Anne Niezgodka ist Mitarbeiterin des Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg. Sie hat in der Graswurzelrevolution Nr. 424 mit ihrem Artikel „Die Vermehrung der Drückeberger“ an die Geschichte der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden erinnert. Dr. Jürgen Bacia ist Mitherausgeber unter anderem von „Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten“ (1). Er hat 1985 das afas mitgegründet. Die beiden wurden im Februar 2019 von GWR-Praktikant Marvin Feldmann und GWR-Redakteur Bernd Drücke im Rahmen einer Radio Graswurzelrevolution-Sendung im Studio des Medienforums Münster interviewt. (2) Wir veröffentlichen das Gespräch in einer überarbeiteten und erweiterten Version. (GWR-Red.)
Bernd Drücke: Ihr seid seit vielen Jahren politisch aktiv und betreibt das Archiv für alternatives Schrifttum (afas) als eines der größten Archive der sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik. Was ist eure Motivation?
Jürgen Bacia: Die Motivation war in den 80er Jahren, dass wir gemerkt haben, dass die Neuen Sozialen Bewegungen – heute sagt man: zivilgesellschaftliche Gruppen, Geschichte von unten – dass also all diese Basisbewegungen, Gruppen und Initiativen keine Heimat fanden und die Materialien, die dort produziert worden sind, keinen Ort hatten, an dem sie landeten. Die traditionellen Archive haben diese Aufgabe nicht erfüllen können und so sind in den 70er Jahren bei den Frauen und vor allem in den 80er Jahren eine Reihe von unabhängigen Archiven entstanden, zum Teil regional, zum Teil themenbezogen. Wir haben in dem Zusammenhang dann gesagt „wir machen einen Archivschwerpunkt Nordrhein-Westfalen“, aber wichtig ist uns immer gewesen, auch bundesweit alle möglichen Dokumente von wichtigen Initiativen und Projekten zu sammeln.
Anne Niezgodka: Meine Motivation ist ein bisschen eine andere als die von Jürgen, weil ich jünger bin und zu einem anderen Zeitpunkt zum Projekt bzw. zum Archiv gestoßen bin. Während der Arbeitssuche bin ich zufällig darauf aufmerksam gemacht worden, dass im afas eine Mitarbeiterin gesucht wird. Ich habe mich immer für Bewegungen und linke Themen interessiert. Trotzdem kannte ich das Prinzip „Freies Archiv“ überhaupt nicht und habe erst mit der Zeit durch die Arbeit im afas gemerkt, wie wichtig es ist, dass es so eine Einrichtung gibt, wo Materialien unabhängiger Gruppierungen aufbewahrt werden.
Marvin Feldmann: Das afas gibt es schon eine Weile. Im Jahr 2015 habt ihr 30 Jahre Jubiläum gefeiert. Erzählt uns doch mal etwas über die Geschichte. Wie ist das Archiv entstanden? Welche Veränderung gab es in den Jahren? Welches Ziel verfolgt ihr mit eurer Arbeit?
Jürgen: Entstanden sind wir, weil es Defizite gab bei den Freien Archiven. Ich selber bin vom Archivwesen angefixt worden, als ich während des Studiums in Berlin an der Freien Universität im APO-Archiv der FU gearbeitet habe.
Wir hatten da eigentlich vor, ein bundesweites Bewegungsarchiv aufzubauen. Das ist aber in universitären Strukturen nicht möglich, vor allem nicht über Berlin hinaus, da sind die nicht für zuständig. Dann haben wir in dem Zusammenhang gesagt „wir machen es eben selbst“ und es sind eine ganze Reihe von Archiven entstanden, die dann in den verschiedenen Bereichen gesammelt haben. Das Gute bei uns war, dass wir schon durch die Arbeit im APO-Archiv und durch eine Kollegin, die das afas mitgegründet hat und Bibliothekarin war, wussten, um was es geht. Das heißt, wir haben uns relativ viele Gedanken gemacht um eine Struktur, „wie macht man eine Aufstellungssystematik?“ und so weiter. Die haben wir jetzt gerade etwas vereinfacht, aber im Prinzip funktioniert sie bis heute. Wir haben anfangs lange überlegt, aber es hat sich ausgezahlt. Dann sind wir losgefahren wie die Verrückten, haben alle Projekte abgeklappert und gesagt, „wir wollen einen einigermaßen repräsentativen Querschnitt aus dem, was in den ganzen Bewegungen passiert ist, sammeln“. Wie gesagt, erst in Nordrhein-Westfalen, aber als wir bekannter wurden, haben wir dann zunehmend bundesweit wichtige Sachen übernommen und bekommen. Das ist wie so ein Puzzlespiel, du fährst irgendwo in ein Asta-Büro, in ein Antifa-Referat oder zu einem Frauenprojekt, in einen linken Buchladen, in eine Zeitungsredaktion oder in irgendwelche GRÜNEN-Büros anfangs, die waren ja in den 80er Jahren noch relativ frisch. Und fragst dann: „Was gab‘s eigentlich hier? Wo sind die Sachen? Wen gibt es von den Leuten noch? Wo wohnt der? Wie kommt man an den ran?“ So haben wir angefangen, diese Sammlung aufzubauen.
Anne: Ich würde sagen, dass sich in den letzten Jahrzehnten auch verändert hat, dass das afas immer professioneller geworden ist. Wir arbeiten zum Beispiel mit einer Archiv-Software und halten uns an archivarische Standards. Mit den Jahren und Jahrzehnten immer deutlicher wurde außerdem, dass es eine schlichte Notwendigkeit gibt, dass das afas existiert. Anfangs wurden eher einzelne Projekte angesprochen, Zeitschriftenabos eingefangen, Broschüren und Flugblätter gesammelt, und später, so ab Ende der 90er Jahre, wurden vermehrt richtig riesige Sammlungen, also Nachlässe und Vorlässe von verstorbenen Aktivistinnen und Aktivisten, aufgenommen. Oder wenn eine Gruppe beispielsweise aufgehört hat zu arbeiten, weil das politische Thema nicht mehr so auf der Agenda stand, wurden ganze Organisationsbüros aufgelöst. Solche hat das afas dann auch übernommen. Die Materialarten sind mit der Zeit also auch ganz andere geworden.
Jürgen: Wir haben anfangs hauptsächlich Zeitschriften gesammelt, die im selbstorganisierten Bereich publiziert worden sind, Flugblätter natürlich auch, aber dann haben wir irgendwann gemerkt, Plakate sind wichtig, Buttons sind wichtig, Flyer, Sticker, Transparente, soweit man noch drankommen kann – und natürlich das eigentliche Archivgut, also interne Protokolle von Gruppen, Rundbriefe, Vorstandsunterlagen, Rechenschaftsberichte, Korrespondenzen etc. Dadurch haben wir inzwischen ein breites Spektrum an Materialien.
Marvin: Wer nutzt das afas heute primär? Wer kommt zu euch? Wie ist euer Verhältnis zu sozialen Bewegungen, also: welche Funktion nimmt so ein Archiv für soziale Bewegungen heute ein?
Anne: Zunächst zu den Nutzungsgruppen: Es sind meistens in unserem Archiv Leute, die in irgendeiner Form an der Uni arbeiten, als Student*in oder Dozent*in oder das Archiv zu anderen wissenschaftlichen Zwecken nutzen. Leute, die z.B. an einer Dissertation schreiben sind manchmal ein, zwei Wochen oder übers Jahr verteilt mehrmals da und arbeiten sich richtig in die Materialien ein.
Was tatsächlich bisher weniger der Fall ist, ist dass politische Gruppierungen selbst das Archiv aufsuchen, um Input zu bekommen für die eigene politische Praxis. Das ist in einigen anderen Freien Archiven anders. Allerdings kommen politische Gruppen oder ehemals Aktive oft, um sich das Archiv einfach anzugucken. Aber dass sie die Mühe aufwenden, sich hinzusetzen und selber zu recherchieren zu den Themen, die sie interessieren, das passiert selten. Trotzdem sehen wir unsere Funktion auch – das ist ein großes Wort, aber trotzdem – als Gedächtnis von diesen Bewegungen. Selbst wenn sie dieses Gedächtnis selber oft nicht nutzen.
Jürgen: Bewegungen heißen ja Bewegungen, weil sie sich bewegen und weil sie irgendwann nicht mehr das sind, was sie mal waren. Da fängt genau das Problem an: Was passiert denn mit den Sachen, wenn eine Bürgerinitiative sich auflöst, eine Stadtteilgruppe aufhört, ein politisches Projekt aufhört oder ein besetztes Haus kaputtgeht oder aufgegeben wird? Wo landen die Materialien? Da ist es dann wichtig, dass man Orte schafft, die sich darum kümmern, solche Materialien zu bewahren.
Anne: Es ist natürlich so, dass wir uns als Gedächtnisort für die Bewegung sehen, aber auch als Ort für die Forschung. Das afas ist beides.
Jürgen: Man sollte vielleicht mal sagen, damit man sich eine Vorstellung machen kann, um was es geht, also in welchem Themenspektrum sich das abspielt. Wir haben Ende der 90er Jahre das komplette Archiv der Anti-Apartheid-Bewegung übernommen. Wir sind gerade dabei, oder haben gerade übernommen, das Archiv des BBU (Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz), das es seit den 70er Jahren gibt. Wir haben aus einem Keller aus dem Großraum Frankfurt das Archiv der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden übernommen. So kommen große Sammlungen zu wichtigen Themen zu uns. Aus der Friedensbewegung haben wir relativ viele Materialien, vom Bundeskongress Entwicklungspolitischer Aktionsgruppen auch. Wir haben viele interessante Frauenmaterialien – in Bonn hat es z.B. mal eine alternative Presseagentur in Frauenkreisen, die Initiative Frauen-Presse-Agentur, gegeben. Die hat 20 Jahre lang gearbeitet und sie hatten auch aktive Frauen im Bonner Raum. Die haben uns, als sie aufgehört haben, das komplette Archiv überlassen. Inzwischen umfasst unser Bestand rund zwei Regalkilometer – und das ist einfach ein großer Fundus an Materialien, die eben auch für Leute, die sich ernsthafter und tiefer mit Inhalten beschäftigen wollen, interessant sind. Und dann kommen sowohl einzelne Leute, die ihre Dissertation oder ihre Masterarbeit schreiben, aber es kommen auch Wissenschaftler*innen aus dem Institut für Zeitgeschichte, auch aus Brüssel von der Uni arbeitet zurzeit jemand öfters bei uns. Das sind ernst zu nehmende Materialien, die wir haben, die für die zeitgeschichtliche Forschung von enormer Bedeutung sind.
Marvin: Viele politische Gruppen oder Bewegungen nutzen heute vermehrt das Internet, soziale Medien oder Blogs als Output, um Sachen zu veröffentlichen. Hat das Auswirkungen auf die Arbeit als Archiv? Wird weniger Material gesammelt oder eingesendet? Ist das ein Problem für euch, wenn es darum geht, Geschichte zu bewahren?
Anne: Ja, das ist für uns ein unangenehmes Thema, weil mit der Digitalisierung alle Archive – also nicht nur wir Freien Archive – große Probleme haben. Du hast angesprochen, dass heute etwa Aktionsaufrufe vornehmlich auf Facebook oder auf irgendwelchen Blogs laufen. Das ist einerseits ein Problem, weil wir als Archiv oft gar nicht so aktuell arbeiten können, dass wir das registrieren und direkt abspeichern. Außerdem kann in Bezug auf die rechtlichen Dimensionen vieles nicht bis ins letzte Detail geklärt werden, etwa ob man die Sachen überhaupt abspeichern darf, auch wegen Urheberrechten. Eine andere große Frage ist, was Archive mit einmal abgespeicherten Dokumenten machen. Nur, weil etwas abgespeichert ist, heißt es noch nicht, dass die Sachen langzeitarchiviert sind. Da werden auf jeden Fall Zeiten kommen, wo die Leute in die Archive gehen und über unsere Zeit Quellen haben möchten und dann möglicherweise feststellen werden, dass es nur sehr wenige gibt.
Jürgen: Digitalisierung ist lange als Chance gesehen worden, weil es Platz spart, weil es an allen möglichen Rechnern zugänglich ist und so weiter. Viele sind anfangs begeistert auf Digitalisierung eingestiegen, inzwischen merkt man aber, dass auch Digitalisierung ihre Folgekosten hat. Bei der Schnelllebigkeit der Software musst du ständig updaten und alle, die sich mit Digitalisierungsarchivierung beschäftigen, sind im Prinzip in Geiselhaft der Softwareindustrie. Weil alle paar Jahre, spätestens wenn was Neues kommt, müssen sie teure Software kaufen. Das ist ein Kostenfaktor, der unter Umständen nicht viel geringer ist als wenn du Papier aufhebst. Und das andere ist: einerseits sollte man digitalisieren, damit die Dokumente leichter zugänglich sind, gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass man die Papierdokumente dann trotzdem aufhebt, weil es einen Ort geben muss, wo auch die Originale vorhanden sein sollten. Für uns ist es jenseits der Digitalisierung immer noch so, dass wir retrospektiv so viel in dem anderen Bereich fischen, also noch so viele Papierunterlagen unterwegs sind, dass wir da im Grunde genommen fast mit ausgelastet sind. Wir haben allerdings einen ziemlichen Pool von Newslettern elektronischer Art, die wir auch abonniert haben und die wir dann speichern, aber mehr passiert mit denen erstmal noch nicht.
Marvin: Ihr seid ja bewusst ein Freies Archiv. Könnt ihr kurz beschreiben, was das bedeutet? Welche Vorteile ergeben sich dadurch für eure Arbeit?
Anne: Frei heißt zunächst eigentlich nur, dass wir unabhängig arbeiten. Das heißt, wir sind nicht angegliedert an irgendeine andere Institution oder an eine Universitäts-Einrichtung. Basis bei uns ist ein gemeinnütziger Trägerverein und somit können wir selbst darüber entscheiden, was wir für ein Sammelprofil haben, wie wir unsere Arbeit strukturieren, was wir aufbewahren. Das hat dann den Vorteil, dass wir relativ selbstbestimmt arbeiten können. Für andere Freie Archive bedeutet „frei“ außerdem, dass sie das Archiv nur über Spenden und unbezahlte Arbeit aufrecht erhalten und keine Gelder von städtischer oder staatlicher Seite in Anspruch nehmen.
Marvin: Ihr habt ja vorhin schon von eurem riesigen Bestand im Archiv in Duisburg erzählt. Gibt es ein Lieblingsfundstück, das euch in den letzten Jahren in die Hände gefallen ist?
Anne: Ja, das passiert immer wieder, dass ich in den Sammlungen dann Sachen finde, die total spannend sind – wir haben übrigens das Fundstück des Monats, das kann man sich immer auf unserer Website angucken. Ich habe eine Lieblingssammlung und das ist der Bestand „Gruppe Internationale Marxisten“, den ich vor ein paar Jahren erschlossen habe. Die Sammlung fand ich unheimlich interessant, weil sich das natürlich in einem Zeitraum abspielt, den ich selbst nicht live miterlebt habe. Die „Gruppe Internationale Marxisten“, die GIM, hat sich Ende der 60er Jahre gegründet und dann bis 86 gearbeitet. In der Sammlung finden sich viele Protokolle, Korrespondenzen, handschriftliche Notizen und so weiter, so dass man richtig einsteigen kann in die Gedankenwelt dieser politisierten jungen Menschen, die ihren ganzen Alltag der Idee einer Revolution gewidmet haben.
Jürgen: Die Trotzkisten sind natürlich auch deshalb so interessant, weil sie sich wie keine andere Gruppe endlos aufgespalten haben und du ziemlich viel zu tun hast herauszukriegen, wer gerade wo ist und welche Position er vertritt und wie das weiter geht und wer sich wann mit wem wieder zusammengetan hat. Ich habe in dem Sinne kein Lieblingsfundstück, ich habe so viel Zeug zusammengetragen im Laufe der Jahrzehnte, davon ist mir vieles ans Herz gewachsen. Da jetzt eins herauszupicken, das kann ich irgendwie nicht.
Bernd: Im Jahr 2011 wurde eines der größten Archive aus den sozialen Bewegungen, das Münsteraner Umweltzentrum-Archiv, mit vielen auch anarchistischen Medien, dem afas angegliedert. (3) Was gibt es in euren Beständen an Materialien, die den Leser*innen der Graswurzelrevolution und anderen Menschen auf der Suche nach libertär-sozialistischer Inspiration besonders gut gefallen könnten?
Anne: Generell gibt es in unseren Zeitschriften- und Broschürenbeständen viel über Anarchismus und Syndikalismus. Dann haben wir natürlich Zeitschriften wie die Direkte Aktion, den Schwarzer Faden oder – seit der ersten Nummer 1972 – die Graswurzelrevolution. Und grundsätzlich sind in unseren Beständen viele Gruppierungen vertreten, die alternative Lebenskonzepte ausprobiert oder sich im Kleinen wie im Großen für eine „andere“ und bessere Welt eingesetzt haben, sei es aus feministischer, sozialistischer oder antikapitalistischer Motivation heraus.
Jürgen: Die vielen kleinen Blätter der Sponti- und Alternativbewegung der 1970er und frühen 1980er Jahre. Wer kennt heute eigentlich noch Zeitschriften wie Hundert Blumen, Bambule, Befreiung, Schwarze Protokolle, Der lange Marsch, Wir wollen alles, Autonomie, Carlo Sponti, Das Ruhrgebiets-Info, Das Projektil, Unfassba, trafik, den Schwarzen Gockler oder agitare bene? In unserem Zeitschriftenkatalog, der auf unserer Homepage auch online zugänglich ist, finden sich Dutzende solcher Blätter. Manche sind nur ein paarmal erschienen, andere über viele Jahre. Man findet darin sicherlich viele Ideen und Versuche, die auch heute noch interessant sind, aber auch Konzepte und Vorstellungen, an denen man mit etwas zeitlichem Abstand durchaus seine Zweifel haben kann.
Bernd: Das afas hat in letzter Zeit für Aufsehen gesorgt. In der Graswurzelrevolution wurde darüber berichtet (4), aber auch im WDR, im Deutschlandfunk und in überregionalen Zeitungen. Der Grund war die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, also CDU und FDP, die dem afas praktisch die Gelder streichen wollte. Was hat sich da jetzt getan? Wie hat sich das weiter entwickelt?
Jürgen: Wir waren selbst erschrocken und überrascht, dass das passiert ist, weil wir nach vielen Jahren der Bemühungen und Auseinandersetzungen geglaubt haben, an einem Punkt zu sein, dass die Landesregierung auch über die einzelnen Parteien hinaus, also der Landtag insgesamt, bereit ist, ein Archiv wie unseres zu fördern, weil wir eine wichtige Lücke in der deutschen Archivlandschaft schließen. In vielen gemeinsamen Gesprächen ist beschlossen worden, dass wir umziehen. Wir haben schöne Räumlichkeiten in der Duisburger Innenstadt gefunden, mit großen Rollregalen, und waren glücklich. Auch die CDU/FDP-Landesregierung hat den Haushalt im vorigen Jahr, also 2018, durchgewunken und wir waren deshalb völlig überrascht, dass es offensichtlich Kreise in den beiden Regierungsparteien gibt, die nicht genau wissen, wer wir sind oder was wir machen und die das Bedürfnis hatten, uns den Geldhahn zuzudrehen, ohne mit dem zuständigen Ministerium, dem Kulturausschuss des Landtags oder mit uns zu sprechen. Jedenfalls gibt es diesen Beschluss, uns die Mittel zu streichen. Das hat dann viel öffentliches Aufsehen erregt.
In dieser bedrohlichen Situation war es wichtig, dass wir sehr gut vernetzt sind und dass wir auch im traditionellen Archivwesen viel Unterstützung haben. Es hat einen offenen Brief des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare an alle Landtagspolitiker*innen gegeben, der auch von ziemlich viel Prominenz unterschrieben worden ist, unter anderem vom Präsidenten des Bundesarchivs und vom Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, der Historiker ist und uns seit vielen Jahren kennt. Wir hoffen, dass die Politik nochmal bereit ist, sich genauer anzugucken, was wir für ein Laden sind, um zu sehen, dass so ein Beschluss im Prinzip kontraproduktiv ist.
Bernd: Welche Perspektive Freier Archive seht ihr? Wie ist das afas da aufgestellt?
Jürgen: Es gibt zwei große Netze von Freien Archiven. Das eine ist der i.d.a-Dachverband der Frauen- und Lesbenarchive und das andere ist der Workshop der Archive von unten, wo auch Frauenarchive mitarbeiten. Die treffen sich einmal jährlich, machen einen Erfahrungsaustausch und klagen sich untereinander auch ein bisschen ihr Leid. Es gibt immer wieder Situationen, wo Archive nicht mehr weiterkönnen und aufhören müssen. Dann muss diskutiert werden, was landet wo und wie geht man damit um. Dafür gibt es diese beiden Kreise. Wir gehen davon aus, dass Bewegungen immer Archive hervorbringen werden. Wir gehen genauso davon aus, dass diese Archive irgendwann auch vor der grundsätzlichen Frage stehen „machen wir weiter oder gliedern wir uns irgendwo an?“. Es gibt rund fünfzehn große Freie Archive in der Bundesrepublik. Eines davon ist das afas. Diese größeren Archive haben, glaube ich, auch längerfristig eine Perspektive.
Bei den anderen muss man sehen, auch von den kleineren gibt es welche, die schon 20, 25 Jahre existieren. Es ist einfach wichtig, dass es Freie Archive gibt, weil die traditionellen Archive zumeist keinen Zugang zu bestimmten Milieus und Bewegungen haben und weil in ihrem Sammelauftrag oft gar nicht drinsteht, dass sie sich um diese Materialien kümmern müssen.
Marvin und Bernd: Wir danken euch für das Gespräch.
Anmerkungen:
1) Cornelia Wenzel, Jürgen Bacia (Hg.): Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2013, ISBN: 9783943774184
2) Die Radio-Graswurzelrevolution-Sendung wurde am 15. März 2019 im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt. Sie ist vollständig dokumentiert auf: https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/radio-graswurzelrevolution/
3) Siehe: www.linksnet.de/artikel/28274
4) Siehe Editorial in GWR 435, Januar 2019, https://www.graswurzel.net/gwr/2018/12/bewegungsgedaechtnis/
Kontakt:
Archiv für alternatives Schrifttum (afas), Münzstraße 37-43, 47051 Duisburg. Tel.: 0203/935543 -00, Fax: -02, E-Mail: afas-archiv@t-online.de, http://afas-archiv.de/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.