Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz, transcript, Bielefeld 2018, 630 Seiten, 69,99 Euro, ISBN 978-3-8376-3931-5. Auf der Webseite des Verlags wird das Buch auch kostenlos zum Download angeboten: https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/8b/78/e5/oa978383943931951irgfYoAfg5A.pdf
Hörenswert auch der Zeitsprung-Podcasts zum Buch (Folge 176) mit O-Tönen von Florian Eitel: https://www.zeitsprung.fm/podcast/zs176/
Wo liegt der Anfang des Anarchismus? Häufig beginnt diese Antwort auf diese mit einem großen Namen: Bakunin. Oder Proudhon. Florian Eitel hingegen wählt einen anderen Ansatz: Er schlägt vor, die Anfänge des Anarchismus in einer kollektiven Bewegung zu suchen, nämlich bei den Uhrmachern des Schweizer Jura, die dem antiautoritären Flügel der Ersten Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) angehörten. Kristallisationspunkt seiner Erzählung ist der internationale Kongress, der im Herbst 1872 in dem Städtchen Saint Imier stattfand.
Dort kamen damals diejenigen Sektionen und Gruppen der Internationale zusammen, die sich von den zentralistischen Politiken der Marxisten distanzierten. Marx und Engels, man muss es so deutlich sagen, haben damals gezielt die Strukturen der internationalen Arbeiterbewegung zerstört. Marx glaubte, dass nur eine autoritär und zentralistisch ausgerichtete Arbeiterbewegung etwas bewirken könne. Die Mehrheit der IAA-Mitglieder und Sektionen wollte aber eine internationale Vernetzung bei gleichzeitiger Autonomie der lokalen und regionalen Initiativen, also eine dezentrale Struktur und eine breite politische Agenda, die nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle, soziale, familien- und bildungspolitische Themen verfolgt.
Da Marx und Engels einsehen mussten, dass sie in der Minderheit waren, beschlossen sie, die Internationale abzuwickeln. Sie sorgten dafür, dass der Jahreskongress 1872 in Den Haag stattfand, also an einem Ort, zu dem die überwiegend marxistisch orientierten deutschen Delegierten eine kurze Anreise hatten, während viele Delegierte aus romanischen Ländern nicht teilnehmen konnten. Die Anreise aus Spanien oder Italien war weit und teuer, politisch Verfolgte riskierten bei der Reise durch Deutschland oder Belgien zudem die Verhaftung. Bakunin zum Beispiel konnte deshalb in Den Haag nicht dabei sein, und auch vielen Aktivisten, die nach der Niederschlagung der Pariser Kommune in die Schweiz geflohen waren, war die Teilnahme unmöglich.
Mit ihrer künstlich fabrizierten Mehrheit lenkten Marx und Engels die Beschlüsse dann in ihrem Sinne. Missliebige Personen wurden aus der Internationale ausgeschlossen – neben Michael Bakunin und dem Jurassier James Guillaume auch die US-amerikanische Feministin Victoria Woodhull. Der Generalrat wurde von London nach New York (!) verlegt, was de facto einer Zerschlagung gleichkam.
Die wenigen Delegierten aus Italien, Spanien und der französischen Schweiz, die es nach Den Haag geschafft hatten, waren vom Ausgang des Kongresses verständlicherweise frustriert. Florian Eitel beschreibt unter anderem, wie sie gemeinsam im Zug zurück nach Basel fuhren, in einem Abteil, das sie ganz für sich allein hatten. So konnten sie Pläne schmieden. Und sie beschlossen, sich nicht geschlagen zu geben, sondern direkt im Anschluss einen eigenen Internationale-Kongress abzuhalten – eben jenen in Saint Imier. Diese detailreiche und sachkundige Verknüpfung von Alltagskultur und großer Weltpolitik zeichnet das Buch aus. Wie waren Züge damals gebaut? Wie lange dauerte die Reise aus den Niederlanden in die Schweiz? Eitel macht anschaulich, wie aktivistische Politik damals praktisch funktionierte.
Dass als Austragungsort Saint Imier gewählt wurde, lag nahe. Die Schweiz lag für die Delegierten aus Italien und Spanien quasi auf der Durchreise, im Jura gab es aktive und lebendige Internationale-Sektionen, und die Arbeiter der dortigen Uhrenindustrie waren ohnehin schon lange anarchistisch orientiert. Das hatte verschiedene Gründe – die Rahmenbedingungen in der Schweizer Uhrenindustrie, die zunehmend unter Globalisierungsdruck geriet (was in dem Buch sehr ausführlich geschildert wird), das Engagement einzelner Anarchisten wie James Guillaume und Adhémar Schwitzguebel, die Propagandatätigkeit von Bakunin, der einige Jahre zuvor die Jura-Dörfer mit einer Vortragsreihe besucht hatte, und schließlich brandneue Technologien wie Telegrafen und Zugverbindungen.
43 Teilnehmer*innen des zweitägigen Kongresses am 16. und 17. September sind namentlich bekannt, es werden aber deutlich mehr gewesen sein. Darunter waren einige Frauen, allesamt Russinnen, die mit Bakunin anreisten. Je vier Delegierte waren Spanier und Italiener, die große Mehrheit aber Schweizer. Die hier verabschiedeten vier Resolutionen formulierten programmatische Inhalte, die Eitel zu Recht als ersten Abriss einer anarchistischen politischen Strategie versteht. Innerhalb von nur wenigen Tagen verbreiteten sich diese Resolutionen anschließend in ganz Europa. Die „Jurassier“ und „Saint Imier“ wurden zu Synonymen für eine Internationale der Arbeiterbewegung, die anarchistisch tickt. Bis heute ist „Saint Imier“ ein Anknüpfungspunkt für anarchistische Bewegungen, so kamen im Jahr 2012 Tausende Menschen aus ganz Europa zu einem anarchistischen Treffen in den Ort.
Wie es bei einer Dissertation zu erwarten ist, enthält Eitels 630 Seiten starkes Buch auch eine Fülle von Details, von denen manche vielleicht verzichtbar gewesen wären und bei denen man den eigentlichen Plot manchmal aus den Augen verliert. Aber es ist reich illustriert, mit Quellendokumenten und Fotos, und sehr schön gestaltet. Besonders interessant ist die Aufmerksamkeit, die Eitel den praktischen Aspekten des politische Aktivismus widmet: Mobilität, Kommunikation, Lieder und Fotografien, Feste, Vereinsleben – hier wird anschaulich, wie politische Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aussah.
Schade ist allerdings, dass sich auch dieses Buch wieder fast gänzlich mit einer männlichen Perspektive begnügt und das „Frauenthema“ auf wenigen Seiten nur kurz abhandelt. Das ist merkwürdig, wenn man bedenkt, dass ein Drittel der in der Uhrenindustrie Beschäftigten Frauen waren, und dass die Debatte über Familienformen und Geschlechterverhältnisse auf den ersten beiden Kongressen der IAA 1866 und 1867 jeweils eines der Hauptthemen gewesen war. Wie haben sich die Jurassier bei dem Streit zwischen frauenfeindlichen französischen Proudhonisten und industrieorientierten englischen Gewerkschaftern, die Frauen als Proletarierinnen organisieren wollten, positioniert?
Das hätte man gerne gewusst, zumal sich laut Kongressprotokollen Pierre Coullery, ein bürgerlicher Freigeist aus der nächstgelegenen Großstadt La Chaux-de-Fonds und Begründer der ersten IAA-Sektionen im Jura, mehrfach zu diesem Thema geäußert hat. Es ist schwer zu entscheiden, ob Eitel bei seinem gründlichen Quellenstudium nichts dazu finden konnte, oder ob er nicht danach gesucht hat.
Wobei allerdings der ideengeschichtliche Anteil des Buches generell nicht stark ausgeprägt ist. Eine Spur zu häufig spricht Eitel pauschal von „den Anarchisten“, so als wäre das eine homogene Gruppe gewesen. Gerade die Haltung zur Frauenemanzipation war aber zum Beispiel ein Streitpunkt, man denke etwa an die Auseinandersetzungen von anarchistischen Kommunardinnen wie Louise Michel oder André Léo mit den extrem antifeministischen Anhängern Proudhons, oder auch an den spanischen Anarchismus, wo freiheitliche geschlechterpolitsche Ideen und patriarchaler Machismo noch im 20. Jahrhundert miteinander konkurrierten. Aber auch bei anderen Themen waren „die Anarchisten“ sich keineswegs immer so einig, wie es hier den Anschein hat.
Stark sind hingegen Eitels soziologische Analysen, vor allem dort, wo er die Trans-Nationalität der damaligen anarchistischen Bewegung schildert. Die lokale Verbundenheit bei gleichzeitig enormer Mobilität (auch etwa in Bezug auf Arbeitsmigration), der konkrete Aktivismus vor Ort, der eingebunden war in eine übernationale Perspektive, die bis hin zu erheblicher Solidarität reichte – etwa wenn bei Festen für Streikende in einem anderen Land gesammelt wurde – all das wird im Detail geschildert. Dadurch entsteht ein Bild von einer Bewegung, die tatsächlich auch praktisch eine Alternative bot zu nationalistischen Erzählungen. Unterm Strich ist diese Studie also eine wertvolle und lesenswerte Ergänzung für die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert.
Antje Schrupp