Transnationales

„Grandiose Gewaltfreiheit“

Algerien am 11. März 2019: Bouteflika gibt auf und lässt die Wahlen verschieben. Skizze eines grotesken Militärregimes

| Lou Marin

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Algerien. Staatliche Werbung für den (mittlerweile abgesagten) Präsidentschaftswahltag am 18. April. Foto: Wikipedia

Am Abend des 11. März 2019 hat der soeben von einer weiteren Krankenhausbehandlung in Genf nach Algerien zurückgekehrte Präsident Abdelaziz Bouteflika – oder wie auch immer diejenigen, die in seinem Namen sprechen oder Briefe schreiben – auf die Präsidentschaftskandidatur am 18. April verzichtet. Die Wahlen, die auf den 18. April angesetzt waren, wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Ein erster Erfolg für die gewaltfreie Massenbewegung. (GWR-Red.)

Doch Bouteflika gab in seinem Abdankungsschreiben auch bekannt, er habe nie vorgehabt, erneut für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren. Diese offizielle Verlautbarung vom 11. März zeigt die gesamte Groteske dieses Regimes auf – denn noch am 3. März hatte er sich gegen die entstehende Massenbewegung trotzdem als Kandidat eintragen lassen. Und nun soll alles nicht so gemeint gewesen sein? Dümmer geht’s nümmer. Das Chaos dieser Erklärungen zeigt aber, was diese gewaltfreie Massenbewegung bewirkt hat und wie schwer sich das Regime tut, sich überhaupt noch selbst zu legitimieren.

Aber der Reihe nach: Algeriens Präsident Bouteflika wurde von vielen Beobachter*innen und Journalist*innen, zuletzt im März 2019 von der Schweizer Zeitung „Tribune de Genève“, beschrieben als „beständig davon bedroht, seine Lebensfunktionen zu verlieren“ aufgrund einer „systemischen Beeinträchtigung seiner körperlichen Reflexe“ (1) – ein Halbtoter also, und dies seit seinem doppelten Schlaganfall 2013, also seit sechs Jahren schon. Seine neuerlich geplante fünfte Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen kam, so die allgemeine Einschätzung, nur deshalb zustande, weil sich die reichen, abgehobenen Eliten des Landes auf keinen Nachfolger untereinander einigen konnten.

Der Unabhängigkeitskrieg 1954 bis 1962: Primat des Militärischen über das Politische

Die Struktur des unabhängigen Algerien muss real als permanente geheime Diktatur eines Klientelbündnisses von einer Partei, des FLN (Front de libération nationale; die siegreiche, bei weitem nicht die einzige Organisation der historischen Unabhängigkeitsbewegung 1954-1962) und wechselnder Fraktionen des Militärs bezeichnet werden. Diese Struktur ist noch immer das Ergebnis der militärischen Form und Dynamik des antikolonialen Krieges.

Der Krieg kann in zwei Phasen aufgeteilt werden. Erstens: 1954 war der FLN eine bewaffnete Untergrundbewegung von ein paar wenigen Hundert Kämpfern, die mit dem bewaffneten Losschlagen der damaligen antikolonialen Massenorganisation, den sogenannten „Messalisten“ unter dem gewählten Vorsitzenden Messali Hadj, die damals mehrere Zehntausend aktive Mitglieder hatte und sogar streikfähig war, den Rang ablief. Innerhalb des antikolonialen Befreiungskampfes kam es von 1954 bis 1958 deshalb zu einem sogenannten „Krieg im Krieg“ des messalistischen MNA (Mouvement Nord-Africaine; Nordafrikanische Bewegung, später: Mouvement national algérien; Algerische Nationalbewegung) mit dem FLN. Vor allem nach zwei großen Massakern in messalistischen Dörfern 1957, den Massakern von Melouza und Tifraten, war die MNA in diesem inneralgerischen Krieg von der FLN, die von Nassers Ägypten Waffen bekam, besiegt worden. Doch der FLN hatte eine autoritäre Struktur angenommen und führte strategische Kämpfe nun auch im eigenen Innern bewaffnet durch.

Deshalb zweite Phase: Ende 1957, nach der verloren gegangenen „Schlacht um Algier“ gegen die Kolonialtruppen Frankreichs, wurde Abbane Ramdane als strategisch prägende Person des politischen Flügels der FLN, der sich zwar bei der Niederschlagung des Messalismus aktiv beteiligt hatte, dann aber eher Streikstrategien propagierte, ermordet. So schreibt Bernhard Schmid: Solche Krisenperioden sind günstig, um offene Rechnungen zu begleichen. Die ‚Militärs’ im Apparat des FLN können sich nun endlich des lästigen ‚Politikers’ Abbane Ramdane, entledigen. Am 27. Dezember 1957 wird er in Marokko in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. (…) Der militärische Arm dominiert über den politischen.“ (2) Das war die damals und noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts typische Ausdrucksweise für nationale bewaffnete Befreiungsbewegungen weltweit, sei es in der FLN, oder im portugiesisch-kolonialen Afrika (MPLA) oder in Lateinamerika (FMLN; FSLN). Nur war in diesen Organisationen der bewaffnete Flügel fast immer dem politischen Flügel innerhalb der Partei untergeordnet (Primat des Politischen). Seit 1958 war es in Algerien andersherum, dort gab es vom Mord an Ramdane an bis heute das „Primat des Militärischen“.

Bouteflika: Vom Protégé Boumediennes zur eigenen Clan-Seilschaft

Während des Befreiungskrieges war Abdelaziz Bouteflika von der FLN abkommandiert, um an der eher unbedeutenden Südfront Algeriens zu operieren. Nach der Unabhängigkeit verdankte er seine Karriere dem Militärchef und Präsidenten Boumedienne bis zu dessen Tod 1978. 1981 wurde Bouteflika aufgrund der Veruntreuung von Devisen während seiner Zeit in Boumediennes Außenministerium von 1965 bis 1978 juristisch verurteilt und für 18 Jahre aus den Machtzentren verstoßen, was bei ihm, so heutige Beobachter wie Kamel Daoud, einen jähzornigen, egozentrischen und cholerischen Charakter formte. (3)

Bouteflika verdankte es einem Zufall, dass er 1999 rehabilitiert und als Präsident an die Spitze des Staates gestellt wurde. Die mörderischen Neunzigerjahre in Algerien waren vom Militär geprägt, die 1992 den demokratischen Wahlgang gegen die islamistische Partei FIS (Islamische Rettungsfront) abgebrochen und geputscht hatten. Diese Militärs waren unter dem Namen „Januaristen“ bekannt, weil der Putsch im Januar 1992 durchgeführt wurde. Die Januaristen glaubten zunächst, schnell den militärischen Sieg gegen die islamistischen Gruppen erringen zu können, waren jedoch Ende der Neunzigerjahre nach einem blutigen Jahrzehnt mit 150.000 Toten noch immer nicht erfolgreich. So verstärkte eine andere Fraktion des Militärs unter General Ahmed Gaïd Salah (heute 79 Jahre alt) den Druck auf den geheimen Militärrat, wieder einen zivilen Politiker als Gallionsfigur an die Spitze des Staates zu stellen und den Bürgerkrieg durch eine offizielle Amnestie zu beenden, die dann sowohl für die Bluttaten der Militärs als auch für die islamistischen Gruppen gelten sollte. Der zivile Politiker sollte dem Regime die bitter nötige internationale Anerkennung verschaffen. Bouteflika wurde aufgrund dieser strategischen Motivlage 1999 erstmals Präsident. Mit General Salah als Militärchef seit 2004 an seiner Seite baute Bouteflika Stück für Stück seine eigene Klientel aus, die ihm die ständige Wiederwahl ermöglichen sollte.

Dazu gehörte vor allem Abdelaziz Bouteflikas jüngerer Bruder Saïd Bouteflika, im Volksmund „Vizekönig“ genannt, der nach dem Schlaganfall ständig den Rollstuhl Bouteflikas umher schob. Im Nebelfeld dieser Machtstruktur Algeriens wurde Saïd Bouteflika zur für alle Politikfelder zuständigen Eminenz, vor allem je schwächer Abdelaziz selbst wurde. Weitere persönliche Freunde, die Abdelaziz noch in den Jahren seiner zurechnungsfähigen Regierungsarbeit bis 2013 an seine Seite holte, waren der Unternehmer-Oligarch Ali Haddad, ein Baulöwe und Chef des algerischen Unternehmerverbandes; dann der Gewerkschaftsführer Abdelmajid Sidi-Saïd an der Spitze der Staatsgewerkschaft UGTA, die schon im Unabhängigkeitskrieg individuelle Attentate gegen messalistische Gewerkschafter*innen der damaligen USTA durchführte; und der gegenwärtige Premierminister Ahmed Ouyahia, der sich selbst definiert als derjenige, der die „Drecksarbeit“ des Regimes durchführt und etwa mitten im Bürgerkrieg einen Kredit des Internationalen Währungsfonds aufnahm – mit all den zugehörigen neoliberalen Bedingungen. Ouyahia hat übrigens nun direkt nach dem Rückzug Bouteflikas für eine fünfte Amtszeit ebenfalls seinen Rücktritt angekündigt. (4)

Der Optimismus von Yasmina Khadra und die Skepsis von Boualem Sansal

Mit dieser Seilschaft kontrolliert der Bouteflika-Militärclan bis heute Algerien. Andere Machtfaktoren, wie etwa Geheimdienstchef Mohamed Lamine Mediène, genannt „Toufik“, wurde mit dessen Clan im September 2015 ausgeschaltet. (5) Die Pfründe der Ölexportwirtschaft wird von dieser Elite eingesackt. Man könnte sagen, dass zu Anfang von Bouteflikas Amtszeit noch ein paar Tropfen der Ölrente an eine gewisse Mittelschickt nach unten gesickert sind, weil der Weltmarkt-Ölpreis damals bei ca. 100 Dollar pro Barrel lag. Etwa ab 2010 ist der Ölpreis jedoch stark gefallen; aufgrund der Mono-Ausrichtung der Wirtschaft Algeriens müssen heute sogar Grundnahrungsmittel wie Brot eingeführt werden und der algerische Staat ist stark verschuldet. Was eingenommen wird, geht nun ausschließlich noch an die Reichen-Klientel. Besonders die Korruption hat sich in Algerien seit Bouteflikas Amtsantritt exorbitant entwickelt.

Der kritische und gewaltfreie Schriftsteller Boualem Sansal schreibt in seiner aktuellen Einschätzung angesichts der Massenproteste: Diese fünfte Kandidatur ist eine Entwürdigung zuviel. (…) Das reiche Algerien könnte womöglich sogar noch eine Hungersnot erleben und eine Fluchtbewegung großen Ausmaßes. (…) Die Macht hat der Bevölkerung alle denkbaren Leiden, alle Entwürdigungen, alle Ungerechtigkeiten abverlangt. Seit der Unabhängigkeit hat sie ihr alles genommen, ihre Güter, ihre Geschichte, ihre Freiheit, sogar ihre Träume. Es gibt in Algerien weder eine Politik noch eine Ökonomie, es gibt eine Rente auf den Abbau von Bodenschätzen, die von Jahr zu Jahr geringer wird und nur noch einer unersättlichen Mafia zufließt, die zu allem bereit ist.“ (6)

Entscheidend wird sein, wie die Armee im weiteren Verlauf der Bewegung reagiert. Da stehen sich optimistische Einschätzungen und pessimistische Befürchtungen gegenüber. Der bekannte Schriftsteller Yasmina Khadra (der Frauenname ist ein Pseudonym) ist selbst Ex-Offizier der Armee und meint optimistisch: Was die Militärhierarchie anbetrifft: Der oberste Befehlshaber der Armee [das ist immer noch General Ahmed Gaïd Salah; d.A.] und sein Umfeld wollen das Regime aufrecht erhalten. Aber der Rest der Armee wird sich nicht dem Volkswillen widersetzen. Eine große Mehrheit der Offiziere, der Unteroffiziere und der Truppen werden nicht widernatürlichen Befehlen gehorchen und könnten sich sogar der Bewegung anschließen, wenn man ihnen befiehlt, in die Menge zu schießen.“ (7)

Das sieht Boualem Sansal pessimistischer und sieht sein Land in einer Zwangslage zwischen zwei totalitären Systemen, dem Militärregime und den islamistischen Gruppen: Es ist zu früh, um zu sagen, welche Form die Bewegung schließlich annehmen wird. Man wird es bis zum 18. April wissen. Wenn Bouteflika gewählt wird, dann gibt es erst eine Explosion, dann Repression und das Kriegsrecht. Wir schlittern dann ins Unbekannte, in die Eiszeit, das Zerbrechen des Landes, das Überborden der Islamisten. Viele könnten dann aus Algerien fliehen. Vielleicht wird das Schlimmste noch kommen. Aber noch habe ich Hoffnung, dass die Demonstrant*innen den Sturz des Regimes bewirken und mit den Folgen umzugehen wissen.“ (8)

Am 12. März empfahl der Politikwissenschaftler Rachid Ouaissa den Menschen auf den Straßen Algeriens: „Die Friedfertigkeit aufrechterhalten! Das schützt sie vor dem Regime. Die Gewaltfreiheit ist das Grandiose an den Protesten. Das Volk hat bewiesen, dass es reif ist und politisch denkt. Zweitens müssen die Leute sich organisieren und eine Gruppe von Personen delegieren, die in ihrem Namen spricht. Jetzt, da das Regime mit einem Plan gekommen ist, braucht es einen Gegenplan. Dann kann verhandelt werden. Eine Transition ist kein Prozess, sondern ein Momentum, ein Pakt. Der muss jetzt geschlossen werden – und zwar nicht nach Regeln, die das Regime diktiert. Die Straße muss auch was zu sagen haben.“ (9)

Nun, der 18. April und die Explosion aufgrund einer Wiederwahl Bouteflikas ist bereits abgewendet. Ein erster Sieg für die gewaltfreie Massenbewegung. Es macht eben doch einen Unterschied der Stärke aus, ob über eine Million oder nur ein paar Tausend auf der Straße sind. Auch der begonnene Generalstreik mag seinen Teil zur Abdankung Bouteflikas beigetragen haben. Aber wie wird das Regime weiter reagieren? Denn dass es versuchen wird, seine Pfründe und seine Herrschaft zu retten, steht außer Frage.

Lou Marin

Anmerkungen:

(1): Zit. nach frz. Wikipedia-Eintrag zu Präsident Bouteflika.

(2): Bernhard Schmid: Das koloniale Algerien, Unrast Verlag, Münster 2006, S. 149. Obwohl ich Schmid hier zitiere, habe ich auch Kritik am Buch, weil – um hier nur ein Beispiel zu nennen – Schmid entweder nicht weiß oder verschweigt, dass es Frantz Fanon war, der diesen Mord an Ramdane deckte, weil Fanon damals ein Interesse an der Dominanz des Militärischen über das Politische hatte. Fanon war darüber hinaus auch aktiv an den Massakern gegen den Messalismus beteiligt. Zur Geschichte des Messalismus vgl. Brother John: „Die Besiegten und Vergessenen des Algerienkrieges“, Teil 1 in GWR Nr. 296 vom Februar 2005, Teil 2 in GWR Nr. 297 vom März 2005, siehe:

https://www.graswurzel.net/gwr/2005/02/die-besiegten-und-vergessenen-des-algerienkrieges/

Für eine detaillierte neuere Geschichte des Messalismus in frz. Sprache siehe das neue Buch von Nedjib Sidi Moussa: „Algérie. Une autre histoire de l’indépendance. Trajectoires révolutionnaires des partisans de Messali Hadj“ (Algerien. Eine andere Geschichte der Unabhängigkeit. Revolutionäre Werdegänge der Weggenoss*innen von Messali Hadj), Presses universitaires de France, Paris 2019.

(3): Vgl. Kamel Daoud: „Le catalogue des nos humiliations“, in: Le Monde, 10.-11. März 2019, S. 26.

(4): Madjid Zerrouky: „En Algérie, l’entourage contesté de Bouteflika“, in: Le Monde, 7. März 2019, S. 4.

(5): Madjid Zerrouky, ebenda, a.a.O.

(6): Boualem Sansal: „Si Bouteflika est réélu, ce sera l’explosion“, in: Wochenzeitung L’Obs, Nr. 2835, Woche 7.-13. März 2019, S. 31.

(7): Yasmina Kehdra: „L’heure de vérité a sonné“, in: Wochenzeitung L’Obs, Nr. 2835, Woche 7.-13. März 2019, S. 29.

(8): Boualem Sansal, siehe Anm. 6, a.a.O.

(9) Politologe zu Protesten in Algerien. „Das Volk will den Sturz des Regimes“, Interview von Jannis Hagmann mit Rachid Ouaissa, in: taz, 13.3.2019, https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5576615&s=algerien/

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.