Jakutsk ist die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Jakutien (Sacha) und mit rund 270.000 EinwohnerInnen die kälteste Großstadt der Welt. Vier zusammengestellte Fotos von den Demonstrationen der vergangenen Jahre in Jakutsk konnte man vor kurzem in verschiedenen Internet-Medien sehen. Winzige Gruppen, die an den Kundgebungen für „saubere Wahlen“, für das „freie Internet“ und gegen die Rentenreform im Jahr 2018 demonstrierten. Und eine riesige Versammlung gegen die MigrantInnen im März 2019, an der mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Der dramatische Kontrast zwischen diesen Fotos illustriert die tiefe nationalistische Verseuchung der Gesellschaft in Russland.
Eine atomisierte Gesellschaft lässt sich leider am einfachsten nicht für soziale Proteste, sondern durch den Nationalismus mobilisieren. Die migrantenfeindlichen Ausschreitungen überschwemmten die Republik Sacha (Jakutien), eine weite Region im Osten der Russischen Föderation, reich an Diamanten und anderen wichtigen Bodenschätzen. Kampagnen gegen MigrantInnen, nationalistische Überfälle oder sogar Pogrome sind leider gar nicht so selten in Russland. Manchmal werden diese durch russische Nationalisten organisiert, wie es 2006 in Kondopoga (Karelien) oder 2013 im Moskauer Stadtbezirk Birjuljowo der Fall war. Von Zeit zu Zeit machen auch andere Nationalisten im Vielvölkerstaat Russland auf sich aufmerksam. Jedenfalls meinen laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“ nur etwa 28% der Befragten, dass man keinerlei Aufenthaltsbeschränkungen für Menschen anderer „Nationalität“ einführen solle (1). Jakutien ist eine Region, in der verschiedene Nationalismen koexistieren. Etwa 50% der Bevölkerung sind Jakuten, etwa 40% Russen, und es gibt sowohl jakutische als auch russische Nationalisten. Die ersten beklagen eine jahrhundertelange Russifizierung, die zweiten behaupten, man wolle sie aus der Republik verdrängen. Diesmal wurde aber ein anderes Objekt für die Kanalisierung des nationalistischen Hasses gefunden. Es waren die Kirgisen aus Zentralasien, die offiziell nur 1% der Bevölkerung Jakutiens ausmachen.
Alles begann am 17. März
In der Nacht zuvor war eine 36-jährige Frau von einem 23-jährigen Mann entführt, vergewaltigt und von zwei Mittätern gewaltsam in einer Autowerkstatt festgehalten worden. Der Mann und seine Komplizen wurden festgenommen. Die Ermittler machten seine Nationalität zuerst nicht bekannt. Im Internet wurde aber blitzschnell verbreitet, dass der Gewalttäter ein Kirgise sei. In den sozialen Medien erschienen Aufrufe zu Protesten gegen die MigrantInnen. Am Abend des 17. März kamen Hunderte von Menschen auf den Komsomolskaja-Platz in Jakutsk, um spontan einen „Zusammenhalt des Sacha-Volkes“ auszudrücken. Die Sprecher hielten Reden in jakutischer Sprache.
Fjodoor Borisow, hoher Vertreter der Administration Jakutiens, kam zur Kundgebung und erklärte, er teile die Sorge und den Zorn der TeilnehmerInnen. Er schlug aber vor, sich fürs erste zu zerstreuen und sich am nächsten Tag auf dem Sportgelände „Triumph“ zu versammeln. Zehn Tage danach erklärte das Oberhaupt Jakutiens, Aissen Nikolajew, die spontane Kundgebung auf dem Komsomolskaja-Platz sei eine „organisierte Provokation bestimmter Kräfte“ gewesen. Diese brachten angeblich die TeilnehmerInnen gezielt auf den Platz, wobei „die meisten betrunken waren. Es gab keine sinnvollen Forderungen, nur ‚Los geht’s, abfackeln‘ und ‚Kaputtschlagen, jawoll‘“, sagte er (2). Es gibt Informationen, dass diese Kundgebung durch den lokalen „patriotischen Kampfklub“ organisiert wurde (3). Am 19. März wurde ein 34-jähriger Mann wegen der Organisation dieser Kundgebung angeklagt und mit 20.000 Rubel Geldstrafe belegt (4).
Obwohl die Nationalisten am Abend des 17. März den Komsomolskaja-Platz verließen, brodelte es in den sozialen Medien immer lauter. Die Aufrufe, kirgisische Verkäufer, Friseure und Taxifahrer zu boykottieren, mehrten sich. Die Pogrom-Leute drangen in die Geschäfte der Kirgisen ein und zwangen sie, den Verkauf zu unterbrechen. Die Online-Medien waren voll von Videos bewaffneter Überfälle auf MigrantInnen. Walentina Tschupik, Juristin, erzählte auf Facebook, dass sie im Laufe des 18. März vierzehn Meldungen über solche Überfälle bekam. „Man bedrängt Kioske, Imbisse, Marktstände, Wohnungen, in denen die Migranten wohnen. Massenrazzien in der Stadt“, schrieb sie (5). Ein migrantischer Busfahrer wurde von sieben Menschen angegriffen; es gab weitere ähnliche Vorfälle (6). Die Polizei nahm die lokale Moschee in Schutz.
Am 18. März versammelten sich Tausende auf dem Sportgelände „Triumph“. Die TeilnehmerInnen unter den Fahnen der Sacha-Republik kamen sogar aus den benachbarten Bezirken. Es gab lange Autokolonnen. Das Stadion war übervoll. Vor allem jüngere Männer waren da. Mehrere ZuschauerInnen erzählten später, die Atmosphäre sei furchterregend gewesen. Die PolitikerInnen, die ihre Reden vor der versammelten Menge hielten, versuchten einander in nationalistischer Rage zu übertreffen. „Wir haben das alles lange ertragen. Aber jetzt ist unsere Geduld erschöpft. Wir alle müssen zusammenkommen, die Ordnung wiederherstellen. Wir sind in unserer Heimat, in unserer Stadt, als Eigentümer unseres Landes, und das müssen wir klarmachen“, erklärte Sardana Awksentjewa, Bürgermeisterin von Jakutsk (7). Diese Frau gilt als aufgehender Stern der Politik, seitdem sie gegen einen Kandidaten der Regierungspartei „Einheitliches Russland“ gewählt wurde. Viele sehen sie als entschlossene Kämpferin gegen die Korruption.
Das Oberhaupt Jakutiens, Aissen Nikolajew, blieb auch nicht hinter ihr zurück. „… Wenn die Zugereisten unsere jakutischen Traditionen und unsere russländischen Gesetze dreist mit Füßen treten, werden wir das nicht tolerieren! Ein Gast, der einen Gastgeber in seinem Haus beleidigt, ist nicht länger ein Gast, sondern ein Feind. Das multinationale Volk von Jakutien hat mich als Verteidiger seiner Interessen gewählt, und ich werde es beschützen“, rief er. „Unsere kleinen und mittleren Unternehmen sollten Jakutier einstellen, keine Migranten, deren Legitimität zweifelhaft ist“ (8). Während seiner Rede brandeten ohrenbetäubender Applaus und das Geschrei der Menge auf. Auf seiner Facebook-Seite schrieb Nikolajew, dass die Behörden Jakutiens auf die „frechen Ausschreitungen … der Bürger Kirgisistans“ mit einer Verschärfung der Migrationspolitik reagieren würden. Er versprach, Inspektionen von Unternehmen durchzuführen, illegale Migranten abzuschieben, falls erforderlich neue „restriktive und Verbotsmaßnahmen gegen Arbeitsmigranten“ einzuführen sowie gegenüber den Führern nationaler Gemeinschaften härter aufzutreten (9).
Die nationalistischen Überfälle gingen währenddessen weiter. Am 19. März, war die Stadt Jakutsk halbleer. Nach einer Welle von Angriffen gingen mehrere Busfahrer aus Zentralasien nicht zur Arbeit. Dutzende von Busrouten funktionierten nicht. Viele Obst- und Gemüseläden blieben geschlossen. Trotzdem wurden die Informationen über die Pogrome, Brandstiftungen, drei getötete und mehr als 20 verwundete MigrantInnen durch die Vertreter des Innenministeriums dementiert (10). Die Behörden sprechen lediglich von drei „Einzelfällen“ des „Rowdytums“. Erst am Ende der Arbeitswoche begannen die Läden wieder zu funktionieren; die Busse und Taxis kehrten auf die Straßen zurück. Aber die MigrantInnen fürchteten sich weiterhin, ihre Wohnungen zu verlassen.
Typisch war die Reaktion der Behörden auf den nationalistischen Ausbruch. Wie es auch nach den Pogromen in Kondopoga und Birjuljowo der Fall war, begegnete man den Nationalisten gleichzeitig mit (einer sehr milden) Peitsche und (einem sehr großen und süßen) Zuckerbrot. Einige Teilnehmer der migrantenfeindlichen Übergriffe wurden zwar festgenommen (11), aber die „Hauptforderung“ der Nationalisten wurde erfüllt. Das Oberhaupt der Republik verbot die Beschäftigung von MigrantInnen in 33 Wirtschaftsbereichen, darunter Pflanzen- und Tierproduktion, Holzeinschlag, Fischzucht, Lebensmittel- und Getränkeproduktion, Bau und Abriss von Gebäuden, Einzelhandel und Transportdienstleistungen (12). Die Bürgermeisterin verkündete massenhafte Kontrollen gegen MigrantInnen. Wie viele von ihnen Jakutien bereits verlassen haben, ist unbekannt.
Dabei ist offensichtlich, dass die nationalistische Hysterie keine reale Grundlage hat. Abgesehen davon, dass ein „kollektives Subjekt“ wie „DIE Kirgisen“ oder „DIE Mittelasier“ weder existiert noch für das Handeln eines einzelnen Individuums verantwortlich ist, stimmt der Mythos von der Bedrohung durch eine „Migranten-Kriminalität“ überhaupt nicht. So gab es 2018 in Jakutien 296 Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Integrität, aber nur vier davon wurden durch ausländische Bürger verübt (13).
Die Duldung und teilweise sogar Ermutigung der nationalistischen Ausbrüche und Emotionen durch die Behörden in Russland ist nicht nur einfach widerwärtig, sondern birgt auch die Gefahr einer weiteren Eskalation. Und wenn es in den „russischen“ Teilen der Russischen Föderation vor allem um den großrussischen Chauvinismus geht, so wachsen analog dazu auch in den „nichtrussischen“ Regionen eigene Chauvinismen. Die Nachrichtenagentur „SakhaNews“ warnte nach den Ereignissen: „Zittert, ihr politischen Parteien in Jakutien – ihr habt jetzt einen ernsthaften Konkurrenten, der in der Lage ist, zwei Massenkundgebungen in 24 Stunden zu organisieren. Das erste Mal war am Sonntag (!) auf dem Komsomolskaja-Platz in Jakutsk, und obwohl die Kundgebung nicht angemeldet und damit illegal war, wurde keiner ihrer Organisatoren gewarnt, dass er gegen das Gesetz verstieß. Vielmehr erhielten sie grünes Licht und saßen bereits am nächsten Tag triumphierend neben den Behörden. Ein wahrer Siegeszug einer neuen politischen Kraft, die sich so massiv in der Republik manifestierte!
Wenn die erste Kundgebung spontan schien, war die zweite klar durchdacht und ebenso gut vorbereitet. (…) Die Einzigartigkeit dieses Ereignisses liegt auch darin, dass das Problem aller EinwohnerInnen Jakutiens – in diesem Fall im Zusammenhang mit der Migrationspolitik – vielleicht zum ersten Mal in Jakutsk von Vertretern nur einer Nationalität diskutiert wurde. Dies lässt darauf schließen, dass die politische Kraft, die Solidarität und einen hohen Organisationsgrad bewiesen hat, mononationalen Charakter hat“ (14).
Vadim Damier
Dr. hist. habil. Vadim Damier arbeitet als Sozial- und Politikwissenschaftler in der Russländischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er forscht zur Geschichte der sozialen Bewegungen und ist aktiv in der anarcho-syndikalistischen Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik (KRAS). In der GWR 435 vom Januar 2018 analysiert er in seinem Artikel „Wem gehört die Krim?“ wie der russisch-ukrainische Konflikt von den Brüchen zwischen Regierenden und Regierten ablenkt: https://www.graswurzel.net/gwr/2018/12/wem-gehoert-die-krim/
Anmerkungen:
1) https://www.levada.ru/2018/08/27/monitoring-ksenofobskih-nastroenij/
4) https://news.ykt.ru/article/84550
5) https://www.bbc.com/russian/features-47627169
6) https://www.sibreal.org/a/29831338.html
7) https://www.infpol.ru/198089-v-yakutii-ustroili-miting-protiv-migrantov/
9) https://www.bbc.com/russian/features-47627169
10) https://news.ykt.ru/article/84550
11) https://www.sibreal.org/a/29831338.html
12) https://rg.ru/2019/03/28/reg-dfo/v-iakutii-vveli-zapret-na-rabotu-migrantov-v-33-sferah.html
13) https://www.infpol.ru/198089-v-yakutii-ustroili-miting-protiv-migrantov/