Populär war der Anarchismus wohl seit den 1930er Jahren in Spanien nicht mehr. In den popularen Klassen verankert ebenfalls kaum. Das Populare (ohne Umlaut) wird vom Populären abgegrenzt, um die wirklichen Interessen der sozialstrukturell unteren Klassen zu betonen: Popular – vom Lateinischen populus, das Volk – ist das, was das „einfache Volk“ betrifft, populär hingegen das, was große Zustimmung erfährt. Popmusik und Popkultur bewegen sich in der Regel zwischen beidem. Aber weil der Pop nicht notwendigerweise Ausdrucksform der Arbeiter*innenklasse ist, wurde er nicht allzu oft zu einer anarchistischen Angelegenheit. Denn Pop ist immer auch kommerziell. Pop schielt und zielt auf Massengeschmack. Pop braucht den Knalleffekt und keine basisdemokratischen Diskussionen.
Und trotzdem: Die Geschichte der Popmusik ist voll von Versuchen, anarchistisch geentert zu werden. Einerseits gibt es eine ganze Reihe von Bands mit anarchistischem Anspruch – wie etwa Cochise, CRASS, Chumbawamba u.v.a. –, deren Geschichte gesondert geschrieben werden müsste. Andererseits tauchen aber auch Spuren anarchistischer Ideen wesentlich unauffälliger auf: in der Art und Weise, Konzerte zu organisieren, in einzelnen Textzeilen oder auch in Bandnamen.
Passend zum Weihnachtsgeschäft 2018 erschien das Beastie Boys Book. Darin erfahren wir, dass der Bandname eigentlich ein Akronym ist und „Boys (and a Girl) Entering Anarchistic States Toward Inner Excellence“ bedeutet. Wir erfahren auch, dass das Girl (Kate Schellenbach) vom Manager aus der Band gedrängt wird, als der Erfolg beginnt – rappende Frauen erschienen Anfang der 1980er Jahre offenbar noch als untragbar. Zudem erfahren wir, dass die Beastie Boys zu Beginn eine Hardcore-Band waren, denen The Clash schon zu abgehoben und von oben herab Musik machten. Auch wenn sie selbst von sich sagen, keine politische Agenda verfolgt zu haben und der Bandname im Grunde nicht viel Sinn ergibt, sind mit Black Flag und den Bad Brains doch die Politfraktion des frühen Ostküstenhardcore ihre Helden. Als HipHop dann aus den Schwarzen Vierteln New Yorks migriert und Downtown erreicht, ist es um die Jungs geschehen.
Berühmt werden sie Mitte der 1980er Jahre mit einem pubertären Partybrüller („Fight for Your Right to Party!“), aber schließlich macht sie die anspruchsvolle Verarbeitung der Popmusikgeschichte in ihren gerappten und gemixten Samples zu einer der wichtigsten Bands der 1990er Jahre. „Alle drei Beasties unterstützten die Frauenbewegung“ (1) erfahren wir auch von Schellenbach, und dass aus den Kindern, die sich „wie Aschlöcher“ (Schellenbach) verhielten, trotz Popruhm schließlich angenehme Zeitgenossen wurden.
Aber Pop hat sich schon seit Mitte der 1990er Jahre in seiner sozialen Rolle und Funktion gewandelt: Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen hatte Anfang der 90er schon festgestellt, dass Popkultur keineswegs mehr automatisch links und der Songtitel von The Who „The Kids Are Alright“ keine angemessene Beschreibung mehr sei. Innerhalb der damals sogenannten Poplinken wurde außerdem konstatiert, dass es einen „Mainstream der Minderheiten“ (Tom Holert/ Mark Terkessidis) gebe, dass also auch die großen Plattenfirmen und die bekanntesten Bands sich als Ausgeschlossene präsentieren. Ihre speziellen Differenzmarken waren nur noch Marketing, nicht mehr Ausdruck revoltierenden Begehrens. Wahrscheinlich ist es seitdem nicht besser geworden.
Trotzdem ist der Glaube daran, dass Menschen über Musikerfahrungen (Texte wie Tanzschweiß) auf andere Gedanken kommen und sich eine bessere Welt herbeisehnen, ziemlich schwer abzulegen – zumindest für einen pop- und subkulturaffinen Linken mit Schule-Studium-Stadt-Sozialisation in den 1980er und 90er Jahren. Wie viele meiner Freundinnen und Freunde sind auf Konzerten oder über Platten und das ganze Drumherum politisiert worden?! Sehr viele! Auch für die 1980er und 1990er galt noch, dass Pop – inklusive Punk und HipHop – immer wieder Modelle bot für alternatives Denken und Handeln.
Sicherlich, im Pop geht es immer auch um Geld und um Aufmerksamkeit. Es gibt zwar Unterschiede, die immens sind und das selbstorganisierte Konzert im Jugendzentrum hat mit dem Stadionrock vielleicht nicht mehr gemeinsam als das Kicken im Spielplatz-Sportkäfig mit der Bundesliga. Dennoch ist Pop mal mehr, mal weniger widersprüchlich, mal mehr, mal weniger kapitalistisch kontaminiert. Also nichts für anarchistische Reinheitsphantasien. Insofern ist Pop auch eher ein postanarchistisches Terrain. Es wird gar nicht mehr davon ausgegangen, dass es rein anarchistisches Handeln in einer Welt voller Herrschaft geben kann, sondern strategisch versucht, Herrschaftskritik an Orten zu formulieren, an denen sie nicht erwartet wird. In Popsongs etwa. In Bandnamen. Auf Partys. Pop ist ein Kampfplatz für Auseinandersetzungen. Nicht nur um die Bedeutung von Moves und Styles, auch um Politik. Als Kampfplatz sollte Pop auch nicht aufgegeben werden. Auch wenn mit der Zeitschrift SPEX Anfang 2019 das Zentralorgan dieses Anspruches, Pop als Feld diskursiver Auseinandersetzung zu begreifen, genau das getan hat: aufgeben (nach 38 Jahren!).
Zwei Titel auf der großartigen Platte „Ill Communication“ (1994) von den Beastie Boys können vielleicht die verschiedenen Pole beschreiben, zwischen denen sich eine Intervention in den Popzirkus noch immer abspielt. Wohl gemerkt die Titel, nicht der Text oder die Musik: Einerseits „Bobo on the corner“, weil der Bobo, der metaphorisch gesprochen an der Ecke lauert, vielleicht den Inbegriff für den Niedergang des Pop von der Subversion zur Biomarkthintergrundmusik verkörpert.
Auch wenn Bobo hier in Wirklichkeit noch nicht die Abkürzung für den Bourgeois Bohemian war, der mit Leistungsbereitschaft, Erbschaft und Popwissen zu den zentralen Gentrifizierungsagenten von heute wurde. Andererseits, auch wenn im Pop ihre Möglichkeiten begrenzt sind, aber weil sie im Anarchismus stets als Mittel in den Kämpfen um die „Verteilung der Güter“ (2) (Elizabeth Gurley Flynn) und für solidarische Gesten propagiert wurde: „Sabotage“.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
1) Kate Schellenbach: „The Girl in the Band, oder: Ihr und euer aufgeblasener Penis könnt mich mal.“ In: Michael Diamond/ Adam Horowitz (Hg.): Beastie Boys Book. München: Wilhelm Heyne Verlag 2018, S. 346-349, hier S. 349.
2) Elizabeth Gurley Flynn: „Sabotage“ (1915), In: https://anarchismus.at/ueber-den-tellerrand-blicken/die-wobblies/6722-elizabeth-gurley-flynn-sabotage
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.