Der 8. März in Algerien und der 10. März in Paris

Eindrücke von der Solidarität mit der algerischen gewaltfreien Massenbewegung

| Lou Marin

Der 8. März 2019 wird in die neue Geschichtsschreibung Algeriens eingehen. Die gewaltfreien Massendemonstrationen gegen die Kandidatur des seit seinem schweren Schlaganfall 2013 faktisch unzurechnungsfähigen Präsidenten Bouteflikas für eine fünfte Amtszeit hatten am 22. Februar begonnen. Bereits am 1. März gab es in jeder größeren Stadt Algeriens Massendemonstrationen, die nun von den nach mehrfach bestätigten Schätzungen über eine Million Teilnehmer*innen zählenden Demonstrationen in Algier, Oran, Tlemcen, Constantine, Annaba, Bejaia, Tizi Ouzou noch einmal übertroffen wurden, nachdem sich der Präsident in Abwesenheit und in Vertretung am 3. März noch einmal zur Kandidatur aufstellen ließ. Momentaufnahmen aus Algerien vom 8. März und von der Solidaritätsbewegung in Paris vom 10. März. (GWR-Red.)

Algier, März 2019. Die algerische Nationalfahne ist bei den Protesten gegen das Regime präsent. Foto: Wikipedia

Zu den Massendemonstrationen am 8. März hatte ein Komitee für den „Marsch der Würde“ aufgerufen und damit ausdrücken wollen, dass das FLN-Regime Algeriens ihre Bevölkerung über Jahrzehnte entwürdigt hat. Algerien sei ein reiches Ölland und schaffe trotzdem nicht genug Arbeitsplätze für ihre überdurchschnittlich junge Bevölkerung – 45% der rund 41 Millionen Einwohner*innen Algeriens sind unter 25 Jahre alt. Das Lohnniveau sei lächerlich gering. Die Pfründe würden korrupte Familienclans und Parteiklientel an der Macht einstecken. Parallelen zur Situation in Venezuela springen direkt ins Auge.

Im Vorfeld der Demos zirkulierten über die „sozialen“ Netzwerke die sogenannten „18 Gebote der Marschierer vom 8. März“. Darin wurde besonders zur Beibehaltung des bisher pazifistischen Charakters der Massenbewegung aufgerufen. Niemand will den blutigen Bürgerkrieg der Neunzigerjahre wiederholen, in dem bei den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armee und islamistischen Gruppen rund 150.000 Menschen zum Teil bestialisch umgebracht wurden. Jetzt sollten die Proteste zu einem „Tage des Festes“ gemacht werden, denn die algerische Bevölkerung hatte durch die Bewegung ihre seit Jahren lähmende Angst, auf die Straße zu gehen, abgestreift. Die 18 Gebote hatte der Dichter und Schriftsteller Lazhari Lebter formuliert. Darin war zu lesen: „Pazifistisch und ruhig werde ich marschieren; auf keine Provokation werde ich eingehen; keinen Stein werde ich werfen – und nach dem Marsch werde ich die Straße säubern.“ (1)

Der 8. März in Algerien…

In Algier konnte das nicht ganz eingehalten werden – am Ende der Massendemo kam es zu Auseinandersetzungen männlicher Jugendlicher mit der Polizei, die zunächst üblich abliefen, mit Steinwürfen einerseits, Tränengaseinsätzen und Kautschukkugeln andererseits, bis dann eine Änderung dadurch eintrat, dass ältere Erwachsene des Stadtteils, in dem sie stattfanden, die Jugendlichen aktiv davon abhielten, mit ihren Angriffen auf die Polizei weiterzumachen. Der Versuch, Lehren aus dem Bürgerkrieg zu ziehen und ein Abgleiten der Proteste in eine neuerliche Dynamik hin zur militärischen Auseinandersetzung zu vermeiden, war überall greifbar. Obwohl Hunderttausende auch in den anderen Großstädten Algeriens wie Oran oder Constantine auf die Straße gingen, wurde dort der gewaltfreie Gesamtcharakter umfassend eingehalten. Schließlich hofft die Bewegung im vielleicht noch kommenden entscheidenden Moment auch auf Massenverweigerungen polizeilicher Einsatzkräfte.

Durch den 8. März, gleichzeitig dem Internationalen Frauentag, und dem dritten Tag der Massenproteste gegen das Bouteflika-Regime kam es zu einem Zusammengehen beider Anlässe, was sich im äußerst hohen Frauenanteil bei den Massendemos ausdrückte. Eine Aktivistin, Kahina, meinte zur Korrespondentin der französischen Tageszeitung „Le Monde“: „Wir sind eine neue Generation. Die Menschen werden nie mehr den Weg der Gewalt gehen. Algerien hat sich verändert. Die Menschen wollen leben!“ (2) Im Moment drückte sie nur den Willen und die Hoffnung von Hunderttausenden aus – ob die weitere Entwicklung der Massenbewegung diese Hoffnung bestätigt, wird sich erst zeigen müssen.

Besonders phantasievoll sind in dieser jungen Bewegung die selbst gemachten Slogans, die auf individuelle Kartons geschrieben werden: Neben dem verbreiteten „Pouvoir assassin“ (Die Machthaber sind Mörder) oder dem „Bouteflika dégage“ (Bouteflika hau ab!) ist da auch schelmisch zu lesen: „Ich such noch einen Slogan, aber ‚Drecksäcke!’ wird mal stimmen!“ Oder: „Der Camembert ‚Président’ (eine Käsemarke) stinkt weniger als euer System!“ (3) Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud, der dieser Tage auch auf die Straßen Algeriens gegangen war, fasste diese Stimmung in den Witzen über das eingerahmte Portraitfoto Bouteflikas zusammen, das in den letzten Jahren statt der Person Bouteflikas in den nationalen Aufmärschen verehrt wurde:

„Es ist vielleicht das, was die Geschichte von diesem Regime in Erinnerung behalten wird: Der Ritus um das Foto von Bouteflika, ein Bilderrahmen, der den Algerier*innen vor Augen gehalten wird, damit sie ihn küssen und ihn wählen. Dieser Rahmen, das stumme Portraitfoto, mit Photoshop bis zum Exzess geglättet, wird während der nationalen Aufmärsche durch die Straßen getragen. Wir haben tatsächlich gesehen, wie die Regierung und die Funktionärshierarchie des Landes von ihren Sitzen aufsprangen, um diesem Bilderrahmen am Unabhängigkeitstag die Ehre zu erweisen. Wir haben den Innenminister gesehen, wie er den Bilderrahmen dekoriert hat. Wir haben die regierungstreue Menge gesehen, wie sie sich Ellenbogen an Ellenbogen gedrängt hat, um ein Foto zu machen – zusammen mit einem Foto! Wir haben Chefs von Nomadenstämmen gesehen, die diesem Bilderrahmen ein Pferd geschenkt haben. Wir haben gesehen, wie junge Blogger ins Gefängnis gewandert sind, weil sie sich über dieses Portraitfoto lustig gemacht haben. Diese Religion des ‚Bilderrahmens’ war die größte Verhöhnung, die schlimmste Beleidigung, das Kotzen auf uns schlechthin. Die neuen Generationen empfanden das als die eine Entwürdigung, die das Fass zum Überlaufen brachte (…). Während der Demos schrieben Jugendliche auf ihre Pappkartons: ‚Wenn wir schon von einem Bilderrahmen regiert werden, dann doch bitte den von Mona Lisa!’“ (4)

…und der 10. März in Paris, Place de la République

In Paris wird diese witzige Protestkultur auf der Solidaritätsdemo vom 10. März nahtlos fortgesetzt. Als ich auf der Place de la République durch die Reihen protestierender Algerier*innen wandere, bekomme ich zahlreiche Slogans zu hören und zu lesen, die nur im algerischen Kontext verständlich sind und wohl sonst nirgendwo auf Erden ein Protestplakat schmücken würden. So wird etwa auf einem Pappkarton gefordert:

„Für einen Präsidenten, der lebt!“ Oder: „FLN ins Museum!“

In Frankreich ist – schon durch die Kolonialgeschichte bedingt – der Migrationsanteil bei inzwischen drei Generationen eingewanderter Algerier*innen besonders hoch. Mit ca. 700.000 Menschen bilden sie mit 13% von allen Einwanderergruppen die größte. (5) Von daher sind die enthusiastische Aufnahme der Massenproteste in Algerien durch in Frankreich lebende algerische Migrant*innen und die Solidaritätsdemos nicht überraschend.

Am 10. März sehe ich von 12 Uhr mittags bis 15 Uhr die Menge zwischen der großen Mariannenstatue und der am Ende der Place de la République aufgestellten Redner*innenbühne auf ca. 10.000 anwachsen. Fast jede zweite Solidaritätsdemonstrant*in hat eine Algerienfahne umgehängt oder wedelt mit ihr – dieser ostentativ zur Schau gestellte Nationalismus verwirrt sicherlich diejenigen, die darauf bei einer regimefeindlichen Demo nicht gefasst sind. Aber wer auch nur einmal in Algerien war, weiß, wie sehr der größte Teil der Bevölkerung vom Nationalstolz durchdrungen ist. Was neben dem Fahnenmeer in Grün und Weiß mit roter Sichel und Stern dann aber positiv überrascht, sind die vielen kabylischen Flaggen, die da ungestört dazwischen gewedelt werden. Die oft von Repression und Diskriminierung betroffene kabylische Minderheit und Autonomiebewegung ist fester Bestandteil der Solidaritätsbewegung – endlich wieder mit dem arabischen Bevölkerungsanteil im Protest vereint; das ist neu. Das wahrzunehmen, den Ausdruck der „Algérianité“, des pluralistischen Algerien, ist für mich im Moment wichtiger als die Verzweiflung über diesen exzessiven Nationalismus, der selbst noch im Protest zur Schau getragen wird.

Auch hier in Paris dominiert die Freude über die wie befreiend empfundene Massenbewegung im Heimatland, drüben über dem Mittelmeer. Die Solidemo ist wie ein Fest, Lieder werden gesungen, die Mariannenstatue wird von Hunderten erklommen. Und obwohl die Polizei die Veranstalter*innen explizit dazu auffordert, die Mariannenstatue wieder zu räumen und von der Bühne dazu ebenso aufgerufen wird, bleiben Hunderte einfach drauf – und die Polizei räumt sie nicht! Da wurde mit den Gelbwesten jüngst weitaus übler umgesprungen.

Auf der Redner*innenbühne wird Musik von Souad Massi gespielt, bis eine Rednerin das „Pouvoir assassin!“ anstimmt und dann betont, dass die Organisator*innen der Solidemo völlig regierungsunabhängig sind, dass sie jüngst mehrfach die Erfahrung gemacht hätten, wie sie vom algerischen Generalkonsulat bedroht worden sind, oder ihre noch in Algerien lebenden Familienangehörigen. Mit großer Freude verkündet die Rednerin dann, dass in Algerien im Anschluss an die Massendemos vom 8. März ein Generalstreik in den Betrieben begonnen habe, der auch umfassend durchgeführt und bis jetzt ein Erfolg gewesen sei – der erste Generalstreik im Land seit der Unabhängigkeit von 1962! Der Widerstand hat nun auch eine Komponente ökonomischer Macht bekommen, eine Voraussetzung für materielle Wirkungsfähigkeit.

Wie sehr wünsche ich diesen für den Moment glücklichen Menschen doch, dass ihre in Algerien begonnene Revolution erfolgreich verlaufen wird und ihr die traumatische Entwicklung in den Bürgerkrieg hinein erspart bleiben möge, die alle als Erfahrung aus den Neunzigerjahren, aber auch des arabischen Frühlings in Syrien, Ägypten oder Libyen von 2011 noch so unmittelbar im Bewusstsein tragen.

Lou Marin

Anmerkungen:

(1): Lazhari Lebter, zit. nach Service International: „Pacifiquement et tranquillement je marcherai“, in: Le Monde, 10./11. März 2019, S. 2.

(2): Demonstrantin Kahina, zit. nach Zahra Chenaoui: „Les femmes se mobilisent en masse dans les rues“, in: Le Monde, 10./11. März 2019, S. 3.

(3): Ali Ezhar: „À Alger, une marée humaine défie le pouvoir“, in: Le Monde, 10./11. März 2019, S. 2.

(4): Kamel Daoud: „Le catalogue de nos humiliations“, in: Le Monde, 10./11. März 2019, S. 26.

(5): Mohand Khellil: „L’émigration algérienne en France au XXe siècle. Un exil planifié“, in: Zeitschrift „Hommes & migrations“, Nr. 1295, Paris 2012, S. 12-25.