Hausbesetzungen als kühne Hypothese

Eine situationistisch inspirierte Reflexion

| Eklat

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Transpi der Zentrale-Besetzer*innen (Initiative Münster Bahnstadt Süd) beim Breul-Tibus-Straßenfest, 24.8.2019. Foto: Bernd Drücke

Im Juli 2019 haben gleichzeitig in Köln, Tübingen und Münster Hausbesetzungen stattgefunden. Zwei davon (Köln und Münster), haben nicht länger als zwei Wochen überleben können. Welche politische Bedeutung kann eine Hausbesetzung haben, will man nicht sofort alles auf die Frage nach bezahlbarem Wohnraum zurückführen? Im Folgenden soll eine Reflexion der Besetzungserfahrung versucht werden.

Hausbesetzungen stehen an der Schnittstelle zwischen Alltagsleben im kapitalistischen Normalzustand und der Möglichkeit eines subversiven und ausgreifenden Handelns. Diese Gesellschaft – trotz aller realen Privilegien, die sie uns noch in unseren Breitengraden gewährt – bringt ein Leben als Unannehmlichkeit hervor. Das vor allem deshalb, weil alle Subjekte, alle Beziehungen alle Handlungen, aber auch die Weisen, diese Welt wahrzunehmen und über sie zu reden, ihre Gestalt vom Grundgesetz der kapitalistischen Abstraktion unter Verwertungszwang gewinnen. Es ist dieses Gesetz, das alles in unserer Welt besetzt. Das heißt aber: Alles ist einer irrationalen und unmenschlichen Regel untergeordnet, die, während sie uns ziemlich sicher in Richtung Katastrophe reitet, allerlei Ausschluss, Angst, Scheinbefriedigungen, Verarmung des Lebens, Gewalt, Trennung beschert. Zu allem Hohn präsentiert sich die daraus entstehende Ordnung als unveränderbar, natürlich, notwendig. Unser Alltag ist dadurch voller scheußlicher Selbstverständlichkeiten: rassistische, sexistische, heteronormative, LGBTQI*-feindliche, antisemitische Kackscheiße eben.

Für uns aber heißt das, dass wir uns oft in einer Zwickmühle finden. Diese Verhältnisse versauen unser Leben, wir merken es nicht mehr oder zumindest kommen wir nur schwer auf die Idee, dass diese Verhältnisse verändert werden könnten. Eben alles ist von diesen Verhältnissen besetzt, auch wir. Gerade wir Menschen reproduzieren in unserem Alltag – als Produzent*innen und Konsument*innen, aber auch als Wähler*innen und Menschen mit „Freizeit“ – diese Verhältnisse. Es ergibt sich dabei immer wieder eine gewaltsame Trennung von unseren „radikalen Bedürfnissen“ (1), wie sie bei Marx und dann bei den Situationisten heißen, von dem, was Menschen menschlich leben lässt und eine Gewöhnung an dieses Unmenschliche. Diese Trennung scheint uns selber selbstverständlich und geht so weit, dass das, was wir als unsere Bedürfnisse wahrnehmen, all zu oft schon Funktion der Verwertung ist. Was wir als unsere Bedürfnisse wahrnehmen, ist schon kapitalistisch kolonisiert.

Was aber sind unsere radikalen Bedürfnisse, die uns zum Protest gegen diese Zustände anleiten?

Diese haben damit zu tun, dass wir unsere Bedürfnisse in einem gewissen Grad selbst bestimmen können und das gegebene „System der Bedürfnisse“ (Hegel) umwälzen können (2); dass wir kreativ und frei uns selber gestalten können, befreit von Identitätszwängen (3); dass wir befreit in Beziehungen eingehen können, die nicht einer Norm und einem Zweck untergeordnet sind. Wenn hier von einer Befreiung der Bedürfnisse, der Beziehungen und sogar der Sinne die Rede ist, dann ist weder eine Rückkehr in einem vor-zivilisierten, primitiven Naturzustand gemeint und noch weniger eine Huldigung eines Ursprünglichen. Dann ist erstens die Befreiung der Individuen zur Fähigkeit, selbstbestimmt und selbstorganisiert Gesellschaft zu gestalten, zugunsten der individuellen Freiheit aller, gemeint. Eben jene Assoziation freier Menschen, in der „die freie Entfaltung des Einzelnen die Bedingung der freien Entfaltung aller ist“ (und nicht umgekehrt!), das ist eine Gesellschaft, die nicht auf eine zum Sachzwang erhobene Gewalt und Unterdrückung gründet. Und es ist die Ermächtigung gemeint dazu zu wissen, dass Geschichte möglich ist – und nicht nur die ewige Reproduktion des herrschaftsgeladenen kapitalistischen Elends und seiner Traurigkeit.

Die Veränderung, die man braucht ist eine ums Ganze. Sie betrifft alle Bereiche und muss bei uns anfangen. Die Besetzung und Bewohnung eines Hauses bedeutet vor allem das: Einen Raum zu schaffen, um sich von dem etatistisch-kapitalistischen Alltag zu befreien und neue Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist eine Hausbesetzung ein Akt der Subversion, mit dem die gegebenen Regeln für eine kurze Zeit und in einem begrenzten Raum außer Kraft gesetzt werden und gezeigt wird, dass sie weder ewig noch sakrosankt sind. Innerhalb dieser Verhältnisse setzen Akte der Subversion etwas entgegen, in und mit den Mitteln, die im Bestehenden gegeben sind. Das hat die „Zentrale“ in Münster auf unterschiedliche Weisen – wenn auch für kurze Zeit – getan:

Die Zentrale ist eine Art Forschungsstätte und Experiment gewesen. Hier haben Menschen versucht zu sehen, was möglich sein kann, wenn nicht der kapitalistische und patriarchale Normalzustand waltet. Hier haben auch Menschen erfahren, wie sehr dieser Normalzustand auf sie lastet, wie sehr sie darin verwickelt sind. Gerade nach einer Woche, wurde das – vor allem in Bezug auf die Frage nach der Reproduktion von Geschlechterrollen – zum Thema. Aber eben: Um überhaupt daran arbeiten zu können, muss man sich vom Druck des Normalzustands ein befreien. In der Zentrale wurde also eine Situation konstruiert, in der für eine kurze Dauer und an einem kleinen Ort, eine „kühne Hypothese“ erprobt wurde. Diese Hypothese musste und konnte ständig durch die gesammelten Erfahrungen korrigiert werden. (4)

Dabei war es von Anfang an ein Handeln unter Ungewissheit: ein Handeln, dessen Wahrheit eine Zukunft aufzeigen wird, in der sich das versuchte als wahr erwiesen haben wird, wie es der Fall für jedes über den status quo ausgreifende Handelns ist. (5) Die „Zentrale“ war ein befreiter Raum, in dem anderes ausprobiert werden und Form gewinnen konnte und in dem Menschen sich erholen konnten von dieser Gesellschaft. Nicht nur, weil man hier gechillt abhängen konnte (auch das: Befreite Gesellschaft heißt auch Freiheit zur Faulheit!), sondern weil die Alltagstätigkeiten hier anders aussehen konnten. Die „Zentrale“ ist ein Raum für Ausgeschlossene und für eine Überwindung der unsichtbaren Grenzziehungen, die auch in dieser Stadt (gewalttätig) aufrechterhalten werden. Die Zentrale hat nämlich auch einige Menschen angezogen, die diese Gesellschaft auf die Straße geworfen hat, denen diese Gesellschaft permanent sagt: Du hast hier nichts zu suchen, zeig dich am besten nicht. Schließlich hat die Zentrale etwas in diesem Stadtviertel erweckt. Bei einem Vernetzungstreffen kamen mehr als 50 Menschen aus dem Stadtviertel, aus der Kultur- und Künstler*innenszene, aus ökologischen Zusammenhängen, aus dem sozialen Bereich, aus der Lokalpolitik zusammen. Alle konnten mit der Besetzung und mit den Sorgen um die Entwicklungen im Viertel ihre Anliegen verbinden. Es hat sich gezeigt: Die Besetzung der Zentrale ist ein Ereignis gewesen, das Neues präsentiert und Möglichkeiten, die vorher unmöglich schienen, eröffnet hat; ein Ereignis, das Menschen gesammelt und Kämpfe verbunden hat. So ein Ereignis endet nicht bei sich, sondern geht mit uns, die wir es weitertragen weiter.

Gerade weil so eine Besetzung nicht nur ein Spaß ist, sondern ein Akt mit politischem Potential, erfuhr sie nun Repression. Einem Raum, der Freiheit von Angst und Zwang schaffen wollte, wird Angstdrohung und Gewalt entgegengesetzt. Schon am Anfang der Besetzung wurden Menschen vom Staatsschutz verhört. Während rechtsextreme Netzwerke Todeslisten führen, kümmern sich die Behörden um Hausbesetzer*innen und solidarische Menschen. Aber irgendwie passt das. Denn ja, so eine Besetzung setzt diese gesellschaftliche Ordnung in Frage. Oder genauer: Sie schafft einen Raum, um diese Ordnung in Frage stellen zu können. Sie demaskiert, dass es in unserer Gesellschaft nicht ernsthaft um Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit geht. Hier und dort schon, aber immer als Mittel zum letzten Zweck dieser Gesellschaft: Die (zutiefst irrationale und unmenschliche) Verwertung. Dass der Staatsschutz eingeschaltet wurde, passt.

Denn der bürgerliche Staat ist schon immer auch gewaltbereite Instanz, die diese Gesellschaftsform schützt. Er sorgt dafür, dass Hierarchien und Unterdrückungsverhältnisse, Elend und Trostlosigkeit, Mühe und Angst als normal und rechtmäßig gelten. Er sorgt dafür, dass diese Normalität nicht in Frage gestellt werden kann, dass nichts hervorwächst, was nicht schon in die vorgegebenen Bahnen passt oder diese durchkreuzt. Der Staat heißt: Diesen Status Quo, die Alternativlosigkeit, die Begrenztheit von Möglichkeiten schützen und als absolut erklären. (6)

Am Ende dieser Besetzung stand die Polizei. Sie hat die Menschen aus dem Haus getrieben und dann die Türen verriegelt. Dadurch hat sie dafür gesorgt, dass es dort eben nichts mehr zu sehen gibt. Das ist die normale Funktion der Polizei: Eine bestimmte „Aufteilung des Sinnlichen“ (7) aufrecht zu erhalten. Damit ist mehreres gemeint. Dass diese Welt nach einer Regel aufgeteilt ist, nach der nicht alles allen zugänglich ist. Das übersetzt sich auch in eine Zuteilung von Rollen, die nicht ohne weiteres gebrochen werden kann. (8)

Schließlich übersetzt sich diese Aufteilung in eine bestimmte Weise, Dinge wahrzunehmen und zu erfahren. Ja, die Form dieser Gesellschaft bestimmt die Gestalt unseres Alltagslebens und damit auch dessen, was wir erfahren und erleben können. Wenn sich doch etwas ereignet, dass diese Aufteilung aufbricht, was neue Erfahrungen, neue Beziehungen und damit neue Fragen und Praxisformen ermöglichen könnte, dann muss das verhindert werden. Dann steht die Polizei da und sagt: „Es gibt nichts zu sehen, geht weiter“. Wenn sich aber doch eine subversive Erfahrung etabliert und sich ein „Überschuss“ an einer leeren Stelle des Systems ergibt, wenn sich Subjekte, die vorher nicht reinpassten (nicht sein durften, nicht sein konnten) sich von selbst präsentieren, dann sorgt die Polizei dafür, dass es all das einfach nicht mehr gibt. Was sich in den Tagen der Besetzung der „Zentrale“ eröffnet hat, wurde gewaltsam geschlossen. Dabei gilt es in Erinnerung zu behalten: Geschichte ist machbar, die Zukunft ist ungeschrieben. Das Kontinuum des notwendigen Elends kann unterbrochen werden (9) und jeder Augenblick hat seine Chance in sich (10).

Eklat

Anmerkungen:

1) Vgl. MEW 1, 387.

2) Vgl. Heller, Theorie der Bedürfnisse bei Marx.

3) Vgl. Bini Adamczak, Zur Konstruktion einer kommunistischen Begierde.

4) Vgl. Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, 19.

5 & 6) Vgl. Badiou, Sein und Ereignis, 446; 125ff.

7) Vgl. Rancière, Zehn Thesen zur Politik, 31.

8) Vgl. Rancière, Das Unvernehmen, 133.

9) Benjamin, I/2, 701.

10) Benjamin, I/3, 1231.