Marseille: Einstürzende Altbauten

Eine mörderische Mischung aus Klientelismus und Gentrifizierung

| Lou Marin

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Bildquelle: Wikipedia

Marseille ist eine schöne Stadt am Mittelmeer. Davon wird in diesem Artikel aber nicht die Rede sein. Denn Frankreichs wichtigste Hafenstadt ist für seine verarmten Bewohner*innen auch mörderisch und in dieser Hinsicht innerhalb Europas wahrscheinlich nur mit Genua oder Neapel zu vergleichen. Eine tödliche Mischung aus kommunalpolitischem Klientelismus und rücksichtsloser Politik der Gentrifizierung. (GWR-Red.)

Am Morgen des 5. November 2018 stürzten drei Häuser, die Nummern 63 bis 65 im Innenstadtviertel Noailles von Marseille in sich zusammen und begruben acht Bewohner*innen unter den Trümmern. Bis Mitte April 2019 wurden unter Dringlichkeit etwa 2700 Menschen aus rund 300 akut einsturzgefährdeten Häusern geholt, oft nachts. Sie mussten innerhalb kurzer Zeit, nur weniger Minuten, ihre Wohnung verlassen, durften nur Pässe und persönliche Papiere mitnehmen und ihr Haus danach nicht mehr betreten. Diese menschengemachte Katastrophe, die die Stadtverwaltung und ihr überforderter Bürgermeister Claude Gaudin (LR; Les Républicains, die bürgerlich-konservative Ex-Sarkozy-Partei) zu verantworten haben, ist der negative Höhepunkt einer Gentrifizierungspolitik unter Strukturen des „vertikalen Klientelismus“ – mit mörderischen Konsequenzen.

Marseilles verfehlter Strukturwandel

Dieses, vom Bürgermeister völlig abwegig als „Naturkatastrophe“ bezeichnete Drama ist die größte Bevölkerungsverschiebung innerhalb Marseilles seit der Befreiung von der Nazi-Besatzung Ende 1944. Die ökonomische Exportstrategie der Hafenstadt Marseille nach der Befreiung wies dieselben Fehler auf wie die Exportstrategie des heutigen Venezuelas oder Algeriens. Die gesamte ökonomische Ausrichtung war monopolistisch, ausschließlich auf den Kolonialhandel ausgerichtet. Als Ende der Fünfzigerjahre Indochina, dann die Kolonien in West- und Zentralafrika sowie Algerien zu Beginn der Sechzigerjahre unabhängig wurden und ihre Exporte diversifizierten, war es vorbei mit der Export-Monokultur Marseilles. Die Marseiller Börse schloss und es setzte eine lange und schleichende Krise des Hafens und damit auch der Arbeiterklasse Marseilles ein. Die KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) hatte unmittelbar nach der Befreiung bei Kommunalwahlen bis zu 40% an Stimmen erhalten; doch der Kalte Krieg sowie die Gründung einer Konkurrenzgewerkschaft gegen die stalinistische CGT (Allgemeine Arbeiterkonföderation), nämlich die FO (Force ouvrière) im Jahr 1947, schwächten die Arbeiterklasse. Die FO war zunächst trotzkistisch dominiert, strukturierte sich aber dann immer mehr reformistisch. Heute umfasst sie alle städtischen Angestellten und steht dem Bürgermeister zu Diensten.

Die Hafen- und Handelskrise erreichte in den 1980ern ihren Höhepunkt; viele Hafenarbeiter wurden durch die maghrebinische Arbeitsmigration rassistisch und traten direkt zum FN (Front National, heute RN, Rassemblement National) über. Zu dieser Zeit war PS-Mitglied (Sozialistische Partei, real aber sozialdemokratisch, heute neoliberal) Gaston Deferre Bürgermeister, er übte dieses Amt von 1953 bis zu seinem Tod 1986 aus. Er stützte sich dabei auf eine kommunalpolitische Klientel sowie auf die FO, die dann später der heutige Bürgermeister Jean-Claude Gaudin nur leicht verändert und mit Seilschaften aus dessen Freundeskreis, aber ebenfalls auf die FO gestützt, übernahm. Auffällig bei beiden Bürgermeistern ist ihre ewig lange Amtszeit; Gaudin ist seit 1995 Bürgermeister, nunmehr über vier Wahlperioden hinweg. Die Kommunalpolitik sowohl von Deferre als auch von Gaudin war darauf ausgerichtet, die Hafenkrise durch einen Wandel Marseilles hin zur Touristenstadt aufzufangen. Das hatte nur einen Haken – und der lag bei der verarmten ebenso wie gemischt-kosmopolitischen Bevölkerung in der zentralen Innenstadt. (1)

Für die Umschichtung auf touristische Attraktivität war diese Prekaritäts- und Migrationsbevölkerung in der Innenstadt ein Hinderungsgrund. Das zeigt beispielhaft die Herkunft der durch den Einsturz Getöteten: Darunter war ein Franzose, Julien; ein Bewohner tunesischer Herkunft, Taher; einer algerischer Herkunft, Chérif; der Franzose Fabien, ein Maler; dann Simona, eine junge italienische Studentin; Niasse, senegalesischer Herkunft; Oulume aus den Komoren eingewandert, Mutter von sechs Kindern; schließlich Marie-Emmanuelle, französische Künstlerin. Es ist ein typischer Querschnitt für die gemischte, aber durchweg verarmte Wohnbevölkerung dieses Innenstadt-Viertels. (2)

Diese Bevölkerungszusammensetzung musste weg, das war das unausgesprochene Ziel der Gentrifizierungspolitik Marseilles, und sie sollte durch eine bourgeoise Innenstadt-Bevölkerung ersetzt werden – so wie sie in den anderen Großstädten Frankreichs existiert. In Lyon, Bordeaux und Paris ist die Innenstadt reich und bourgeois und die Verarmten und Migrant*innen bevölkern die Vorstädte, wo ihre Revolten, wie 2005, und ihre gesundheitsschädlichen Wohnbedingungen den Tourismus nicht stören. Seit den Achtzigerjahren hat also unter Deferre wie unter Gaudin der Tourismus Priorität und es wird die Kommunalpolitik eines geplanten Bevölkerungstauschs durchgeführt.

Wie sehr, das zeigte jüngst wieder mal die Tatsache, dass viele Evakuierte zunächst provisorisch von der Stadt in kleinen Hotelzimmern notdürftig untergebracht wurden. Doch dort müssen sie im Frühjahr wieder raus, denn an Ostern beginnt die Tourismus-Saison: „Die Stadt will die Zimmer freimachen für die Touristen. Der Bürgermeister hat verstohlen angekündigt, jetzt plötzlich ‚Notunterkünfte’ öffnen zu wollen“ (3) – fünf Monate nach dem Drama.

Vertikaler Klientelismus: das System Gaudin

Am 8. Oktober wird Jean-Claude Gaudin 80 Jahre alt. Mit dieser Krise ist er völlig überfordert, verlautbart ungeheuerliche Erklärungen, wie etwa der Einsturz der Altbauten habe „am Regen“ gelegen. Rücktrittsforderungen, die von einer erstarkten und entschlossenen Bewegung gegen seine Gentrifizierungspolitik immer wieder geäußert werden, kontert er mit dem dummen Spruch, im Sturm gehe ein Kapitän nicht vom Schiff. Gaudin ist wie eine Art Halb-Leiche nach dem Muster des senilen Präsidenten Bouteflika von Algerien, nur hält sich Gaudin noch immer an der Macht. Dieses System funktioniert auch ähnlich wie das System Erdoğan: Einmal an der Macht, immer an der Macht.

Der kritische linke Journalist Philippe Pujol, dessen Buch über Marseille mittlerweile in deutscher Übersetzung erschienen ist, nennt das System Gaudin „vertikaler Klientelismus“. (4) Es ist über mit Gaudin persönlich befreundete Architekten organisiert, richtige Speichellecker wie Roland Carta. Alle städtischen Bauvorhaben werden direkt über diese persönlich befreundeten Architekten vergeben. Der vertikale Klientelismus läuft laut Pujol in drei Stufen: Ganz oben räumt der Architekt dem direkt darunter angesiedelten Investor die Hindernisse aus dem Weg, und alle Subunternehmer des Investors und dessen Beschäftigte profitieren dann vor Ort. Alle Beteiligten, seien es Bauunternehmer, technisches Personal oder Zulieferer mit ihren Angestellten, haben ein Interesse am Fortbestand des Systems Gaudin.“ (5)

Gaudin verlangt nur eine kleine Gegenleistung, aber von allen Beteiligten, bis in die Bauarbeiterfamilien der dritten Stufe hinein: ihn bei den nächsten Kommunalwahlen zu wählen! So werden die ständigen Wiederwahlen schon von Deferre, jetzt von Gaudin erzeugt. Frustrierte Bürger*innen beteiligen sich aufgrund dieses Filzes immer weniger oft an Kommunalwahlen – und genau das nützt Gaudin, dessen ständig mobilisierte Klientel somit prozentual bedeutsamer wird. Je länger die Regentschaft, desto gefestigter die Macht! Ob der Greis Gaudin dabei im Laufe der Zeit verblödet, stört nicht das System. Durch diesen Klientelismus ist übrigens immer und zuallererst ausgeschlossen, dass es je eine Bürger*innenanhörung oder gar einen Mitentscheid der Betroffenen im Stadtviertel bei irgendeinem Bauvorhaben gibt. Denn immer ist schon anfangs alles entschieden, die Gelder sind geflossen und es erhalten immer die großen Bauträger den Zuschlag, die an die Klientel-Architekten Gaudins angeschlossen sind. Diskutiert wird nicht mehr.

Von der Inkompetenz zum Zynismus

Vieles in Marseille ist im Zusammenhang mit dem Einsturz der Altbauten unglaublich, aber all das ist wirklich so passiert: Das begann schon beim Trauermarsch „in Weiß“ am 10. November 2018, organisiert von einem Betroffenen-Kollektiv „Collectif du 5 novembre“. Während bei diesem Trauermarsch die etwa 8000 Beteiligten an einem Gebäude in einer großen Verkehrsstraße vorbeimarschierten, stürzte dort der Balkon eines alten Gebäudes herunter und verletzte drei der Demonstrierenden. (6)

All das ist kein Stück aus einer schlechten Fantasy-Story: Ein Experte für Bausubstanz, Raynald Filipputti, hat das Bürgermeisteramt bereits 2014 über die Baufälligkeit der Gebäude Nr. 63-67 in der Rue d’Aubagne informiert. Neuerliche Warnungen gab es 2017 und 2018, nur wenige Wochen vor dem Einsturz. (7) Es ist geradezu Politik der Stadt, alles verfallen zu lassen, dann die leer gewordenen Wohnungen aufzukaufen und mit einem Modell städtisch-privater Bauvorhaben luxuszusanieren. Eigentümerauflagen, Vermieter-Verpflichtungen zu Instandhaltungsarbeiten werden von der Stadt nicht kontrolliert. Es gibt keine kommunale Praxis, auch nur städtische Genehmigungen für Vermietung auszustellen. Erst jüngst hat der LR-dominierte Stadtrat erneut gegen die Vorschläge der Oppositionsparteien gestimmt, kommunale Genehmigungen für Vermietung einzuführen.

Die Gaudin-Klientel weiß nicht, was in den einsturzgefährdeten Häusern vor sich geht. Sie will es gar nicht wissen. Es hat sich in diesen Häusern ein ganz eigener Stand der sogenannten „Marchands de Sommeil“ (Schlafplatz-Verkäufer) eingenistet, der an verarmte Bewohner*innen in baufälligen Dreckslöchern („taudis“ genannt) überteuert vermietet und Auflagen der Stadt einfach nicht durchführt, weil sie niemand kontrolliert. (8) Wie denn auch, wenn hohe Funktionsträger*innen der Stadt ihre Posten nur aufgrund persönlicher Freundschaft und Speichelleckerei zu Gaudin erhalten haben. Mehrere Berichte der lokalen Presse legen immer wieder die Inkompetenz der Stadtverantwortlichen für den Zustand von Mietwohnungen offen.

Typisch für diesen Filz und auch für die Bereicherungsmentalität der Lokalpolitiker*innen aus Gaudins Partei LR sind folgende Fakten, die Stück für Stück an die Öffentlichkeit gelangten: Xavier Cachard, Vizepräsident des Regionalrats, war Privateigentümer eines Appartements in der Rue d’Aubagne Nr. 65, einem der eingestürzten Häuser. Er wurde am 15. November seines Amtes enthoben. Bernard Jacquier, Vizepräsident der LR-Partei für die Metropole Aix-Marseille, ist Eigentümer einer Bruchbude im 3. Arrondissement, von deren gesundheitsschädlichem Zustand er angeblich nichts wusste. Er trat am 17. November von seinem Posten zurück. Thierry Santelli ist Eigentümer eines Appartements im Innenstadtteil Belle-de-Mai, das als „gefährdet“ ausgewiesen und am 13. November geräumt wurde. Er zeigte sich „überrascht“ – obwohl er von der Sozialversicherung vorgewarnt worden war – und hätte sich aber „nichts vorzuwerfen“. Als Vizepräsident des Departements und als Stadtrat musste er trotzdem zurücktreten. Und André Malrait, Beigeordneter des Bürgermeisters, vermietete ein Zimmer in „gesundheitsschädlichem“ Zustand an eine junge Frau für 520 Euro pro Monat. Tatsächlich war das ein 17m2 großer Raum, der offiziell als Garage für Motorräder eingetragen war. Malrait bezeichnete sich darauf als „untadelig“ – der städtische Dienst für kommunale Hygiene bestätigte noch einmal die Gesundheitsschädlichkeit der Wohnung. Doch Malrait tritt nicht zurück, obwohl das alle innerhalb und außerhalb des Stadtrats fordern.

Der Zynismus und die Arroganz der Stadtregierung sind grenzenlos. Laure-Agnes Caradec, Beigeordnete für den Bereich „Urbanismus“, hat am Tag direkt nach den Einstürzen freudig bei einem Fest zu Ehren von Schokoladenproduzenten teilgenommen, als wenn nichts geschehen wäre. Auf die Frage eines Journalisten, warum die Stadt 56 Mio. Euro für ein Eisstadion (im äußerst warmen Mittelmeerklima!), aber nur 15 Millionen pro Jahr (in Wirklichkeit 3 Millionen nach Faktenprüfung durch die investigative Lokalzeitung Marsactu) zur Bekämpfung einsturzgefährdeter Wohnungen ausgegeben habe, antwortete Gaudin, er bedauere da nichts. (9) Ein früherer Mitarbeiter der städtischen Wohnungsbaugesellschaft „Soleam“ sagte gegenüber Marsactu, der kommunale Sicherheitsdienst für Gebäude sei „total dysfunktional“, habe ein „Problem der Kompetenz, der Ausbildung und des Willens“ sowie: „Das Viertel Noailles war nun wirklich die letzte Priorität aller städtischen Interventionen im Bereich Urbanismus.“ (10)

Außer Bewohner*innen mussten auch 120 Handwerker*innen und Kleinhändler*innen ihre Geschäfte aufgeben. Ein kostenloser Essens-Versorgungsdienst der Stadt für die Betroffenen wurde Anfang April eingestellt. Anfang April 2019 waren 1200 Personen von den evakuierten 2700 offiziell umquartiert. Davon haben 100 aber selbst eine Wohnung gefunden; 570 wurden von einer Sozialwohnungsgesellschaft untergebracht und 640 sollten in ihre geräumten Wohnungen wieder einziehen, weil angeblich Ausbesserungsarbeiten durchgeführt worden seien. Diese waren aber oft nur angewiesen, nicht ausgeführt noch kontrolliert worden, so dass die Ex-Bewohner*innen gegen ihren Wiedereinzug in die noch beschädigten Wohnungen protestierten. (11) In Marseille gibt es derzeit gleichzeitig 30.000 leer stehende Wohnungen, darunter viele in der lang gezogenen Rue de la République, wo schon vor Jahren ein Gentrifizierungs- und Luxussanierungsprojekt teilweise gescheitert ist. (12) Aber bis auf wenige Ausnahmen weigert sich die Stadt, Requirierungen für die Evakuierten vorzunehmen.

Es hat eine riesige Protestwelle von Demonstrationen gegen die Gaudin-Stadtregierung, besonders bis Ende Dezember 2018, gegeben, die im neuen Jahr ein wenig schwächer geworden ist. Aber die Betroffenen haben sich selbst organisiert, besonders im Collectif 5 novembre, und sie haben eine „Charta für Neu-Unterbringung“ mit sozialen Mindestbedingungen und zu gleichen Rechten für alle Evakuierte (13) formuliert. Sie lassen die Stadt damit nicht mehr in Ruhe.

Anmerkungen:

(1): Zum Aufbau des Marseiller Klientelismus während der Ära Deferre vgl.: Cesare Mattina: Clientélismes urbains. Gouvernement et hégémonie politique à Marseille, Presses de Sciences po, Paris 2016, besonders S. 11-181.

(2): „Effondrement des immeubles rue d’Aubagne à Marseille“, sehr ausführlicher und kritischer Wikipedia-Eintrag, eingesehen 11. April 2019, S. 2f.

(3): David Coquille: „Cinq mois d’un drame de l’habitat qui n’en finit pas“, in der Marseiller linken Tageszeitung La Marseillaise, Wochenende 6. und 7. April, S. 2f.

(4): Philippe Pujol: Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille, Hanser, Berlin 2016, mit einem ganzen, allerdings noch zu freundlichen Kapitel über Gaudin S. 215-243, hier S. 222.

(5): Pujol, ebenda, a.a.O., S. 222.

(6): „Effondrement des immeubles...“, ebenda, a.a.O., S. 7.

(7): Ebenda, S. 2.

(8): Ebenda, S. 6 und S. 8.

(9): Ebenda, S. 5 und S. 9.

(10): Ex-Soleam-Mitglied in Marsactu, zit. nach „Effondrement des immeubles...“, a.a.O., S. 1.

(11): David Coquille: „Cinq mois d’un drame...“, ebenda, a.a.O., S. 3.

(12): Vgl. Günther Liehr: Marseille. Porträt einer widerspenstigen Stadt, Rotpunktverlag, Zürich 2013, besonders zur Rue de la République im Rahmen des Projekts „Euroméditérrannée“, S. 271-289.

(13): L.P.: „Les collectifs d’habitants bataillent pour une ‚Charte du relogement’“, in: La Marseillaise, Wochenende 6. Und 7. April, S. 4.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.