Die meisten homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus konnten nach dem Zweiten Weltkrieg oft nicht über das sprechen, was ihnen in der Nazizeit und im Nachkriegsdeutschland angetan wurde. Zu groß war die Angst vor Stigmatisierung und Homophobie.
Der Strafrechtsparagraph 175, der seit 1872 die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern kriminalisierte und zigtausende Homosexuelle in der Nazizeit ins KZ brachte, wurde in der Bundesrepublik erst 1969 und 1973 unter dem Druck der stärker werdenden Schwulen- und Lesbenbewegung entschärft. Seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar. Erst 1994 wurde der menschenfeindliche, homophobe § 175 StGB ganz abgeschafft.
In den Familien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Mantel des Schweigens über die unfassbaren Demütigungen und Traumata gelegt, die den Schwulen und Lesben in der Nazizeit und oft auch noch danach zugefügt wurden. Ihre sexuelle Orientierung war in den Augen vieler Menschen in den postfaschistischen, homophoben Gesellschaften der Bundesrepublik und auch der DDR „unzüchtig“, „krank“ und „pervers“. Die Verbrechen, die den Homosexuellen angetan wurden, waren Familiengeheimnisse und wurden oft nie öffentlich. Dass es auch in meiner Familie ein solches Geheimnis gab, wurde mir erst Anfang 2018 klar, nachdem ich mit meinem Vater und Manuel Izdebski telefoniert hatte. Manuel Izdebski ist Geschäftsführer der Aidshilfe im Kreis Unna. Er hat die Geschichte von Reinhard Drücke recherchiert und deshalb u.a. auch mit meinem Vater und mir telefoniert. Reinhard Drücke habe ich nie bewusst kennengelernt. Er wohnte direkt neben meinem Elternhaus und ist am 31. August 1970 gestorben. Da war ich vier Jahre alt.
Reinhard war eigentlich ein Cousin zweiten Grades meines Vaters, wurde aber aufgrund des Altersunterschiedes „Onkel“ genannt. Mein Vater wurde im April 1936, Reinhard im April 1912 geboren. Schon vor Jahren hat mir mein Vater erzählt wie übel „Onkel Reinhard“ in den 1950er und 1960er Jahren mitgespielt wurde. Reinhards Frau, die 1948 als Witwe drei Kinder aus erster Ehe mit in die „freundschaftliche Zweckbeziehung“ mit eingebracht und ihn nach Einschätzung meines Vaters geliebt hat, wurde genötigt, sich von ihrem schwulen Mann scheiden zu lassen. Reinhard wurde bis zu seinem Tod mit Spottreimen wie „172, 173, 174, Onkel Drücke“ geschmäht. Das spielte auf den berüchtigten §175 an. Als Architekt wurde er in den Ruin getrieben. Das war mir durch die Erzählungen meines Vaters bekannt. Was aber weder mein Vater, noch sonst ein heute noch lebendes Familienmitglied wusste, ist das, was Reinhard in der Nazizeit erleiden musste.
Nun fiel ich aus allen Wolken. Manuel Izdebski hat recherchiert, wie Reinhards Lebensgeschichte aussah und was ihm in der Nazizeit angetan wurde: „Um in die Fußstapfen des Vaters Friedrich Drücke zu treten, erlernte Reinhard den Beruf des Baumeisters (Architekt). Die bürgerliche Familie genoss in Unna hohes Ansehen. Nachdem Reinhard die Evangelische Volksschule besucht, das Real-Gymnasium mit einjähriger Reife verlassen und eine Ausbildung zum Maurer bestanden hatte, studierte er in Hannover an der technischen Hochschule. In einem Prozess nach § 175 wurde er zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Aus dem Gefängnis in Duisburg wurde er 1941 entlassen, aber sofort in ‚Vorbeugehaft‘ genommen. Mit 29 Jahren wurde er verschleppt in das KZ Sachsenhausen, von wo er nach einigen Wochen ins Lager nach Groß-Rosen in Niederschlesien überstellt wurde.
Seine Tätigkeit in der Bauverwaltung bewahrte ihn vielleicht vor dem Tode. Noch Anfang 1945 kam Drücke nach Hersbruck, einem Außenlager des KZ Flossenbürg und dann nach Dachau. Bereits 1942 und 1943 hatte sein Vater vergeblich versucht, ihn frei zu bekommen. Am 29. April 1945 wurde das KZ von der 7. US-Armee befreit. Reinhard Drücke zog wieder in sein Elternhaus, das er nach dem Tod des Vaters 1949 zusammen mit der Baufirma erbte.“ (1)
Bis zu seinem Tod lebte Reinhard Drücke in der Vaersthausener Straße 38 in Unna. Dort wurde am 6. Februar 2018 im Gedenken an Reinhard Drücke auf Initiative der Aidshilfe von dem Aktionskünstler Gunter Demnig der erste Stolperstein für ein homosexuelles NS-Opfer im Kreis Unna verlegt. Es war eine bewegende Feier mit Redebeiträgen u.a. der stellvertretenden Bürgermeisterin und der Aidshilfe. Ergreifend waren auch die musikalischen Beiträge von Schüler*innen. Bisher wusste ich nicht, dass ich auch Verwandte in Frankreich habe. Sie sind extra zur Stolpersteinverlegung angereist. Anschließend saßen wir in den Räumen der Aidshilfe zusammen, tauschten Geschichten aus und sahen uns Fotoalben an. Ich bin Manuel Izdebski sehr dankbar, dass er die vergessene Geschichte von „Onkel Reinhard“ ans Licht gebracht und den Blick auf die Verfolgung von über 50.000 Homosexuellen durch das Naziregime gelenkt hat. Ebenso dem Künstler Gunter Demnig, der schon in zwanzig Ländern Europas und 1100 Orten Deutschlands Stolpersteine der Erinnerung verlegt hat.
Diese Erinnerungsarbeit ist auch ganz im Sinne meines 1999 gestorbenen Freundes und Genossen Paul Wulf. Paul wurde 1938 als vermeintlich „schwachsinniges“ Heimkind von den Nazis als „lebensunwert“ eingestuft und zwangssterilisiert. Am 2. Mai 2019 wäre der 1991 mit dem Bundesverdienstkreuz für seine antifaschistische Aufklärungsarbeit geehrte Anarchist 98 Jahre alt geworden. An Pauls 20. Todestag, am 3. Juli 2019, wird der Freundeskreis Paul Wulf ab 18 Uhr eine Gedenkfeier machen, um an den Antifaschisten zu erinnern. (2) Die Veranstaltung findet an der von der Künstlerin Silke Wagner und dem Umweltzentrum-Archiv-Verein als Teil des Projekts „Münsters Geschichte von unten“ (3) für die Skulpturprojekte Münster 2007 geschaffenen Paul-Wulf-Skulptur am Servatiiplatz/Promenade Münster statt.
Zu seinem 100. Geburtstag wird der Freundeskreis Paul Wulf 2021 ein neues Buch über Paul herausbringen, das an das 2007 im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Buch „Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand“ anknüpfen soll. (4) Die Erinnerungsarbeit für Reinhard Drücke, Paul Wulf und alle anderen Opfer des Naziregimes ist unsere gemeinsame Aufgabe. Das „Vermächtnis” des 1934 von den Nazis ermordeten Anarchisten Erich Mühsam bleibt aktuell:
„Ihr Kameraden der Not,
hört mein Gebot!
Hört mein Vermächtnis!
Es kommt die Zeit, da das Feuer loht,
da die Welt sich befreit,
da das Leben in lockenden Sprachen spricht.
Vergesst eure Not, eure Leiden nicht!
Ich lehr‘ euch: Gedächtnis!“
Bernd Drücke
Anmerkungen:
1) Siehe: https://www.lokalkompass.de/unna/c-politik/erster-stolperstein-fuer-homosexuellen-in-unna_a824587
2) Zum 20. Todestag gedenkt der Freundeskreis Paul Wulf dem Antifaschisten mit Livemusik von Baxi, Pit Budde (Ex-Cochise) und dem Duo Contraviento sowie Redebeiträgen von Sarah Weßling, Hannah Wortmann, Kim Keen, Dr. Robert Krieg, Dr. Bernd Drücke, Peter Fischer-Baumeister und Detlef Lorber. Weitere Infos zum Programm siehe: https://www.facebook.com/FreundeskreisPaulWulf
3) Weitere Infos zu Paul Wulf und Münsters Geschichte von unten: www.uwz-archiv.de
4) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/lebensunwert/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.