Kommentar

„Besonders, nicht krank“

Aussortieren und planbar machen. Ein Kommentar zum Trisomie-Bluttest

| Robert Krieg

Beitragbesonders
Kind mit Down-Syndrom (bei seinem Vater) - Foto: Andreas Bohnenstengel [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Neulich in der Stadthalle einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Auf der Bühne spielt eine Coverband einen Kult-Song von „The Police“. Neben mir stampft ein junger Mann mit Down-Syndrom zum Punk-Rhythmus und reckt die geballte Faust in Richtung Bühne. Den Text kennt er auswendig. Er geht in der wogenden Menschenmenge auf. Individuell und integriert zugleich bildet er einen lebendigen, lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab.

Natalie Dedreux ist in Deutschland das Gesicht der Menschen mit Down-Syndrom. Sie kämpft für ihre Anerkennung als Bürger/innen unseres Landes, die „besonders, nicht krank“ sind. Die Frage, ob Krankenkassen die Kosten für Trisomie Bluttests bei Schwangeren übernehmen sollten, beantwortete Frau Dedreux eindeutig im Deutschlandfunk: „Das soll es nicht geben, weil es sonst weniger Menschen mit Down-Syndrom auf der Welt gibt. Wir wollen nicht mehr abgetrieben werden. Wir sind supercool drauf.“

Der Bundestag diskutierte die Frage ohne Fraktionszwang. Als Lehre aus unserer deutschen Geschichte im Umgang mit Andersartigkeit. Entsprechend lebendig war die Diskussion. Einer der eher selten gewordenen Momente in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus, in der die Ernsthaftigkeit der Kontroverse und Debatte den wahren Geist einer parlamentarischen Demokratie widerspiegelte. Ein Aspekt, der übrigens in der Wahrnehmung und Beurteilung der Auseinandersetzungen über den Brexit im englischen Unterhaus sträflich vernachlässigt wird.

Im SWR-Fernsehen läuft eine Sendung, bei der ich mir verblüfft die Augen reibe: Die deutschen Restaurantküchen werden von Fertigprodukten, sogenanntem Convenience-Food, überrollt. Für Azubis heißt das: Sie reißen nur noch Tüten auf und lernen nicht mehr, wie man selbst kocht. Für die Geschäftsführung heißt das mehr Effizienz und weniger Kosten, für den Kunden heißt das mehr vom Gleichen. Der Geschäftsführer der Convenience-Food Firma erklärt stolz, dass dadurch den Kunden mehr Sicherheit im Wohlbekannten geboten würde. Ein Argument für Kundenbindung. Aus Furcht vor unkontrollierbarer Vielfalt ist ein Geschäftsmodell geworden, das weltweit unser Konsumverhalten steuert.

Das scheinbar Disparate dieser Beobachtungen eint eine analytische Erkenntnis: Wir leben in einer vom Diktat der Ökonomie durchformatierten Welt, in der Eigenständiges und Widerständiges keinen Platz haben darf, denn sie beeinträchtigen die erwarteten Renditen. Wenn wir heute über Eugenik sprechen, müssen wir uns zugleich mit dem zerstörerischen Primat des Ökonomischen beschäftigen.

Mit der durchgängigen Ökonomisierung aller Lebenswelten ist ein neues Verständnis vom Menschsein entstanden: Der Zweck des neuen ‚Homo oeconomicus’ erschöpft sich in der Realisierung ökonomischer Ziele und dem Streben nach größtmöglicher Gewinnoptimierung.“ (1)

Da ist kein Platz für Andersartigkeit, und alle anderslautenden Erklärungen zur Inklusion bleiben vollmundige Lippenbekenntnisse. Die Politik stellt nicht die erforderlichen, erheblichen finanziellen Mittel bereit, um Inklusion an Schulen gelingen zu lassen.

In der Bundestagsdebatte wurden Argumente ausgetauscht, die für sich genommen richtig sind. Die finanzielle Lage der Betroffenen dürfe nicht den Ausschlag darüber geben, ob sie sich den Trisomie Bluttest leisten können oder nicht, sagten die Befürworter/innen. Den Schritt in eine eugenische Gesellschaft, in der Kranke und Behinderte aussortiert werden, befürchteten die Gegner/innen. Der Bezug auf die Geschichte der deutschen Erbgesundheitslehre und ihrer mörderischen Praktizierung im Nationalsozialismus muss die Grundlage bleiben, wenn wir über Trisomie, Designer Babys oder Sterbehilfe streiten. Gerade in Deutschland sind wir uns das schuldig. Was in der Debatte wieder zu kurz kommt, ist die Kosten-Nutzen-Rechnung sowohl in einem unmittelbaren als auch in einem übergeordneten Sinn. Die massenhafte Anwendung des Trisomie Bluttests verschafft der Pharma-Industrie einen erhöhten Profit. Zugleich verspricht die damit einhergehende massive Abtreibung von Föten mit Down-Syndrom die „Entlastung“ der Gesellschaft von Menschen, die rein wirtschaftlich gesehen zusätzliche Kosten verursachen und aufgrund eines eingeschränkten Leistungsumfangs weniger profitabel sind. Dass Menschen mit Down-Syndrom unseren gesellschaftlichen Alltag durch menschliches Glück und die Verbreitung von Empathie wertvoll machen, wie ich es am Anfang dieses Textes zu skizzieren versucht habe, taucht in dieser Rechnung nicht auf.

Ich gestehe mir nicht das Recht zu, eine schwangere Frau davon abzuhalten, den Bluttest zu machen, um ein Kind mit Down-Syndrom zu verhindern. Es ist ihre freie Willensentscheidung, die ihr nicht genommen werden darf. Was wir allerdings dringend brauchen, ist die gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung von menschlichen Dispositionen und Verhaltensweisen, die sich der ökonomischen Verwertung entziehen. Ihre Ausgrenzung und Abtötung macht unser Leben ärmer und einfältiger. Es geht um die Öffnung von sozialen Räumen, die es Müttern und Vätern erlauben, Kinder mit Down-Syndrom ohne finanzielle Belastung und gesellschaftliche Diskriminierung erziehen zu können.

Die durch den Trisomie-Test durchgeführte Aussonderung von „lebensunwertem“ Leben bleibt scheinbar ideologiefrei und dadurch salonfähig. Das unterscheidet sie von der Rassehygiene im Dritten Reich. Die Ideologie der Gegenwart ist das Versprechen einer durch medizinischen Fortschritt erreichbaren leidensfreien Zukunft. „Unausgesprochen im Hintergrund steht die Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben.“ (2) Natalie Dedreux weiß, dass ihre Besonderheit unsere Gesellschaft bereichert und vielfältiger macht. Für den gesellschaftlichen Fortschritt sind kreative Räume, die Unvorhergesehenes, Nonkonformismus und Spontanes zulassen, unverzichtbar. Natalie Dedreux wird als zukünftige Journalistin dazu einen wertvollen Beitrag leisten.

Robert Krieg

1) Robert Krieg: „ ... Und über uns kein Himmel“, Verlag Graswurzelrevolution 2012

2) Robert Krieg: „Schöne neue Welt – Menschenzucht und Sterbehilfe“, in: Freundeskreis Paul Wulf (Hg.), „Lebensunwert? NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand“, Verlag Graswurzelrevolution 2007

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.