und Codierungen zu entschlüsseln, erzählt kettcar im Jahr 2019 allen Ernstes eine Geschichte über Leute, die vor hundert Jahren aufgrund der Digitalisierung (ein Musikkritiker, ein Plattenverkäufer, ein Bankmitarbeiter, eine Porno-Darstellerin) ihre Jobs verloren haben und sich jetzt auf den Weg nach Palo Alto, eine Stadt in Kalifornien, die als Zentrum des Silicon Valley gilt, machen, ausgerüstet mit „Benzin und Streichhölzern“, um „die Algorithmen zu zerschlagen“. Das ist natürlich alles total ironisch, im zugehörigen Video sieht man dann auch fröhliche, gut situierte, weiße, deutsche Mittelschichtler, die in Wahrheit längst irgendeinen anderen Drecksjob machen – der junge Wiebusch hätte geschossen.

Und die Geister, bzw. Kartoffeln, die man mit derartigem ruft, kommen dann natürlich auch zu den Konzerten. In der Frankfurter Batschkapp finden sich zu 40 Euro pro Ticket ausschließlich Angehörige der reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung und wettern in „Scheine in den Graben“ mit der Band über die privilegierten „Reichen“, deren Spendenquatsch als Gewissensberuhigung entlarvt wird – nein! Spätestens mit der antirassistisch gemeinten Ansage zum Republikfluchthilfesong „Sommer ‚89“ und dem darauf folgenden Mitgrölen des gut situierten, bier- und biodeutschen mittelständischen Publikums, wird uns ein wenig übel, die Melange aus Einheitspop, Versöhnungskitsch und Antikommunismus ist nicht sehr magenverträglich.

Wir hören Wiebusch in „Scheine in den Graben“ die bloß rhetorisch gemeinte Frage stellen, ob Mitgefühl und Empathie bereits „Classwar“ seien. Im Publikum weiß man zwar nicht recht, was das sein soll, Klassenkampf, auf jeden Fall ist man hier aber zumindest schon einmal auf der richtigen Seite der Volksgemeinschaft: ernst, selbstkritisch, irgendwie erwachsen geworden, mit einer Portion Zynismus und Selbstkritik über den Dingen. Hier feiert sich ein Publikum für progressive Haltungen, die so ungefährlich und eingeglättet ins Ganze sind, dass sie morgen der Bundespräsident äußern könnte. Insofern ist der EP-Titel mit der „Widersprüchlichkeit“ durchaus passend.

Trotz allem sind die Wiebusch-Songs großartige Pop-Kompositionen. Und klar ist „Palo Alto“ ein Gänsehautsong und Ohrwurm – nur hört man solche Lieder heute eben einmal an, dann ist alles klar. Gegen die Algorithmen, spendende Reiche, irgendwas mit Konsumverhalten, soso. Irgendwo singt er noch von „FDP-Underground“, und das ist dann wirklich schon fast frech (aber auch ein bisschen lustig). Auf dem berühmten Köpfer-Album hieß es allerdings auch schon prophetisch: „Und manche vergessen alles – tja, und manche eben nicht.“ Tja.

Nicolai Hagedorn (zur EP), Steven Heller und Gregor Klotz (zum Konzert)