Allein in der Bundesrepublik Deutschland werden jährlich über elf Millionen Tonnen Lebensmittel vernichtet. Gegen diese Wegwerfgesellschaftspolitik stemmt sich eine soziale Bewegung, die eine Wertschätzungsmentalität etablieren und beispielsweise durch „Containern“ auch Lebensmittel retten möchte. GWR-Praktikant Marvin Feldmann und GWR-Redakteur Bernd Drücke haben dazu Janis Matheja und Susanne Kemper von der „fairTEILBAR“ für eine Radio Graswurzelrevolution-Sendung interviewt (1). (GWR-Red.)
Bernd Drücke: Hallo Janis, hallo Susanne, ihr habt zusammen mit Claudia Thermann und Jana Boelter ein Konzept für die fairTEILBAR entwickelt. Was ist das für ein Projekt?
Janis Matheja: Die fairTEILBAR ist ein Projekt für gerettete Lebensmittel und wir sind seit etwa einem Jahr in Münster am Start. Wir werden Ende Juni 2019 ein Ladenlokal in der Hammer Straße 60 eröffnen. Uns geht es darum, Lebensmittel zu retten und diese allen Menschen zugänglich zu machen, in einem Ladenlokal und in einem Bistro, wo man dann auch direkt vor Ort die Lebensmittel verzehren und teilweise einkaufen kann. Alle Menschen sollen sich die Lebensmittel leisten können. Deshalb setzen wir auf das Prinzip „Zahle, was es dir wert ist“. Die Kund*innen sollen den Preis selbst bestimmen können, für eine solidarische Preisgestaltung. Um das abzuschließen, werden wir eine Bildungsküche und eine Manufaktur einrichten, wo wir Produkte herstellen. Wirsing aus der Nachernte, Nudeln mit falschem Etikett, krumme Gurken – alles, was nicht in den Handel kommt, aber qualitativ einwandfrei ist, soll in der fairTEILBAR angeboten werden. Bisher haben wir in Pop-ups, also zeitlich begrenzten Verkaufs-Gelegenheiten bei Veranstaltungen, gezeigt, wie lecker unsere selbst gekochten Speisen aus geretteten Lebensmitteln sind.
Marvin Feldmann: Wie ist die Idee zu diesem Projekt entstanden?
Susanne Kemper: Sie ist in vielen kleinen Schritten entstanden. Ich selber rette, genauso wie Janis, schon ganz lange Lebensmittel. Das Ganze hat mit dem klassischen Containern angefangen. Mit Foodsharing weitergegangen ist es dann in meinem normalen Leben. Wenn ich nicht gerade Lebensmittel rette, bin ich Sozialarbeiterin und haben mit vielen Menschen zu tun, für die es nicht selbstverständlich ist, den Kühlschrank bis zum Monatsende füllen zu können. Das heißt, ich habe da auf der einen Seite ganz viele Lebensmittel gesehen, die irgendwie übrig waren, trotz bereits engagierter Initiativen. Auf der anderen Seite habe ich Menschen kennengelernt, die Interesse an diesen Lebensmitteln haben. Da ist mir klar geworden, dass wir eine neue, zeitgemäße Variante brauchen. Unter anderem in Janis habe ich Menschen gefunden, die sich für diese Idee und für diesen Gedanken begeistern, die Lust haben, sich gemeinsam mit mir zu einer neuen Idee und zu einem neuen Konzept auf zu machen. So ist die fairTEILBAR entstanden.
Bernd: Es gab schon Fälle, wo Menschen wegen Containern kriminalisiert wurden. Könnt Ihr dazu etwas erzählen?
Susanne: Gerne. Erstmal ist es eigentlich positiv, dass das Thema „Lebensmittel retten“ so in der Öffentlichkeit landet. Lebensmittelverschwendung passiert ja in der Regel hinter verschlossenen Türen. Ich denke, den meisten Menschen ist gar nicht klar, wie groß die Mengen sind, von denen wir sprechen. In diesem konkreten Fall sind zwei junge Studentinnen für das Containern bestraft worden. In unseren Augen wird da die falsche Seite kriminalisiert, weil egal, ob jetzt politisch, auf Seite der Einzel- und Großhändler, wir brauchen gesetzliche Regelungen, die dafür sorgen, dass Lebensmittelvernichtung als Problem erkannt wird und dass es wichtig ist, sich um diese Lebensmittel zu kümmern. Von daher hoffen wir, dass wir auch da einen Beitrag leisten können, um das Thema noch mehr in die Öffentlichkeit zu bringen und dafür aufzustehen und die Leute stark zu machen, dass solche Dinge in Deutschland anders werden.
Bernd: Wieviele Lebensmittel werden vernichtet, die man eigentlich noch gut essen könnte? Was sind das für Dimensionen?
Janis: Bei uns in Deutschland sind das über 313 Kilo pro Sekunde, die an genießbaren Lebensmitteln vernichtet werden. Darunter fallen auch Lebensmittel im Haushalt. Da rechnet man mit ungefähr 80 Kilo pro Nase und Jahr. Dann kommen noch die Lebensmittel dazu, die gar nicht im Laden landen, die schon auf dem Acker aussortiert werden, weil die Möhre krumm ist, mit zwei Beinen, oder weil der Kohlrabi zu groß geworden ist. Das sind auch mehrere tausend Kilo, ganze LKW-Ladungen, die vernichtet werden.
Bernd: Containern ist auch eine politische Aktion. Könnt Ihr dazu etwas erzählen?
Susanne: Containern ist eine Form des Lebensmittelrettens, indem meistens Privatpersonen gemeinsam oder alleine nach dem Supermarktschluss sich auf den Weg an die Tonnen der Supermärkte machen und dann selber einen Blick hineinwerfen, welche Produkte in der Tonne gelandet sind, die entsorgt werden sollten, obwohl sie noch verzehrfähig genießbar sind. Das sind in der Regel noch relativ große Mengen, auch ein Teil dieser 313 Kilo, von denen wir gerade gesprochen haben. Aber weil der Müll offiziell zu den Besitztümern des jeweiligen Einzelhändlers gehört, und natürlich auch Grundstücke betreten werden müssen, um an die Tonnen zu gelangen, befinden wir uns da gesetzlich in einer Grauzone. Wenn man beim Containern erwischt wird, ist man vom guten Willen des Einzelhändlers oder auch des Polizeibeamten abhängig. Also, wie die die Lage dann bewerten, ob die eher ein Herz für die Lebensmittel oder die Gesetzeslage haben.
Marvin: Was ist euer Ziel? Verfolgt ihr mit dem Projekt fairTEILBAR eine Utopie?
Janis: Das Ziel wäre, dass gar keine Lebensmittel mehr weggeschmissen werden. Das Projekt fairTEILBAR ist erstmal regional in Münster und im Münsterland angesiedelt. Deshalb hoffen wir, dass das hier in die lokale Politik mit einfließt, dass es eine Verbindlichkeit gibt, Lebensmittel wohltätigen oder gemeinnützigen Zwecken zuzuführen. Ein weiteres Ziel wäre Bildungsarbeit: Wie kriegt man in Schulen Topics wie Lebensmittelwertschätzung überhaupt unter? Wie kriegt man Kinder wieder auf den Acker? Wie lernen sie, wie eine Möhre wächst?
Bernd: Wie können die Leser*innen der Graswurzelrevolution euch unterstützen?
Susanne: Uns kann man unterstützen, indem man zu Hause seine Lebensmittel im Kühlschrank zu Ende verbraucht und sie nicht wegwirft. Wir freuen uns über jeden, der die Idee teilt und weitererzählt. Wir freuen uns auch über den ein oder anderen Like auf unseren Socialmedia-Seiten, besucht uns bei unseren Pop-ups und in unserem Laden an der Hammer Straße 60, die Termine findet ihr auf unserer Homepage (2). Werdet Teil der Lösung.
Susanne Kemper, Janis Matheja,
Interviewer: Bernd Drücke, Marvin Feldmann
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.
Anmerkungen:
-
Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit der fairTEILBAR [und Anne Niezgodka und Jürgen Bacia vom Afas Duisburg] wurde am 29. März 2019 im Studio des medienforums münster produziert und danach im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt. Für die GWR wurden die Interviews überarbeitet und aktualisiert. Die 55minütige Radiosendung ist dokumentiert auf: https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-archiv-fuer-alternatives-schrifttum-in-duisburg-fairteilbar-in-muenster-190313/