In diesem Jahr feiert Wilhelmshaven den 150. Jahrestag der „Benennung“ durch den damaligen preußischen König und späteren Kaiser Wilhelm I. Höhepunkt ist ein Festakt, bei dem rein zufällig die Verteidigungsministerin die Hauptrede hält. Das offizielle Logo der Feierlichkeiten ist ein Kaiser-Emoji mit Pickelhaube, Schnauzbart und neckisch zugekniffenem Auge. Ein netter Kaiser, und eine schöne Ergänzung zum Stadtwappen, das den „Rüstringer Friesen“ zeigt, einen Nagelfetisch aus dem Ersten Weltkrieg. Der Festakt endet mit einem „Großen Zapfenstreich“. Das Ereignis ist in mehreren Filmen auf Youtube festgehalten. In einem ist ein Herr zu sehen, der als „Kaiser“ ausstaffiert ist. Ist dieser Herr gemietet oder läuft er aus eigenem Antrieb so rum, und was davon wäre schlimmer? Sicher ist: Sein Glanz erhöht die demokratischen Stadtoberen, und auch manche Schaulustige verwandeln sich unter seinem Blick in Honoratioren. Im Hintergrund droht der zyklopische Rathausturm. User „Ludwig Franz“ kommentiert die Zeremonie: „Extrem schneidig!“. Ein großer Tag für sie alle, eine Irritation mehr für den Verfasser.
Vorweg aber: Wilhelmshaven ist ein lebenswerter Ort. Die Stadt liegt am Jadebusen, also an der Nordsee. Sie ist weitläufig, grün und noch nicht so durchökonomisiert. Wilhelmshaven fungiert als „Oberzentrum“ der Region und hat sogar ein größeres Theater. Die Mieten sind vergleichsweise niedrig. Hier gibt es noch Diskotheken, aber auch, wie überall, „besondere“ Burger-Imbisse. Wer gern an der frischen Luft ist, kann hier schön über den Deich radeln oder einfach am Meer abhängen. Ist das nicht da, dann gluckert das Watt freundlich vor sich hin. Es gibt jede Menge Vögel, darunter solche, die „der Knutt“ heißen und imstande sind, 5000 Kilometer nonstop zu fliegen. Im Sommer hocken bei Ebbe die Strandkrabben in der Deichböschung, und wenn der Wind nicht so pfeift, dann kann mensch ihr blubberndes Atemgeräusch hören. Im Winter sonnt sich schon mal eine Robbe auf dem Radweg. Ein Idyll also? Oh Wilhelmshaven! – ja wenn Du nur dieses Militarismusproblem nicht hättest.
Auf dem heutigen Stadtgebiet wohnten schon im Mittelalter Leute. Damals begann das Hin und her von Deichbau und Meereseinbrüchen bei Sturmfluten. Auch dadurch ist das Friesische eine alte Kulturlandschaft, mit Traditionen der Selbstverwaltung und einem gewissen Sinn für Unabhängigkeit. Im Jahr 1853 kaufte Preußen ein Eckchen Land am Jadebusen vom Herzogtum Oldenburg – einen Kriegshafen an der Nordsee wollte man haben. Mit Schippe und Schubkarre wurde am ersten Hafen gewerkelt. Mancher Arbeiter erkrankte dabei an Malaria. Im Zuge der „Flottenpolitik“ Wilhelms II. wurden Hafen und Marinewerftanlagen später massiv erweitert. Wilhelmshaven war damals eigentlich keine Stadt, sondern Militärmaschinerie. Mit dem Ausbau Wilhelmshavens wuchs aus den friesischen Ortschaften drumherum die ArbeiterInnenstadt Rüstringen, die formal zu Oldenburg gehörte. Rüstringen hatte ein mehrfaches an Fläche und EinwohnerInnen als Wilhelmshaven und war sozialdemokratisch geprägt. Während des Ersten Weltkrieges war Wilhelmshaven „Festung“. Trotzdem gab es hier 1917 und 1918 Matrosenrevolten, letztere war die Keimzelle der Kieler Revolte und damit der Novemberrevolution. In der Zeit der Nazidiktatur wurden Hafen und Marinewerften nochmal massiv erweitert, und 1937 wurde Wilhelmshaven mit Rüstringen vereinigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Stadt ca. 90.000 EinwohnerInnen, 1940 sogar 130.000. Um nach dem „Endsieg“ die Welt bequem per Schiff beherrschen zu können, planten die Nazis die Ausweitung der Stadt auf rund 500.000 EinwohnerInnen. Sie sollte bis hoch nach Schillig reichen, 30 Kilometer weit nach Norden, alles voll mit Militär und Werften. Dann kamen die alliierten Bomber. Nach 1945 hat die britische Besatzungsbehörde hier einiges an Demilitarisierung geleistet, bis sich im Zuge der „Wiederbewaffnung“ der BRD die Bundeswehr breitmachte. Aktuell ist Wilhelmshaven mit ca. 10.000 Beschäftigten (Soldaten und Zivilbeschäftigte) der größte Bundeswehrstandort überhaupt. Die Bundeswehr hat hier zwei große Areale (Marinearsenal und Stützpunkt Heppenser Groden), dazu viele kleine. Seit den 70er Jahren ist die Stadt von 100.000 auf ca. 75.000 EinwohnerInnen geschrumpft. Da viele Soldaten auch nach ihrer Dienstzeit hier bleiben, Familien gründen usw., wird geschätzt, dass etwa die Hälfte der EinwohnerInnen einen direkten oder indirekten Bezug zur Bundeswehr hat.
In so einer Stadt zu leben bedeutet, dass mensch nicht mal Brötchen holen kann, ohne Soldaten in Uniform zu begegnen. Überall Bundeswehr-Fahrzeuge auf den Straßen. Kaum ein Mietshaus, in dem nicht Soldaten wohnen. Zwar gibt es im Bundeswehr-Stützpunkt Wohnhäuser für die Soldaten, aber viele wohnen doch in der Stadt. Es gibt sogar einen Erlass, nach dem die Soldaten nicht mehr auf den Schiffen nächtigen dürfen. Die Wohnungswirtschaft wird es freuen. In der Nachbarschaft kann es auch eine Bundeswehr-Sporthalle geben oder ein Gästehaus. Die ganze Nachbarschaft kann für Soldaten gebaut sein, wie etwa der Stadtteil Wiesenhof. Natürlich können Soldaten auch im Sportverein sein, in Elterngremien, auch der Handwerker kann ein ehemaliger Soldat sein. Speditionen werben hier damit, dass sie für die Bundeswehr arbeiten, in einer Pizzeria gibt’s für Soldaten Rabatt, Zimmer werden bevorzugt an „Soldat oder Student“ vermietet. Wie mit Nachbarn umgehen, deren Beruf es ist, auf Befehl (und für Sold) andere Leute umzubringen? Der Verfasser dieses Textes hat auch nach knapp zwei Jahren Wilhelmshaven für dieses Problem noch keine Lösung gefunden. Ein anderes Problem: Indem die Stadtgesellschaft von Soldaten durchsetzt ist, wird das Thema Militarismus zum Tabu. Wer will sich schon ständig mit Nachbarn, Kollegen, Verwandten und Bekannten anlegen? (1)
Zustimmung ist gefordert, Kritik ist unerwünscht.
Das gilt auch auf (stadt-) politischer Ebene. Es heißt: Die Bundeswehr bringt Geld in die Stadt. Vielleicht, aber in wessen Taschen landet es? Ließe sich das Geld nicht sinnvoller aus dem Fenster werfen? Dann käme es ja auch irgendwo an… Aber das hört hier niemand gern. Und es wird ja auch tatsächlich profitiert, in der Bauwirtschaft zum Beispiel. Neue Werkhallen und ein neues Dock im Marinearsenal, der Ausbau des Marinestützpunkts: im Laufe der nächsten zehn Jahre wird hier ein Milliardenbetrag verbaut. Das freut auch die hiesige Bundestagsabgeordnete Siemtje Möller von der SPD. Die Bundestagsabgeordneten von hier sitzen traditionell im Verteidigungsausschuss. Frau Möller hält im Bundestag Reden, die sie genauso gut für die CDU halten könnte. Auf Frau Möllers Homepage sind Fotos zu sehen, die sie in einem Eurofighter zeigen oder gar im Kreise der Admiralitäten. Wenn Frau Möller sich nicht gerade auf einem Kriegsschiff befindet, dann ist zumindest im Bildhintergrund eines zu sehen.
Immer auf Seiten des Militärs ist die „Brune-Mettcker Druck- und Verlagsgesellschaft“ mit ihrem Flaggschiff (!) „Wilhelmshavener Zeitung“ (WZ) und anderen Blättern. Die WZ ist ein bürgerlich-rechtsgewickeltes Blättchen und verfügt über eine eigene Rubrik „Hafen & Marine“. Dort erscheinen Artikel, in denen jedes neue Beiboot der Bundesmarine gefeiert wird. Oder es wird über die „Erhabenheit“ der wilhelminischen Militärarchitektur schwadroniert, auf den aktuell besonders dringlichen Bedarf an Militärkapellen hingewiesen, usw. Kritische Distanz? Nicht bei der WZ.
Der vielleicht wichtigste Propagandist ist das angeblich private „Deutsche Marinemuseum“. Es ist so privat, dass der Staat das Gelände stellt und die Bundeswehr einen Teil der Exponate, darunter große Schiffe. Deren Instandhaltung macht das Marinearsenal, und es ist nicht bekannt, dass dafür Rechnungen gestellt werden. Vorstand und Kuratorium der Trägerstiftung bilden Seeoffiziere, die ihrem Rang nach aufgezählt werden. Dazu kommen Bundeswehr-Wissenschaftler sowie seltsamerweise Leute von verschiedenen Sparkassen. Schließlich der Oberbürgermeister Wagner von der CDU. Dieser ist Kriegs-Kapitän, wenngleich nur der Reserve, und ebenfalls bei der Sparkasse tätig. Zu den Förderern des Museums gehören (neben Kirchen und Sparkassen) die Baufirma Nietiedt, der Uniformenhersteller Erich Fritzsch KG sowie die Rüstungsfirma Thales. Der naheliegende Verdacht, dass hier Gelder aus dem Verteidigungshaushalt in das private Museum geleitet werden, entbehrt jeder Grundlage. Schließlich hat der Bund dem Marinemuseum gerade knapp zwölf Millionen Euro spendiert, für den weiteren Ausbau, und das ganz offen und natürlich zum Jubel der Abgeordneten Möller. Aber wozu eigentlich eine private Trägerschaft? Nun, zahlen darf der Staat, aber das Sagen im Museum haben doch besser Offiziere und Lobbyisten – und eben nicht demokratische Institutionen. (2)
Das Marinemuseum möchte laut Homepage „das Verständnis für die historische Rolle der deutschen Marinen entwickeln, fördern und erhalten“, um „auf die maritimen Abhängigkeiten Deutschlands hinzuweisen und die Notwendigkeit von demokratisch kontrollierten Seestreitkräften zur Verteidigung und zur Wahrnehmung von Aufgaben im Rahmen internationaler Bündnisse zu vermitteln“. Zu diesem Zweck bietet es „gezielt Angebote für Schulen und die Bundeswehr“ an. Daneben wendet man sich an ein allgemeines, technik-affines oder ereignisgeschichtlich interessiertes Publikum. Hatte das Museum auf eine historische Einordnung im Sinne einer Periodisierung zunächst verzichten wollen (mangels angenommener Unreife der BesucherInnen) und dem „Belehren“ die „Unterhaltung“ entgegen setzen wollen (3), so hat sich seitdem einiges getan. Heute gibt es sehrwohl historische Kontextualisierungen, und zwar vorrangig in Form von „ruhigen Bilderfolgen“. (4) Die Periodisierung selbst hat es in sich. So gibt es nur drei Zeiträume: das „Zeitalter der Weltkriege 1914 – 1945“ und eben jeweils den Zeitraum davor und danach. Mit dieser eleganten Einteilung sind NS und Zweiter Weltkrieg, die ja durchaus gewisse militärgeschichtliche Besonderheiten aufweisen, in einer größeren Epoche von Chaos und Gewalt aufgegangen. Na bitte. Und der Erste Weltkrieg ist einfach mal von dem Regime getrennt worden, das ihn maßgeblich (mit-)verantwortet hat: dem Deutschen Kaiserreich. Dieses kann denn auch sepia-mild in „Pracht“ und „Erhabenheit“ aufscheinen. Chapeau!
Und weil sich die Zeiten geändert haben, kann auch mal einem liberalen Air Raum gegeben werden. So macht das Marinemuseum in diesem Sommer eine Ausstellung mit dem DDR-Punk-Popart-Künstler Moritz Götze. Dieser wird sein Werk („Scapa Flow“) zweifellos als subversiv ansehen – aber wird es nicht doch instrumentalisiert? Gerade das (Schein-)Liberale des Museums und seines Leiters Dr. Huck qualifiziert es nämlich dazu, bei allem anderen, was in Wilhelmshaven so an Historischem veranstaltet wird, eine Art wissenschaftliche Oberaufsicht auszuüben. Wenn also die Landesbühne anlässlich des 100. Jahrestags der Novemberrevolution ein Stück aufführt, das auf antimilitaristischen Texten von Ernst Toller und Theodor Plivier basiert, dann sorgt Dr. Huck dafür, dass sich auch die Perspektiven der Offiziere in der Aufführung wiederfinden. Und wenn die Stadt Informationsstelen zur Novemberrevolution in Wilhelmshaven hinstellt, dann schreibt Dr. Huck die Texte. Und selbstverständlich ist das Marinemuseum auch Vermarktungs-Partner der städtischen „Wilhelmshaven Touristik & Freizeit GmbH“ (WTF), z.B. als Teil der „Maritimen Meile“. (5)
Immer an Bord
Die Bundeswehr ist in Wilhelmshaven immer mit an Bord, egal, ob es um das jährliche Gedenken an den November-Pogrom von 1938 geht oder um das „Größte Labskaus-Essen der Welt“, wo das „Marinestützpunktkommando“ unter Mitwirkung eines „Marine-Portepee-Unteroffizier-Korps Wilhelmshaven“ jährlich eine „Truppenküche“ öffnet, am besten Platz natürlich. Also durfte sie bei den Feierlichkeiten zu „150 Jahre“ auch nicht fehlen. Geboten wird hier allerhand: Als erster Höhepunkt wurde im März mit dem Event „Wilhelmshaven leuchtet“ der Kaisergeburtstag begangen. Es laufen auch immer noch Veranstaltungen, aber die Hauptfeiern fanden in Form eines „Volksfestes“ statt, unmittelbar vor dem „Festakt“ am 17. Juni. Und damit auch ja genug Leute kommen und als mampfende Kulisse einen würdevollen Rahmen bieten, wurde das jährlich veranstaltete „Wochenende an der Jade“ mit dem „Tag der Niedersachsen“ fusioniert, der alle zwei Jahre in einer anderen Stadt stattfindet. Wie immer beim „Wochenende“ waren Großsegler da (Romantik!) und gleich daneben eine Fregatte der Bundesmarine. Dazu weitere Kriegsschiffe, auch Zoll und Bundespolizei, und Shanty-Chöre. Und wie immer beim „Tag der Niedersachsen“ hatten Landes- und Bundesbehörden ihre Informationsstände. Der Hit war die „Blaulichtzone“, mit altem Zoll-Bully und Reiterstaffel (ohne Blaulicht). Gleich daneben der Rekrutierungs-Stand des Reservisten-Verbandes. Dazu der übliche „konfektionierte Kommerz-Rummel“, wie es in einem Protest-Flyer hieß, und Trachtengruppen. Es kamen 300.000 Leute, und alle haben sie das Stadtjubiläum gefeiert, unter dem allgegenwärtigen Emoji-Logo vom lustigen Kriegstreiber Wilhelm. Happy Kaiserreich allerorten, stolze Preußen, schicke Uniformen. Wilhelmshaven hat nämlich noch ein anderes Problem, es möchte Marke sein. Die Tourismus- und Event-Wirtschaft braucht das. „Emotionalisierung“ ist das Schlagwort der Stunde. Historische Narrative („neue Traditionen“) sollen in die Zukunft weisen. Auch die Immobilienwirtschaft der geschrumpften Stadt freut sich über jede Art von „Aufwertung“. Und was fällt den Kreativen ein? Kaiserkitsch. Welcher Kaiser, was war mit dem, was hat der gemacht? Ach so, Militarist, Gewaltherrscher, Anti-Demokrat? (6) Egal, Hauptsache Kaiser. Und so gibt es hier alles in Kaiser, also Gebäck, Schnaps, Tee, Schokolade. Es gibt einen Kaiser-Wilhelm-Schnickschnack-Laden und eine Kaiser-Wilhelm-Pizzeria, die eigentlich ein Döner-Laden ist, das vermutlich einzige „Kaiser Wilhelm der Große“-Denkmal der Welt (frisch nachgegossen in den 1990er Jahren). Es sollte sogar ein „Wilhelm“-Outlet-Center gebaut werden. Auch hier waren die „Kreativen“ auf ein Bart-Logo verfallen, und als besondere Eigenschaften des Kaiser wurden „Etikette“ und „Höflichkeit“ behauptet. (7) Die gleiche Agentur bewirbt nun auch „W-Spritz Bio Apfelschorle“. Produkteigenschaften: „heiter und W…spritzig“. (8)
Die interessantere Party fand übrigens am Mittag des 17. Juni auf dem Marinestützpunkt statt, vor Festakt und Zapfenstreich. Die neue Fregatte „Baden-Württemberg“ wurde der Marine übergeben, als erstes von vier Schiffen dieser Klasse, mit denen laut Pressetext eine „neue Ära“ der Bundesmarine beginne. Den Sektflaschenwurf führte Taufpatin Gerlinde Kretschmann aus, die „grüne“ First Lady des namensgebenden Bundeslandes. (9) Zum Aufgabenspektrum des angeblichen Super-Schiffes gehören „Einsätze in der Bündnisverteidigung und Krisenprävention sowie humanitäre Rettungsmissionen, Terrorismusbekämpfung und die Abwehr asymmetrischer Bedrohungen wie unter anderem Piraten“. (10)
Der Wirtschaftsjournalist Hermannus Pfeiffer hat in seinem gleichnamigen Buch der „Seemacht Deutschland“ (2009) nachgespürt, von der Hanse über Wilhelm bis zur rot-grünen Bundesregierung. „Seemacht“ bedeutet laut Pfeiffer die Kontrolle über einen Teil der Warenströme und sowie des Personenverkehrs, aber auch die Möglichkeit, mit militärischen Mitteln Druck auszuüben („Kanonenboot-Politik“), bis hin zu tatsächlichen Angriffen – lebt doch ein Großteil der Menschheit in Nähe von Küsten oder schiffbaren Flüssen. (11) Zwar hat sich seit dem British Empire manches geändert, dennoch bedeute Seemacht auch heute noch politische Macht, und, in den Zeiten der Globalisierung, natürlich ökonomische. Pfeiffers These ist, dass die Regierung Schröder / Fischer mit großem Engagement die Herausbildung eines „Maritimen Komplexes“ gefördert hat, in dem militärische, politische und ökonomische Interessen koordiniert werden, unter Mitwirkung von Bundeswehr, Rüstungsindustrie, Werften, Reedereien, Handelsunternehmen, Banken, Versicherungen, Wissenschaft, Parteien, Gewerkschaften, usw. Mittel und Ausdruck dieser Vernetzung seien u.a. die „Nationalen Maritimen Konferenzen“, die seit dem Jahr 2000 stattfinden. (12) Pfeiffer hat einen links-evangelisch-alternativen Hintergrund und verweist in diesem Buch und auch in anderen Texten auf unfaire Nord-Süd-Handelsbeziehungen, auf wachsende Kriegsgefahr durch „Seemachtbestrebungen“, und auf die Zusammenhänge von „Seemacht“ mit den Fluchten über das Mittelmeer. (13) Diese Fragen spielen in der Wilhelmshavener Öffentlichkeit leider kaum keine Rolle. Dabei ist hier alles da: Die Bundesmarine, ein Containerhafen, Öl- und Chemiehafen, Rüstungsindustrie, und Geflüchtete auch. Rund 40 Hochbunker aus dem letzten Krieg sind auch noch da, teils mitten in Wohngebieten. (14) Und wer es weiß, kann sehen, dass einzelne Stadtteile während desr NS-Zeit schon auf die einkalkulierte Bombardierung hin gebaut worden sind. (15)
Das Militär ist in Deutschland wieder Normalität geworden. Militarismus im Sinne einer „Dominanz militärischer Wertvorstellungen und Interessen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben“ (16) ist Alltag, und gerade die (Schein-) Normalität ist Teil des Problems. Zur Durchsetzung militaristischer Ideologie tragen Propaganda und Ausblenden gleichermaßen bei. An wenigen Orten wird das so deutlich wie in Wilhelmshaven.
Bis in die 1990er Jahre hinein gab es in Wilhelmshaven eine lebhafte links-alternative Szenerie. Die Zeitschrift „Gegenwind“ ist hierfür eine spannende Quelle. Es gab vielfältige pazifistische und antimilitaristische Aktivitäten, von ganz links bis hin zu Leuten aus der SPD oder auch engagierten Pfarrern. Das „klare konfrontative Verhältnis“ zwischen Gegnern und Befürwortern der Bundeswehr habe sich dann in den 90ern aufgelöst, so ein Aktivist, wie anderswo auch. Aktivismus ist hier inzwischen keine leichte Sache, aus den beschriebenen Gründen. Es gibt keine Uni, und viele jüngere gehen weg. An Ostern gibt es noch immer einen „Friedensmarsch“, der Altersschnitt ist hoch. Aber es gibt dort auch jüngere Leute, manche von ihnen tragen auch die Orga-Arbeit mit. Nachdem 2018 ausgerechnet die Abgeordnete Möller beim Friedensmarsch reden durfte, war das in diesem Jahr nicht mehr der Fall, nach entsprechenden Diskussionen. Anlässlich des diesjährigen „Stadtjubiläums“ gab es ein kleines, von einem diversen Bündnis getragenes und basisdemokratisch organisiertes Gegen-Jubiläum, unter den Motto: „Für ein rebellisches, solidarisches, anderes Wilhelmshaven“.
Heiko Schmidt
Anmerkungen:
1) Bei all dem ist hier nur von dem biederen Soldaten-Typ die Rede. Der Umgang mit Landsknechtscharakteren, Rechtsradikalen, Extrem-Sexisten usw. stellt noch vor ganz andere Herausforderungen. Milieu-Beschreibungen lassen sich den letzten Skandalen entnehmen (Fall Jenny Böken, „Hannibal-Netzwerk“, usw.).
2) Das Marinemuseum ist in den 1990er Jahren entstanden, als Konkurrenz-Projekt zu einem Stadtmuseum mit einer Abteilung zu Werftarbeitern und Marine. Dieses wurde u.a. von linken Gewerkschaftern vorgeschlagen, durchgesetzt hat sich am Ende eine Bundeswehr-nahe Gruppe um den SPD-Stadtrat Graul. Interessante Berichte hierzu finden sich im Online-Archiv der links-alternativen Zeitschrift „Gegenwind“, z.B. in den Ausgaben 140, 141, 147.
3) Vgl. Hartmut Peters: Wie man die Geschichte privatisiert und für die eigenen Zwecke nutzt. Das Deutsche Marinemuseum sorgt für eine schönere Vergangenheit und hat maritime Absichten. In: Gegenwind 147 (1998).
4) Vgl. www.marinemuseum.de
5) Spötter meinen, es sei Dr. Huck gewesen, der dafür gesorgt habe, dass beim kürzlich von der WTF veranstalteten „Hippierella-Festival“ zwar viel von „Love“, dafür weniger von „Peace“ die Rede war. So ein Unsinn. Schließlich ist die Bundeswehr eine Friedensarmee, vor allem seitdem sie wieder im Krieg ist. Insofern macht eine solche Intervention keinen Sinn. Vielmehr wäre doch gerade das private Museum der Friedensarmee bestens dafür qualifiziert, bei so einem Festival die „Peace“-Komponente zu gestalten. Vielleicht im nächsten Jahr?
6) „Wilhelm I.“ war schon 1848 bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung durch besonders blutrünstige Rhetorik aufgefallen und deswegen bei den Leuten so verhasst, dass er für einige Zeit nach London geschickt werden musste. Unter seiner Verantwortung wurden dann zwischen 1864 und 1871 die drei „Einigungskriege“ geführt, 1878 das Sozialistengesetz erlassen, und auch der Beginn des deutschen Kolonialismus in Afrika und Asien fällt unter seine Herrschaft. Ähnlicher ist das Emoji übrigens seinem Sohn, der als Wilhelm II. ein Despot und in erheblichem Maße für den Ersten Weltkrieg verantwortlich war.
7) Dahinter steckt ein lokaler Textil-Fabrikant. Mit ansonsten gleichen Texten und Bildern wurde übrigens auch ein „Barbarossa-Outlet-Center“ projektiert, dieses im hessischen Gelnhausen. Beide Objekte sollten seit Jahren fertig sein. Wilhelmshaven hat eine Geschichte kurioser Gewerbeansiedlungen, verknüpft mit originellem Verwaltungshandeln. Vgl. hierzu: Handlögten / Venske: Dreckiger Sumpf. Konzerne, Kommunen, Korruptionen. (1983). Dies: Wilhelms wahnsinnige Erben. Dreckiger Sumpf II. (1996)
8) Näheres unter „deskaisers.com“. Die „Methode“ der Werbefirma (für Branding, Selfness, Business usw.) beruht laut Firmen-Homepage u.a. auf „Esoterik“.
9) Einen eindrucksvollen Bericht über diese Zeremonie bringt die Seite www.reunion-marine.de, die sich für „Verbindungen“ zwischen Marine und Gesellschaft zuständig sieht. „REUNION Marine“ ist „eine Vereinigung von ehemaligen Teilnehmern von Informationswehrübungen (InfoWÜ)“. Leider steht auf der Seite nicht, wer die Vereinigung finanziert.
10) Wikipedia, Eintrag „Baden-Württemberg-Klasse“
11) Laut Pressemitteilung der Bundeswehr vom 11.6.2019 gibt die neue Fregatte der Marine „die Fähigkeiten zur weitreichenden taktischen Feuerunterstützung von Heereskräften an Land“. Leider steht da nicht, welches Land beschossen werden soll. Die Indienststellung am Tag des Stadtjubiläums verweise auf die „enge Verbundenheit zwischen der Marine und dem Heimatstützpunkt aller Fregatten“, so die Pressemitteilung (vgl www.presseportal.de).
12) Ein Pendant hierzu ist der „Nautische Verein Wilhelmshaven-Jade“, der schon seit 1960 ähnliche Vernetzungsaufgaben erfüllt. Auch hier ist die Bundesmarine stark vertreten.
13) Siehe Beiträge auf www.evangelisch.de
14) Während der NS-Diktatur gab es hier etwa 200 Hochbunker, vor allem für Truppen und Werftarbeiter, dann auch für „normale“ Bevölkerung. Manche waren als „Trutzbunker“ ausgeführt, andere als getarnte „Hausbunker“. Firmen und Schulen hatten eigene Bunker. Die noch existierenden werden unterschiedlich genutzt: manche als Wohnhaus, einer ist heute ein Altersheim, in einem betreiben solche Militaria-Typen ein privates Bunkermuseum, mindestens einer ist auch noch als Zivilschutzbunker aktiv. Einer trägt eine Friedensbotschaft von Gustav Heinemann. Die verbreitete Sichtweise beschränkt sich aber darauf, dass es diesen Bunkern zu verdanken sei, dass bei den Bombardierungen Wilhelmshavens durch die Alliierten nur vergleichsweise wenige Leute zu Tode kamen, und schreibt so die Opfer-Propaganda der Nazis aus dem Zweiten Weltkrieg fort.
15) In Fedderwardergroden etwa, einem bis 1943 gebauten Arbeiterbezirk, wurden Straßenbreiten und T-förmige Einmündungen so geplant, dass die Stadt (als Militärmaschinerie) auch nach einer Bombardierung noch funktionsfähig ist.
16) Vgl. Wikipedia
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.