Rezension

100 Jahre Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik

| Lou Marin

Gerhard Senft: Blicke der Welt, „Auf uns sind die Blicke der Welt gerichtet...“ Die Rätebewegung in Ungarn 1919, edition fza, Wien 2019, 152 Seiten, 15,90 Euro, ISBN 978-3-903104-10-5

Vor hundert Jahren, am 21. März 1919, wurde die „Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik“ ausgerufen. Sie war für kurze Zeit das Bindeglied euphorischer Hoffnungen auf einen sozialistischen Flächenbrand Sowjetunion-Ungarn-Bayrische Räterepublik. Trotzdem bleibt sie auch bei den Veröffentlichungen zur Erinnerung an hundert Jahre Kriegsende, russische, österreichische und deutsche Revolution, dazu der bayrischen Räterepublik im April 1919 immer ein wenig im Abseits der Betrachtungen oder gar vergessen. Umso verdienstvoller ist es, dass Gerhard Senft mit diesem Band an die Ungarische Räterepublik erinnert. Sie dauerte 133 Tage. Erst am 1. August 1919 erklärte der Kommunist Béla Kun sie für beendet. Es folgte eine grausame Phase des „Weißen Terrors“ unter dem faschistischen General Horthy mit stark antisemitischem Einschlag. 5.000 Menschen wurden dabei hingerichtet, 70.000 ins Gefängnis geworfen und 100.000 Menschen ins Exil getrieben (S. 62-65).

Ein anarchistisches Milieu mit zahlreichen gewaltfreien Anarchisten

Senft beschreibt erst die Sozialstruktur Ungarns vor der Revolution mit ihrem feudalen Gepräge und der Dominanz des Großgrundbesitzes auf dem Lande. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ungarische Arbeiterparteien. Senft erinnert in einem eigenen Kapitel an wichtige „Anarchisten und Sozialrevolutionäre“ (S. 14-17), zunächst Josef Peukert, dann an die zahlreichen gewaltfreien Anarchisten wie Eugen Heinrich Schmitt sowie den Anarchosyndikalisten Ervin Szabó, der eng mit dem Tolstoianer Ervin Batthyány zusammen arbeitete. Interessant war auch der seit 1908 bestehende „Galilei-Zirkel“ mit seinen „pazifistischen, kosmopolitischen und antiklerikalen Positionen“ (S. 17). Mitglieder dieses Zirkels waren der junge György Lukács sowie der später bekannt gewordene Ökonom Karl Polanyi, ein Cousin von Ervin Szabó.

Direkt auf die Krise der ungarischen Sozialdemokratie von 1907 bis 1913, verbunden mit einem Rückgang ihrer Mitgliederzahl, folgte die Aushebung von 3,4 Millionen Ungarn für den Ersten Weltkrieg. 670.000 ungarische Soldaten wurden auf dem Felde getötet, 743.000 Verwundete kamen zurück, oft am Kriegsende bereits begeistert von der Revolution in der jungen Sowjetunion. Aufgrund des geringen Organisationsgrades des ungarischen Proletariats bildeten sich die Räte mehr oder weniger spontan: Die Polizei schoss auf einen Generalstreik am 31. Oktober 1918, die Soldaten verließen die Kasernen und bildeten Soldatenräte. Die aus Russland heimgekehrten Kriegsgefangenen hatten die Organisationsform der Räte kennengelernt und die ungarischen Arbeiter*innen übernahmen sie. Im November 1918 etablierte sich kurzzeitig eine bürgerliche Republik unter Mihály Károlyi. Sie wurde auch „Astern-Revolution“ genannt, weil sich die Soldaten Astern in die Gewehrläufe steckten, um den relativ friedlichen Sturz des ungarischen Königs zu symbolisieren. Unmittelbar spielten Nationalbewegungen der Slowenen, Serben, Kroaten, Rumänen, Siebenbürgen eine Rolle und lösten sich vom Vielvölker-Königreich Ungarn. Die bürgerliche Regierung musste den Verlust eines Drittels des Territoriums verantworten und wirkte geschwächt. Es ist Károlyi hoch anzurechnen, dass er am 19. März in dieser Situation einfach seinen Rücktritt erklärte und die Macht quasi kampflos den Räten überließ.

Die militärische Machtbasis der Kommunisten

Die inhaftierten Kommunist*innen kamen frei und fusionierten mit den Sozialdemokrat*innen zur „Ungarländischen Sozialistischen Partei“, die am 21. März die Räterepublik errichtete. In der Folge bildeten die nach Autonomie strebenden Räte und die sie nach Leninschem Vorbild kontrollieren wollende Partei ein Spannungsgeflecht. Einerseits hatte die „Landesversammlung der Räte“ einen aus 150 Personen bestehenden unabhängigen Ausschuss; andererseits gab es einen „Revolutionären Regierenden Rat“, der immer mehr Entscheidungsbefugnis an sich riss und vom Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, dem Kommunisten Béla Kun, dominiert wurde. Er übernahm dann strategische Parolen Lenins, z.B. die Rede von der „Diktatur des Proletariats“.

Nach Senft suchten die Kommunist*innen „ihre Machtbasis in militärischen Formationen. Dabei konnten sie sich besonders auf die Roten Garden stützen, die bereits vor Jahreswende 1918/19 gegründet worden waren“ (S. 35). So kam es zum Paradox „martialischer Auftritte“ der bewaffneten Formationen, obwohl doch die Übergabe der Macht von Károlyi an die Räte ganz unblutig verlaufen war.

Anfangs wurden fast alle Wirtschaftssektoren und Betriebe sozialisiert, was in Wirklichkeit jedoch Verstaatlichung bedeutete, oft mit der Übernahme früherer Eigentümer als Leitungsspezialisten. Es gab eine Bodenreform mit der Enteignung von Großgrundbesitz über 57 Hektar pro Person. Auch die nationalen Banken wurden verstaatlicht, das ausländische Kapital jedoch nicht. Immerhin gab es zahlreiche fortschrittliche Sozialreformen: Die 48-Stunden-Woche sowie eine Kranken- und Unfallversicherung wurden eingeführt; es gab Anstrengungen zur Angleichung des Lohnniveaus sowie gleiche Löhne für Frauen und Männer. 1919 wurde das „Selbstbestimmungsrecht der Frau“ niedergeschrieben, vorangetrieben durch Aktivistinnen wie etwa Helene Marie Duczynska (genannt „Ilona”). Sie ging später ins Wiener Exil, kam zurück, um auch den Aufstand von 1956 in Ungarn mitzumachen. In hohem Alter hatte sie Kontakte zum deutschen Anarchisten Peter Paul Zahl (S. 40).

Tschechische, französische und südslawische Truppen rückten 1919 jedoch bald gegen die Räterepublik vor. Ohne Wehrpflicht wurde eine auf 200.000 Mann gesteigerte Rote Armee aufgebaut, die zwar anfänglich militärische Erfolge hatte, ab Juni 1919 jedoch unausgesetzt Rückschläge erlitt. So wurde im Juli 1919 doch noch die Allgemeine Kriegsdienstpflicht eingeführt und damit der Dynamik jeder Militarisierung Rechnung getragen. An den ständigen Rückschlägen änderte jedoch auch dies nichts (S. 42).

Galoppierende Inflation als Vorbote des Niedergangs

Das größte ökonomische Problem für die Räteregierung war die galoppierende Inflation, die die angeglichenen Löhne sofort wieder entwertete. Auch die Einführung eigener Quittungen für geleistete Arbeitsstunden und auch eigene Geldscheine („weißes Geld“) änderten daran nichts. Die Inflation war noch eine Folge der Kriegsausgaben des Habsburger-Reiches im Ersten Weltkrieg. Die Militärausgaben waren astronomisch hoch, die Mittel für Waffen nur noch durch die Betätigung der Notenpresse aufzubringen. Zwischen 1914 und 1918 dehnte sich der Geldumlauf im Habsburger-Reich von zwei auf 31 Milliarden Kronen aus; die Golddeckung der Krone brach zusammen und unmittelbar nach dem Krieg wurde die Geldentwertung im Alltag dramatisch spürbar (S. 49). Senft meint, dass die Räterepublik diese Inflation nie in den Griff bekam und dadurch die anfängliche Begeisterung unter den Massen schnell schwand.

Hinzu kam der spätestens nach einem gescheiterten Putschversuch von Budapester Offizieren im Juni 1919 einsetzende „Rote Terror“ der Kommunisten. Federführend hierbei war Jószef Cserny, der in Russland bereits durch die Tscheka-Schule gegangen war und nun in Ungarn Massenverhaftungen durchführte sowie für Geiselnahmen, Liquidierungen und Folter verantwortlich war. Der Terror drückte sich oft auch durch Verrohung aus, für die die vier Kriegsjahre vorher gesorgt hatten. Die „Lenin-Jungen“ unter Tibor Számuely „zogen mit einem transportablen Galgen von Dorf zu Dorf, requirierten Lebensmittel“ (S. 61) und reagierten auf Proteste der Bauern mit sofortiger Vollstreckung der Todesstrafe am Galgen.

Abschließend weist Senft im Buch auf zeitgenössische, die Niederlage analysierende Schriften hin, etwa Karl Kautskys „Terrorismus und Kommunismus“, für den die Räterepublik zu früh, „zur Unzeit“ kam und die die nicht reif gewesenen sozialökonomischen Bedingungen dann durch Gewalt und Terror ersetzen habe wollen. Ähnlich, nur nicht aus der reformistischen, sondern aus der entgegen gesetzten, gewaltfrei-anarchistischen Richtung analysierte Pierre Ramus bereits im April 1919 mit klarem Blick, dass „auf dem von den ungarischen ‚proletarischen’ Machthabern eingeschlagenen Weg der Diktaturherrschaft, der Gewalt und des Krieges niemals das Heil des Sozialismus ersprießen kann“ (S. 69).

Dieser spannende Band über Ungarn 1919 wird abgeschlossen durch einen Anhang mit zeitgenössischen Dokumenten, u.a. einen lebendigen Reisebericht der Schweizer Sozialistin Annaliese Rüegg, die 1919 Sowjet-Ungarn besuchte und ihren Bericht direkt nach ihrer Rückkehr in die Schweiz als Broschüre veröffentlichte (S. 90-112).

Lou Marin