Der lange Marsch der Daddel-Deutschen

Kommentar eines ziemlich alten Anarchisten

| Joseph Steinbeiß

Im Februar 2019 schreckte eine Meldung die Republik auf: Junge Menschen fielen in astronomischer Zahl durch ihre Führerscheinprüfung. In der Presse begann ein sehr erheiterndes Rätselraten über die Ursachen: Ob nicht vielleicht doch der Straßenverkehr komplizierter und anspruchsvoller geworden sei? Und einige besonders mitfühlende Seelen mutmaßten sogar, es sei schließlich schwierig, ein Fahrzeug zu kontrollieren, das beim Losfahren automatisch die Handbremse löse und ständig entnervende Piep-Geräusche von sich gebe, wenn man in Ruhe rückwärts einparken wolle.

Neugierig geworden, besuchte ich eine Bekannte, die seit über 20 Jahren als Fahrlehrerin arbeitet und alle Höhen und Tiefen ihres Gewerbes kennt. Zunächst einmal wollte ich gerne wissen, wodurch die jungen Leute denn nun fielen: die praktische oder die theoretische Prüfung? „Beides“, erhielt ich lächelnd zur Antwort. Und zwar ziemlich paritätisch, Männlein wie Weiblein, quer durch alle Klassen und Schichten. Nun war ich bisher naiver weise davon ausgegangen, dass im Grunde nie ein Mensch – außer mir – jemals durch seine theoretische Fahrprüfung gefallen sei. Was also konnte sich derart verändert haben? „Die sind es nicht mehr gewohnt, zu lernen“, erwiderte meine Bekannte. Es habe sich unter Fahrschülerinnen und Fahrschülern herumgesprochen, dass die Fragen zur theoretischen Prüfung „im Grunde Pille-Palle“ seien: „Also halten die meisten es nicht mehr für nötig, überhaupt etwas zu tun. Und heimlich die richtigen Lösungen googeln lassen wir sie in der Prüfung eben nicht.“ Für auf Bequemlichkeit, Oberflächlichkeit und Tempo konditionierte Gehirne sei ohnehin jede längere Phase der Konzentration eine unmenschliche Anstrengung, von der fehlenden Frustrationstoleranz gar nicht zu reden. Aber bei der praktischen Prüfung, da sei die Sache doch anders, fragte ich matt. „Oh ja“, sagte meine Bekannte, immer noch strahlend: „Da müssen sie eigenständig Entscheidungen treffen, und das sind sie auch nicht gewohnt“. Die Generation, die sich jetzt zur Fahrprüfung anmelde, sei genau die, die ihr ganzes Leben lang in Watte gepackt und am Händchen gehalten worden sei. Umschwirrt von Helikopter-Eltern hätten diese jungen Leute praktisch keinen Schritt alleine tun dürfen und seien als Kind allenfalls unter Polizeischutz zum Brötchen holen geschickt worden. Selbst noch in den regulären Fahrstunden, erläuterte mir meine Bekannte, sitze immer noch die Fahrlehrerin neben ihnen, korrigiere, erläutere, gebe Anweisungen und trete notfalls auf die Bremse. Das seien sie so gewohnt. Aber dieser behütete Zustand ende nun einmal schlagartig mit dem Beginn der Prüfung: „Wenn ich da auch nur die Fingerspitze ans Lenkrad lege, ist der Kuchen gegessen.“ Dieser Schock an Freiheit und Verantwortung sei zu viel für die meisten ihrer Probandinnen und Probanden.

Nun wäre es natürlich verführerisch, sich vorzustellen, der abgelebte Irrsinn der Automobilität mit all ihren albernen Subjektivierungsprozessen würde von der Oberfläche der Erde verschwinden, weil eine neue Generation von Fahrschülerinnen und Fahrschülern in ihren Prüfungen hartnäckig geradeaus fährt, wenn die Straße ‚ne Kurve macht. Und dass am Ende ausgerechnet die durchdigitalisierte und durchtechnisierte Jugend des frühen 21. Jahrhunderts wacker zu Fuß gehen müsste: der lange Marsch der Daddel-Deutschen. So einfach aber wird die Sache leider nicht werden. Denn die Zukunft einer Gesellschaft entscheidet sich in ihrer Alltagskultur, und nicht in ihren Parlamenten. In dieser Hinsicht ist das Private in der Tat ungeheuer politisch. Die Fähigkeit, zu lernen und eigenständig Entscheidungen zu treffen, ist naheliegender weise einigermaßen unverzichtbar, um ein auch nur ansatzweise freiheitliches Gemeinwesen zu organisieren. Wenn sie schwindet, schwindet auch die Hoffnung. Die Automobilität dagegen dürfte kaum gefährdet sein: Wenn Luft, Wasser oder Boden verseucht sind, sucht und bestraft man schließlich auch nicht die Verursacher, sondern erhöht die Grenzwerte. Es dürfte also nur eine Frage der Zeit sein, bis die Anforderungen in den Führerscheinprüfungen deutlich herabgesetzt werden. Oder man wartet gleich auf das sich selbst steuernde Digital-Auto und schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Man hat ja ohnehin den Eindruck, als würde die Forschung zur künstlichen Intelligenz nur deshalb so intensiv vorangetrieben, weil es mit der natürlichen rapide bergab geht. „Dummheit ist eine soziale Vernachlässigung“, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal geschrieben. Das ist zweifellos richtig. Ganz offensichtlich aber kann sie auch die Konsequenz einer dramatischen Überbehütung und Anpassung sein. Dabei kann die Wirtschaft mit Idioten viel mehr anfangen als die Politik. Ein Konsument kann im Grunde gar nicht doof genug sein. Dagegen sind Idioten für jede Politik eine Gefahr. Denn sie sind unberechenbar. Bei einem intelligenten und gebildeten Menschen lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wie er reagieren oder sich entscheiden wird. Bei einem Idioten nicht. Und auf einmal ist in den USA ein Donald Tumb gewählt, und alle intelligenten und gebildeten Kommentatoren sind fassungslos.

Gleichviel, beginnt die üble Saat aus Überbehütung und Digitalisierung nun offenbar Früchte zu tragen. Es ist durchaus bezeichnend, dass sämtliche wohlfundierten Warnrufe der letzten Jahrzehnte aus Kindergärten, Schulen und Universitäten über „Digitale Demenz“ (Manfred Spitzer) und grassierende Unselbstständigkeit bisher beharrlich ignoriert wurden. Oder sie wurden beantwortet mit politisch-wirtschaftlichen Lobby-Kampagnen, um Kindertagesstätten mit Tablets auszustatten. Kaum aber ist der Führerschein in Gefahr, ist in Deutschland das Geheule groß. Greifen Unselbstständigkeit, Ahnungslosigkeit und Verblödung aber weiter um sich, kann man sich alles Phantasieren über eine libertäre Gesellschaft schenken. Dann darf man allenfalls froh sein, nicht an der nächsten Straßenkreuzung von irgendeinem Daddel-Deutschen überfahren zu werden, dem eine mitfühlende Gesellschaft den Führerschein in ihrer Not einfach geschenkt hat. Aber das Gute ist natürlich, heute und auf alle Zeit: Was man nicht kann, das lässt sich lernen. Mit oder ohne Führerschein. Und auch, wenn‘s schwerfällt. Und, wer weiß? Vielleicht wird diese Entscheidung, lernen zu wollen, sogar zur ersten eigenständigen Entscheidung eines jungen Lebens? In diesem Sinne: Eine gute Fahrt.

Joseph Steinbeiß