Vielleicht ist der Anarchist Gustav Landauer, vor 100 Jahren brutal ermordet, heute aktuell wie nie? 1910 schrieb er: „Wir wollen nach Möglichkeit aus dem Kapitalismus austreten; wir wollen sozialistische Gehöfte, sozialistische Dörfer gründen; wir wollen Land und Industriearbeit vereinigen; wir wollen, soweit es geht, und es wird immer besser gehen, wenn wir nur erst beginnen, alle unsre Bedürfnisse selbst herstellen und bald auf unserm neuen, dem sozialen Markte tauschen und den kapitalistischen vermeiden.“
Wer glaubt denn heute noch, dass reformistische Veränderungen des Bestehenden angesichts der vielen Katastrophen grundlegend etwas helfen könnten? Patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse zerstören weltweit die natürlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen, Menschenrechte und globale soziale Rechte werden täglich massenhaft verletzt. Wann, wenn nicht jetzt, gilt es grundlegend zu fragen, wie die Befreiung aus zumindest potenziell entwürdigenden abhängigen Beschäftigungs- und Mietverhältnissen, aus Abhängigkeiten als Konsumierende und Objekte machtvoller Politiken gelingen könnte.
Braucht nicht die Welt mehr denn je Utopien und Menschen, die diese mit Mut und Entschlossenheit auch umsetzen? Wie kann Arbeit als Quelle des guten Lebens vom Joch der Ausbeutung und Missachtung befreit werden und sich zu selbstbestimmter, erfüllender Tätigkeit in gemeinschaftlicher Verantwortung wandeln? Wie kann das Menschenrecht auf Wohnen ohne abhängige Mietverhältnisse organisiert werden? Wie können die Produkte und Leistungen jenseits kapitalistischer Märkte zu denen gelangen, die sie benötigen? Wie entwickelt sich Kultur, wenn sie keine Ware ist? Wie kann die Welt im Kleinen und im Großen gestaltet werden, wenn Politik nicht mehr karrieristisch in hierarchischen Parteien organisiert wird? Und vor allem: Wie können alle Lebensbereiche nicht nur zusammen gedacht, sondern auch verbindlich und gleichzeitig unter Wahrung individueller Selbstbestimmung aufeinander abgestimmt gemeinschaftlich organisiert werden? Kann der Traum vom selbstbestimmten Leben unter Freien und Gleichen Antworten geben auf die Herausforderungen unserer Zeit?
Wie kann der Traum Wirklichkeit werden?
Im Juni 2020 soll in Barcelona ein Weltsozialforum Transformatorische Ökonomien stattfinden. Die Sozialforumsbewegung hat in den letzten Jahren an Strahlkraft verloren, jedoch ist eine globale Vernetzung antikapitalistischer Bewegungen gerade heute dringend notwendig. Von einem WSF Transformatorische Ökonomien kann ein ermutigender Impuls ausgehen, den alten Sozialforums-Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ wiederzubeleben, wenn es nicht bei der Behauptung bleibt, sondern wenn Menschen aus vielen verschiedenen real existierenden Projekten aus aller Welt zeigen, dass dies andere Wirtschaften schon heute geschieht.
Auf einer Vorbereitungskonferenz Anfang April 2019 in Barcelona diskutierten mehr als 250 Teilnehmende aus vielen Ländern – die meisten kamen jedoch aus dem globalen Norden. Daher ist es eine der großen Herausforderungen im Vorbereitungsprozess, darauf zu achten, dass auch Organisationen und Initiativen aus dem globalen Süden einbezogen werden, nicht nur als Teilnehmende, sondern auch als den Vorbereitungsprozess Mitgestaltende. Entsprechend der Charta von Porto Alegre, die 2001 verabschiedet wurde und bis heute gilt, ist ein Sozialforum kein politischer Akteur. Ein Forum kann also keine Beschlüsse fassen. Es stellt jedoch einen Raum zur Verfügung, in dem Teilnehmende sich austauschen und gemeinsame Verlautbarungen, Aktionen oder Projekte vereinbaren können. So soll auch das WSF Transformatorische Ökonomien kein einmaliger Event werden, sondern der Beginn eines weiteren Austauschs und einer zukünftigen Zusammenarbeit der Akteure im breiten Feld antikapitalistischen Wirtschaftens.
Elisabeth Voß