Merlin Wolf: Alternative Ökonomie. Wohnen – Arbeit – Konsum. Unrast-Verlag, Münster 2019, Reihe: unrast transparent – linker alltag, 90 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-89771-145-7
Es gibt Bücher, mit denen man zu kämpfen hat, ob man sie weiter lesen will oder weglegen soll. So brauchte ich eine Woche für ein 90-Seiten-Büchlein und noch mal so lange, um mich durchzuringen, darüber zu schreiben. So erging es mir mit Merlin Wolfs „Alternative Ökonomie“, dessen Titel mit „Kritik an der Alternativen Ökonomie“ besser gewählt wäre und mir im Vorfeld einigen Leseärger erspart hätte.
Es ist nicht einfach, Bücher mit Einführungen oder Themenübersichten zu schreiben, da sich als erstes ein Fachpublikum darüber hermacht – für das solche Bücher ja eigentlich nicht geschrieben sind –, um dann neunmalklug darüber herzuziehen. Vielleicht wäre die Lektüre für mich einfacher gewesen, wenn ich mir nicht als erstes die ‚weiterführende Literatur‘ am Ende des Buches angesehen hätte. Und so habe ich vermutlich gleich die Einführung ‚in den falschen Hals bekommen‘. Sicher mag die Alternative Ökonomie auch unter einer „verkürzten Kapitalismuskritik“ leiden, im Anschluss zu dieser Feststellung kommt jedoch ein „Lob“ der Experimentierfreude unter den Alternativesuchenden wie von einem schwadronierenden Märchenonkel des Typs FDP-Lindner. Auch die Einordnung, sich in diesem Buch nur auf Deutschland beziehen zu wollen, aber dann mit einem nigerianischen Sprichwort, irgendwelchen Vergleichszahlen aus den USA, den Roten Khmer oder Pflegerobotern in Japan und Südkorea zu kommen, steigerte meinen Unwillen (von Zitaten internationaler Autor*innen mal abgesehen).
Es wird ein Konglomerat derzeitiger „Alternativen“ zusammengestellt, ohne zuvor geklärt zu haben, was denn an den Alternativen auch anti-kapitalistisch bzw. wo denn die emanzipativen Ansätze wären. Zwischen einem alternativen Wohnen und Airbnb würde ich zwei unterschiedliche Ansätze erkennen und zwischen Trampen (völlig veraltet) und UBER liegen Welten. Auch wenn der Autor, etwa bei der Beschreibung des Mietshäusersyndikats, auf zwei Seiten das juristische Konstrukt darlegt, ist mir das als neugieriger Leser zu wenig. Da erhalte ich, wie bei den anderen Themen auch, über das Internet vermutlich bessere und ausführlichere Auskünfte. Auch bei dem – für den Autor scheinbar so wichtigen – Hinweis, dass Hausbesetzungen illegale Handlungen seien, kann ich nur den Kopf schütteln. Als in West-Berlin 1981 über 162 Häuser besetzt waren, ein Besetzer*innenrat existierte und ein eigenes 14tägig erscheinendes Infoblatt, wurde die Frage der Illegalität zu einer bewusst gestellten Machtfrage, auch das ist ein politischer Akt. Legal – Illegal – Scheißegal!
Beim Thema Genossenschaften fällt dem Autor nur Franz Oppenheimer ein, der trotz seiner rassistischen Ausfälle gegen die arabische Bevölkerung über anderthalb Seiten dargelegt wird. Von Gustav Landauer und anderen kein Wort. Zum Thema Konsens wird als Beispiel die Online-Zeitung „Zwischenzeit – Medium für Unbequemes“, von der ich bisher noch nichts gehört hatte, angeführt, dagegen hat der Autor anscheinend von der nunmehr seit über 47 Jahren (!) existierenden Papierzeitschrift Graswurzelrevolution, wo dieses Verfahren gang und gäbe ist, noch nie etwas gehört.
Die einzelnen Darstellungen werden immer mit Kritik begleitet, ob es um Demeter oder verpackungsfreie Produkte geht, so dass eigentlich nur noch der Hinweis fehlte, dass Umweltschutz „deutsche Arbeitsplätze“ kosten würde. Zum Thema Tauschringe fällt sofort wieder der Name Silvio Gesell. Böse, böse. Kein Wort über die DDR-Tauschkultur, oder wie meine Erfahrungen da eher waren, dass Tauschen in erster Linie ein sozialer Kontakt unter Menschen mit wenigen finanziellen Mitteln war. Aber hier kommen die weiterführenden Lesetipps wieder ins Spiel, wie etwa zwei Bücher (von acht) des wirtschaftsweisen Paranoikers Peter Bierl, der sich an dem Thema wie kein Zweiter abgearbeitet hat. Ich selbst habe keinen Tauschring-Beteiligten kennengelernt, der sich in der Tradition eines Silvio Gesell gesehen hätte. Ehrlich gesagt bin ich auch etwas enttäuscht vom Unrast-Verlag, der etwa einen Satz durchgehen lässt wie: „Er [Silvio Gesell] war zu seinen Lebzeiten im Umfeld linker Anarchisten und rechter Lebensreformer unterwegs.“ Diese ständige Denunziation nach Bierlscher Manier hat Methode, die hier weiter geführt wird.
Das i-Tüpfelchen kommt dann im „Ausblick“ des Autors, wo er auf die AfD hinweist, die jetzt dem Begriff Alternativ eine „Schlagseite“ verpasst habe, als habe es nicht schon vor 20 Jahren etwa Nazis gegeben, die Che-Guevara-T-Shirts getragen oder sich linker Begriffe bedient hätten. Ein Grund mehr, dem Begriff ‘Alternativ’ wieder einen kämpferischen, positiven und emanzipatorischen Sinn zu geben.
Es bleibt die Frage, für wen das Buch geschrieben wurde. Wenn ich mit meinem Leben in den kapitalistischen Verhältnissen unzufrieden bin und nicht auf die marxistische Weltrevolution warten möchte, werde ich mir Gleichgesinnte suchen, auf bestehende Projekte zugehen und das Problem angehen. Wir haben genügend Erfahrungen gesammelt in den 1970er und 80er Jahren, die hier gar nicht erst erwähnt werden, und ansonsten müssen die Jungen ihre eigenen machen. Hauptsache, sie legen nicht die Hände in den Schoß und warten auf bessere Zeiten, und zum Glück sieht es im Moment nicht so aus.
Auf die Rubrik „Zum Weiterlesen“ muss ich jetzt aber doch noch mal eingehen: Nicht vorhanden ist hier etwa die „Contraste – Zeitung für Selbstorganisation“, die seit 35 Jahren existiert! Kein Hinweis auf Horst Stowasser und das Projekt A, kein Hinweis auf Rolf Schwendter und seine vielfältige Literatur zum Thema. Es fehlen generell Publikationen, die Erfahrungen in den unterschiedlichen Alternativ-Projekten reflektieren. Ferner fehlen Bücher von P.M. und/oder den zur Zeit wohl spannendsten Genossenschaftsprojekten in der Schweiz wie KraftWerk und NENA1, die nicht nur weitumspannende Ansätze bieten, sondern auch in Deutschland zu Erfahrungsberichten eingeladen werden und denen es nicht nur um den Gedanken der Genossenschaft geht, sondern auch darum, wie derzeitige, etwas schnarchige Genossenschaftsverbände wieder politisiert werden können. Wohngenossenschaften sind eben nicht nur für billigen Wohnraum zuständig, sondern für eine vielfältige politische und ökologische Haltung.
O.k., aber dafür habe ich ein neues Fremdwort gelernt: „reziprokes (= wechselseitiges) Verhältnis“. Das ist doch was, selbst wenn es für diesen Preis etwas zu teuer war.
Jochen Knoblauch