Das Schlaraffenland als anarchistische Utopie

| Manuel D.

AnarchistInnen und auch alle anderen, die eine progressive Alternative zum Bestehenden fordern, muss es wie ein Hohn erscheinen, dass ausgerechnet die reaktionär-rechtsnationalistische AfD den Alternativbegriff in ihrem Namen trägt. So versucht diese Partei gezielt, sich und ihre Forderungen als erstrebenswerte Alternativen zum Status Quo darzustellen. Dabei probiert sie den seit jeher von links besetzten Alternativbegriff für ihre regressiven Forderungen umzudeuten. Es geht nicht mehr um ein Nach-vorne, sondern um ein Zurück-zu-Vergangenem. Eine wichtige Gegenstrategie (neben vielen anderen) sollte für uns darin bestehen, diesen regressiven Tendenzen positive anarchistische Forderungen bzw. Utopien, im Sinne von (Noch-)Nicht-Orten, die es zu realisieren gilt, entgegenzustellen.

Dabei besteht das Problem, dass diese utopischen Forderungen nicht aus dem luftleeren Raum kommen sollten und es gleichzeitig Menschen, die nicht mit dem Anarchismus vertraut sind, möglich ist, sie zu verstehen und zu teilen. Eine Möglichkeit besteht daher darin, auf allseits bekannte Geschichten zurückzugreifen und anhand dieser anarchistische Utopien zu entwickeln. Solche Geschichten sind zum Beispiel Märchen, die die meisten aus Kindheitstagen kennen und die im Falle von ‚Volksmärchen‘ außerdem schon lange weitererzählt werden.

Ein gutes Beispiel für ein Märchen, welches Anarchistisch-Utopisches beinhaltet, bietet die Geschichte vom Schlaraffenland. Es existiert in unterschiedlichen Varianten, die sich zwar auf den ersten Blick stark voneinander unterscheiden, beim näheren Betrachten jedoch wichtige Gemeinsamkeiten aufweisen. So ist etwa das ‚Märchen vom Schlauraffenland‘ [sic!] der Gebrüder Grimm eine Lügengeschichte, in der unmögliche Dinge beschrieben werden: „Da waren zwei Krähen, mähten eine Wiese, und ich sah zwei Mücken an einer Brücke bauen, und zwei Tauben zerrupften einen Wolf, zwei Kinder, die wurfen zwei Zicklein, aber zwei Frösche droschen miteinander Getreid aus“ (1). Hier taucht zwar auch bereits das Motiv des Essens auf (so wachsen z.B. heiße Fladen auf einer Linde), allerdings nicht als zentrales Element und auch nicht in der Form des Überflusses. Vielmehr geht es um die Beschreibung von Unmöglichkeiten, es wird eine „Verkehrte Welt“ (2) bzw. eine „Andere Welt“ (3) entworfen.

Dies scheint der Kern der verschiedenen Schlaraffenland-Geschichten zu sein: es geht immer um eine verkehrte Welt. So beschreiben viele Erzählungen das Schlaraffenland als ein Wunschland, so z.B. Ludwig Bechstein (4). In dieser Geschichte stehen der Überfluss an Nahrungsmitteln und das (Fr)Essen im Mittelpunkt. So seien dort „die Häuser gedeckt mit Eierfladen, und Türen und Wände sind von Lebzelten und die Balken von Schweinebraten.“ Die Vögel fliegen fertig gebraten und zubereitet durch die Luft, Käse wächst wie Stein aus dem Boden und die Fische springen den Hungrigen fertig zubereitet direkt in den Mund. Nahrungsmittel sind in dieser „eßbaren [sic!] Welt“ (5) also in Hülle und Fülle vorhanden und ebenso Kleidung. Diese wächst auf Bäumen und kann von dort direkt geerntet werden. Auch für Unterhaltung durch Spiel und Spaß ist im Schlaraffenland gesorgt. Die Grundbedürfnisse der Menschen werden im Schlaraffenland also mehr als ausreichend befriedigt, niemand muss Hunger leiden, frieren oder sich langweilen bzw. einsam sein.

Diese Aufzählung ist derer Kropotkins in ‚Die Eroberung des Brotes‘ relativ ähnlich. So sei es wichtig, allen Menschen Lebensmittel, Wohnung und Bekleidung als Grundlagen für ein gutes Leben in ausreichendem Maße bereit zu stellen. Damit tritt eine Grundhaltung zu Tage, die dem Motto ‚jedem/jeder nach seinen/ihren Bedürfnissen‘ folgt. Hier stimmt die schlaraffistische Einstellung zu den Grundbedürfnissen mit der anarchistischen Perspektive überein. Dies zeigt sich auch deutlich an der Bewertung von Arbeit und Faulheit: „Auch für die Schlafsäcke und Schlafpelze, die hier von ihrer Faulheit arm werden, daß sie Bankrott machen und betteln gehen müssen, ist jenes Land vortrefflich. Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein und jedesmal Gähnen einen Doppeltaler.“ (6)

Geld ist zwar unnütz im Schlaraffenland, aber es scheint in dieser Aussage mehr darum zu gehen, dass (harte) körperliche und geistige Arbeit grundsätzlich abgelehnt wird. Auch soll sie nicht als Maßstab für die Verteilung von Gütern dienen, wie dies etwa in kommunistischen Ansätzen oft der Fall ist („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ – Lenin und auch schon Paulus in der Bibel). Stattdessen kann jede Person frei nach Lust und Laune sich nehmen was sie möchte, ohne dafür etwas geben oder leisten zu müssen. Hier zeigt sich deutlich eine Parallele zum anarchistischen „Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue, welches er als Antwort auf das „Recht auf Arbeit“ geschrieben hat. Zwar würden wohl die meisten AnarchistInnen Arbeit nicht grundsätzlich ablehnen, sie aber doch gerne auf das notwendige Minimum reduzieren und sie außerdem nicht als Maßstab für die Güterverteilung anlegen.

Hier stoßen wir auf die interessante Frage, wie die schlaraffistische Wirtschaft denn funktioniert. Generell wird lediglich die Sphäre der Konsumption, also des Verbrauchs von Gütern thematisiert. Weder deren Produktion, noch deren Distribution (also Verteilung, z.B. Fragen der Logistik) spielen im Schlaraffenland eine Rolle. Die Güter sind einfach im Überfluss an den richtigen Stellen vorhanden und können sich von allen Menschen nach Lust und Laune genommen werden. Insofern handelt es sich um eine Form der Schenk-Ökonomie, wie sie z.B. in linken Umsonst-Läden praktiziert wird. Geschenkt wird aber von der Natur, die den Überfluss produziert. So sind es natürliche Prozesse, die automatisch ablaufen, durch die die Güter hergestellt werden. (7) Mit der Funktionsweise der Wirtschaft verbunden sind auch die Normen und Werte, welche im Schlaraffenland gelten. Wie bereits erläutert wird der Leistungsgedanke abgelehnt und stattdessen die Bedürfnisse der Einzelnen ins Zentrum gestellt. Es handelt sich eben um eine verkehrte Welt, auch in Bezug auf die sozialen Maßstäbe, die den bürgerlichen Werten entgegengesetzt sind. So ist auch die soziale Ungleichheit nicht mehr existent, da alle Menschen im Konsum gleich sind und ansonsten nichts existiert. Zwar gibt es Gold, Edelsteine etc. aber auch diese sind für alle gleichermaßen verfügbar und können damit nicht als Grundlage für Ungleichheit dienen. Insofern scheint die anarchistische Forderung „Alles für alle, und zwar umsonst!“ verwirklicht.

Nun gibt es verschiedene Einwände, die gegen eine anarchistisch-schlaraffistische Gesellschaft vorgebracht werden (8). Im Folgenden sollen zwei gewichtige Einwände dargelegt werden und ebenso Möglichkeiten, was aus einer anarchistischen Perspektive darauf entgegnet werden kann. Das erste Problem betrifft die Frage, woher die Güter, die so reichlich vorhanden sind, denn herkommen. Da im Schlaraffenland Arbeit nicht praktiziert wird, bleibe unklar, wie produziert werden kann. Einen Ausweg bietet hier die Automatisierung der Produktion. So kann die Arbeit zumindest auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Dies bedeutet aber, dass AnarchistInnen keine Technikfeindlichkeit predigen sollten wie etwa die Technologie kritischen Aktivist*innen und Hacktivist*innen der Gruppe capulcu. Natürlich sollte ebenso wenig eine blinde Technikgläubigkeit einsetzen. Stattdessen muss es um eine demokratische Aneignung und Nutzbarmachung des technischen Potentials gehen. (9) Dabei soll stets das Wohl aller Menschen, inklusive der zukünftigen, im Mittelpunkt stehen und nicht die Bereicherung Einzelner. Dies bedeutet aber, die alte Forderung nach Expropriation (Enteignung) privater Produktionsmittel zu erneuern, da sonst die Produktion niemals auf eine automatisierte ‚Gemeinwohl-Ökonomie‘ umgestellt werden wird. Der zweite Einwand bezieht sich auf das vermeintliche Problem, dass die Menschen alle zu ungebildeten, verkommenen Faulpelzen werden. Dies beschreibt etwa Wells in seiner dystopischen Erzählung ‚Die Zeitmaschine‘. Dort gibt es die Eloi, welche die Morlocken alle schwere körperliche Arbeit für sich verrichten lassen und so über die Jahrhunderte zu kindlichen, kaum überlebensfähigen Wesen werden. Ein Zustand, der aus anarchistischer Perspektive kaum erstrebenswert erscheint.

Allerdings gehen solche Faulheits-Einwände davon aus, dass die Menschen nur von außen motivierbar sind, Arbeit zu verrichten, sich zu bilden etc. Die intrinsische, also innerliche Motivation wird dabei vernachlässigt. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass Mensch nach einer 40-Stunden-Woche abends keinerlei Motivation mehr verspürt, irgendetwas zu machen, weder aus äußerlichem, noch aus innerem Antrieb heraus. Wenn jedoch die notwendige Arbeitszeit pro Person massiv gekürzt wird, entsteht freie Zeit und Energie, die im herkömmlichen Sinne wahrscheinlich nicht so produktiv genutzt wird wie momentan – das ist aber auch gar nicht nötig. Durch die bereits angesprochene Automatisierung könnte die notwendige Arbeitszeit pro Kopf massiv gesenkt werden und es würde immer noch viel zu viel produziert. Lafargue forderte bereits 1880 die Arbeitszeit massiv zu verkürzen und Keynes schrieb 1930, dass im Jahre 2030 nur noch ein Arbeitstag von drei Stunden nötig sein werde.

Welche anarchistischen Forderungen lassen sich also aus dem Märchen Schlaraffenland ableiten? Die Forderung nach Automatisierung, jedoch ganz klar gepaart mit einer massiven Arbeitszeitverkürzung und einer Ausdehnung der Freizeit und dem Engagement in dieser Zeit. Gleichzeitig müssen dafür die Produktionsmittel vergemeinschaftet werden, da die Produktion sonst immer dem Wohle Einzelner dient. Der anarchistische Demo-Spruch „Alles für alle und zwar umsonst!“ könnte also auch in „Schlaraffenland für alle!“ umgemünzt werden. Der gesellschaftliche Reichtum und der Stand der Produktionsmittel geben uns heute die einzigartige Möglichkeit, den alten Menschheitstraum vom Schlaraffenland zu verwirklichen. Nicht die technische Machbarkeit ist das Problem, sondern die gesellschaftliche Organisation.

Manuel D.

Verwendete Literatur:

1) Gebrüder Grimm (ohne Jahr), Noris Books, S. 513.

2) Richter, Dieter (1984) Schlaraffenland, Eugen Diederichs Verlag, S. 51.

3) Ebd., S. 9.

4) Bechstein, Ludwig (1942) Märchen, K.Thienemanns Verlag, ohne Seite.

5) Richter (1984), S. 30.

6) Bechstein (1942), ohne Seite.

7) Zur genaueren Beschreibung der Wirtschaft siehe Richter (1984) ab S. 36.

8) So z.B. Ulrich Busch in seinem Artikel ‚Schlaraffenland - eine linke Utopie? Kritik des Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens‘ in der UTOPIEkreativ vom 07.11.2005.

9) vgl. hierzu etwa die Positionen in dem Sammelband: Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel von Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp (Hg.) (2017)