Interview

Frauen in der Spanischen Revolution

Interview mit Vera Bianchi, Herausgeberin von „Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen“

| Vera Bianchi, Bernd Drücke (Interviewer)

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Kongress zum 80. Geburtstag der „Federación Mujeres Libres“ im September 2017 in Madrid. Foto: Confederación General del Trabajo (CGT)

Vera Bianchi (Hg.): Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen, Edition AV, Bodenburg 2019, 230 Seiten, 17 Euro, ISBN 978-3-86841-221-5

Vera Bianchi: Feministinnen in der Revolution. Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg, Unrast Verlag, Münster 2003, 160 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-89771-203-4

Bernd Drücke (GWR): Vera, du hast am 4. September 2019 auf Einladung von Graswurzelrevolution-Redaktion und AStA-Frauenreferat in der ESG Münster zum Thema „Mujeres Libres“ eine Veranstaltung gemacht. Du arbeitest in Hamburg an einer historischen Dissertation zum Thema „Anarchosyndikalistinnen. Die Mujeres Libres in Spanien und der Syndikalistische Frauenbund in Deutschland“ und hast Bücher über Frauen in der Spanischen Revolution publiziert: „Feministinnen in der Revolution“ 2003 im Unrast Verlag und „Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen“ als Herausgeberin im Mai 2019 im Verlag Edition AV. Was sind die Mujeres Libres?

Vera Bianchi: Mujeres Libres heißt „freie Frauen“. Das ist spanisch und es handelt sich dabei um eine anarchosyndikalistische Frauengruppe, die sich kurz vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs gegründet hat, im April 1936. Der Spanische Bürgerkrieg ist am 18. Juli 1936 dadurch ausgebrochen, dass es einen rechten Putsch gab, den sogenannten franquistischen Putsch durch General Francisco Franco und seine Anhänger, die eine Militärdiktatur errichten wollten und in vielen Kasernen rebelliert haben, mit Hilfe des Deutschen Reichs. Der Spanische Bürgerkrieg sah dann so aus, dass sich in den nächsten zweidreiviertel Jahren Spanien in eine republikanische und eine sogenannte franquistische Zone unterteilt hat. In der republikanischen Zone begann sofort am 18. Juli 1936 eine Soziale Revolution, das heißt die Menschen haben sich nicht nur gewehrt gegen diesen rechtsradikalen Putsch, sondern auch festgestellt, dass die kapitalistischen oder auch noch restlichen feudalistischen gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr dem entsprechen, wie sie gerne frei leben möchten. Sie haben dann den Kampf gegen diesen rechten Putsch damit verbunden, dass sie gesagt haben, wir nehmen jetzt unser Leben und die Arbeitsbedingungen selber in die Hand. Sie haben ihre Betriebe kollektiviert. In diesem Rahmen haben auch diese anarchosyndikalistischen Frauen großen Zulauf bekommen. Sie haben aktiv gegen den Putsch gekämpft.

Bernd: Hans Magnus Enzensberger hat die Spanische Revolution 1936 treffend als „Kurzen Sommer der Anarchie“ beschrieben und auch ein bewegendes Buch unter diesem Titel publiziert. Was ist aus deiner Sicht Anarchie, was ist Anarchismus, was sind die Hintergründe des spanischen Anarchosyndikalismus?

Vera: Lustigerweise ist es genau dieses Buch, das mich als Teenager dazu bewogen hat, Geschichte zu studieren. Mir war da auch schon klar, dass ich eine Arbeit schreiben möchte zum Spanischen Bürgerkrieg, weil dieses Buch einfach so brillant und mitreißend ist: „Der kurze Sommer der Anarchie“.

Anarchie wird oft missverstanden als Chaos oder etwas Schlechtes, in dem keine Regeln gelten. Manche verbinden das auch mit dem Thema Gewalt. Das hat aber beides überhaupt nichts damit zu tun. Anarchie ist griechisch und heißt „ohne Herrschaft“. Es geht einfach um ein herrschaftsloses Miteinander. Oft, wenn ich über die Mujeres Libres spreche, heißt es: „Ja, die waren ja total gut organisiert, wie passt das denn, das sind doch Anarchistinnen?!“

Es stimmt nicht, dass Anarchismus etwas mit Organisationsfeindlichkeit zu tun hat. Die Anarchisten und Anarchistinnen sind oft sehr gut organisiert, aber eben herrschaftsfrei, also gleichberechtigt, basisdemokratisch. Und in dem Fall ist es so, dass die Arbeiterbewegungen in Spanien seit den 1860er Jahren nicht marxistisch oder sozialdemokratisch waren, so wie wir das aus Deutschland kennen, sondern die waren seit dieser Zeit anarchistisch dominiert. Das heißt, sie haben nicht an einen „sozialistischen“ Staatsapparat geglaubt oder darauf hin gearbeitet. Sie sind auch nicht davon ausgegangen, dass man staatliche Strukturen zu etwas Positivem wenden kann, sondern haben von Anfang an gesagt: „Wir arbeiten basisdemokratisch, also von unten herauf. Die Menschen selber entscheiden, wie sie leben wollen, dafür brauchen wir keinen Chef, der uns verrät, wie das besser geht.“ Und in diesem Rahmen gibt es die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT. Das ist die Confederación Nacional del Trabajo, die sich 1910 gegründet hat. Viele Mitglieder der Mujeres Libres und auch die Gründerinnen waren in dieser Gewerkschaft aktiv.

Bernd: Die CNT war 1936 mit bis zu zwei Millionen Mitgliedern bei einer Bevölkerungszahl von 23 Millionen die größte Gewerkschaft Spaniens und die weltweit größte anarchistische Organisation. Fast zehn Prozent der Bevölkerung waren damals in der CNT organisiert. Der Anarchosyndikalismus war also 1936 in Spanien eine sehr starke gesellschaftliche Kraft. Das kommt in der herrschenden Geschichtsschreibung kaum vor, und wenn doch, dann werden die Anarchist*innen oft einfach als „Kommunisten“ bezeichnet. Die wenigsten wissen, dass es in Spanien 1936 eine Soziale Revolution gab, dass viele Spanier fast drei Jahre gegen den Faschismus gekämpft haben, der sich dann letztlich doch durchgesetzt [und bis Francos Tod 1975 gehalten] hat, mit Unterstützung von Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien. Anarchie und Anarchismus sind keine Themen, die in den Mainstream-Zeitungen vorkommen. Wenn doch, dann wird Anarchie meist als Zerrbild dargestellt, als Chaos und Terror. Wie bist du trotzdem auf das Thema gestoßen? Wie bist du mit anarchistischen Ideen und den Themen Mujeres Libres und Spanische Revolution in Berührung gekommen?

Vera: Ich hatte vorher auch nicht über Anarchismus nachgedacht. Bei mir kam das im Geschichtsunterricht überhaupt nicht vor, den Spanischen Bürgerkrieg gab es einfach nicht. Ich bin dann zufällig auf diesen schönen Band von Hans Magnus Enzensberger „Der kurze Sommer der Anarchie“ gestoßen. Danach war ich angefixt vom Spanischen Bürgerkrieg und hatte das Gefühl, das ist die historische Situation, die nach einer freien Gesellschaft aussieht, in der alle Menschen glücklich und zufrieden leben können und wo es nicht darum geht, sich nur hoch zu arbeiten, andere zu unterdrücken und dann schön zu leben, sondern dass wir gemeinsam mit den anderen Menschen zusammen in einer guten Gesellschaft leben. Mein Menschenbild ist positiv. Ich gehe davon aus, dass erstmal alle Menschen in Ruhe, friedlich mit den anderen Menschen leben wollen. Das liegt dem Anarchismus auch zu Grunde. Thomas Hobbes sagt: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, als wären wir alle nur auf den Kampf aus und möchten die anderen erniedrigen oder selber gewinnen. Das sehe ich nicht so. Anarchismus ist eine gesellschaftliche Idee, die davon ausgeht, dass die Menschen gut sind und etwas Gutes wollen, in Gemeinschaft leben wollen. Das kam mir sehr entgegen. Ich habe dann von George Orwell „Mein Katalonien“ gelesen. Das stand verrückterweise im Buchladen in Freiburg, in dem ich das als Teenager gekauft habe, unter „Reiseberichte“. Ich nehme an, da hat nie jemand in dem Buchladen mal reingeschaut.

Bernd: Obwohl das ja vielleicht nicht ganz so unpassend war. Es war ja für Orwell schon auch eine Reise.

Vera: Aber Leute, die in den 1990ern reisen wollten, wollten wahrscheinlich nicht von George Orwell etwas über den Spanischen Bürgerkrieg lesen. Das war das zweite Buch, das mich sehr fasziniert hat. Dann war mir klar, du musst nach dem Abi Geschichte studieren und eine Arbeit zum Spanischen Bürgerkrieg schreiben. Ich hatte immer noch gedacht, mein Interesse wäre das wirtschaftliche Projekt. Also, wie kann man diese Kollektivierungen hinkriegen? Es wurde ja in der Landwirtschaft kollektiviert, auch die Straßenbahnen von Barcelona wurden sofort 1936 von der CNT kollektiviert. Wie hat das funktioniert? Also, dass es niemanden mehr gibt, der bestimmt, sondern einfach die Menschen, die die Straßenbahnen fahren, haben auch darüber bestimmt, wann sie fahren, wer wann was macht. Wie kann sowas funktionieren? Wo wir doch alle gewohnt sind, dass es immer irgendjemanden gibt, der alleine die Entscheidung trifft. Als ich dann gegen Ende meines Magisterstudiums der Geschichte nach Madrid gefahren war, um dort in der Nationalbibliothek zu forschen, um die Ereignisse auf mich wirken zu lassen und zu gucken, wie ich über die Wirtschaftsform im Spanischen Bürgerkrieg etwas Gutes schreiben könnte, kam eine Freundin meiner Mitbewohnerin zu Besuch nach Madrid. Sie wollte unbedingt einen Frauenbuchladen aufsuchen. So habe ich einen rausgesucht, in dem wir rumstöberten. Und plötzlich hielt sie das Buch hoch von Mary Nash, einer US-Amerikanerin, die jetzt in Barcelona Professorin für Geschichte ist. In deren Buch ging es um Frauen in der Revolution. Sie hatte alle republikanischen Frauenorganisationen untersucht und stellte das Ergebnis in diesem Buch vor. Da meinte dann die Freundin meiner Mitbewohnerin: „Du, das ist doch etwas für deine Magisterarbeit“. Zuerst habe ich nein gesagt, denn ich wollte ja etwas zur Wirtschaft schreiben. Ich bin dann ins Bett gegangen und lag die ganze Nacht wach. Am nächsten Morgen ging ich sofort in den Frauenbuchladen und habe das Buch gekauft, und auch das Erinnerungsbuch der Mujeres Libres „Luchadoras Libertarias“, was ich jetzt übersetzt und herausgegeben habe.

Bernd: In Spanien gab es 1936 massiven Widerstand gegen den faschistischen Putsch. Große Teile der Bevölkerung haben sich gegen die Putschisten gestemmt. In Barcelona wurden zum Beispiel Kasernen von der Bevölkerung belagert, es gab Barrikaden, eine Umwälzung von unten, den kurzen Sommer der Anarchie, den Enzensberger in seinem Roman beschreibt oder eben auch Abel Paz in seiner in der Edition Nautilus erschienenen Durruti-Biographie. Das sind Geschehnisse, die in der deutschen Gesellschaft kaum bekannt sind und in der Geschichtsschreibung selten vorkommen. Dabei war die Spanische Revolution auch eine große kulturelle Revolution. Vor 1936 waren die meisten Menschen in Spanien Analphabeten, durch die Revolution gab es plötzlich viele freie Schulen, wo Erwachsene und Kinder gelernt haben, nicht nur Lesen und Schreiben. Das waren kulturelle Errungenschaften. Du hast in deinem Vortrag auch erzählt, was die Mujeres Libres an kultureller Arbeit geleistet und welche Strukturen sie vorgefunden haben. Da war einerseits eine anarchistische Bewegung, die auf ihre Fahnen geschrieben hat, dass sie eine herrschaftsfreie, libertär-sozialistische Gesellschaft schaffen will, die auf gegenseitiger Hilfe und freier Assoziation beruht, auf der anderen Seite diese machistischen, patriarchalischen Strukturen, wo die Männer das Sagen haben und die Frauen stark unterdrückt sind. Du hast die Entwicklung anschaulich dargestellt, z.B. auch anhand der Fahrschulen. Kannst du dazu etwas erzählen? Also, was die emanzipatorische Arbeit der Mujeres Libres kulturell bedeutet und wie sie die soziale Revolution mitgeprägt hat.

Die Anarchistinnen Mercedes Comaposada Guillén, Lucía Sánchez Saornil und Amparo Poch y Gascón gehörten zu den Gründerinnen der Mujeres Libres. Bildquelle: Plakat der anarchosyndikalistischen, spanischen Gewerkschaft Confederación General del Trabajo (CGT) zum 80. Jahrestag der Gründung der Federación Nacional de Mujeres Libres, Madrid, September 2017. Montage: Bernd Drücke (GWR)

Vera: Kultur war ein wichtiger Begriff für die Mujeres Libres. Oft ist das mit Bildung auch gut übersetzt. Es ist eine Mischung, nicht wie heute, wenn wir denken: „Ich gehe ins Theater, das ist Kultur.“ Das war nicht gemeint bei den Mujeres Libres. Sondern, wie sie es nennen, „Kultur, um sich selber zu überwinden“. Also einfach, um mehr aus sich machen zu können. Die Zeitschrift „Mujeres Libres“, von der sie 13 Ausgaben zwischen 1936 und 1939 herausgegeben haben, hatte den Untertitel „Kultur und soziale Dokumentation“. Das war für sie auch ein Mittel, diese Zeitschrift diente der Bildung, Weiterbildung und dem Austausch untereinander. Sie hatten vor allem in Madrid, Barcelona und Valencia, wo ihre Kernpunkte waren, Institute Mujeres Libres, in denen Frauen jederzeit willkommen waren. Das mussten keine Anarchistinnen sein, das waren oft Arbeiterinnen, die vielleicht nur sechs Jahre zur Schule gegangen waren und dann ab dem Alter von zwölf Jahren im Betrieb gearbeitet hatten. In den Instituten konnten sie quasi nachholen, was ihnen durch die kurze Schulzeit verschlossen geblieben war. Eine Mujer Libre hat mal beschrieben: „Als wir aus der Schule rausgingen, konnten wir die vier Grundrechenarten und ein bisschen lesen und ein bisschen schreiben.“ Da konnten die Frauen sich also gegenseitig viel beibringen. Die Mujeres Libres haben, wie du angesprochen hast, auch Fahrschulen organisiert. Es gab vorher nur sehr wenige Frauen, die einen Führerschein hatten. Dann haben sie in Madrid die erste Fahrschule nur für Frauen gegründet, in Barcelona gab es dann auch eine. Dort hatten sie Theorie- und Praxisunterricht und in einem der Texte in dem Buch „Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen“, das ich zusammen mit Renée Steenbock übersetzt habe, ist beschrieben, wie die Fahrgäste reagierten, als sie beim Einsteigen in die kollektivierte Straßenbahn sahen, dass eine Frau am Steuer der Straßenbahn saß. Manche reagierten mit Verwunderung und andere reagierten mit Panik, weil sie davon ausgingen: „Frau am Steuer, das kann nicht gut gehen!“

So konnten sie also durch ihre kulturellen Angebote, Bildungs- und auch Ausbildungsangebote, das patriarchale Rollenbild erschüttern und den Frauen neue Möglichkeiten geben. Die Gründerinnen der Mujeres Libres fanden ja innerhalb der anarchistischen Bewegung schon Sexismus vor, dann können wir uns vorstellen, wie außerhalb der anarchistischen Bewegung in der spanischen Gesellschaft noch viel mehr Sexismus, patriarchales Verhalten und Strukturen existierten. Die Idee der Mujeres Libres war ja zu keinem Zeitpunkt, eine immerwährende Frauenorganisation zu gründen, sondern sie wollten temporär, also für einen kurzen Zeitraum, einfach eine Frauenorganisation haben, um gegen diesen Sexismus ankämpfen zu können.

Bernd: Wie haben die CNT und die anderen anarchistischen Organisationen auf die Frauenorganisation Mujeres Libres reagiert?

Vera: Das war gespalten. Einerseits waren eigentlich alle Mujeres Libres auch in anderen anarchistischen Organisationen aktiv, also in der CNT oder in den Jugendorganisationen, den Juventudes Libertarias. Das heißt, es gab schon personelle Zusammenarbeit. Es war auch so, dass die Mujeres Libres kein Geld hatten. Sie wurden also immer wieder von der CNT auch finanziell unterstützt. Es gab sogar mal einen halben Sekretariatsposten, der von der CNT bezahlt wurde. Sie konnten auch CNT-Räume nutzen, wenn sie selber keine eigenen Räume hatten für ein eigenes Gewerkschaftslokal. Es gab vor Ort auf einer geringen Basis schon Zusammenarbeit und Unterstützung.

Aber was den Mujeres Libres sehr gefehlt hat, war die Anerkennung. Sie wollten der vierte Zweig der libertären Bewegung Spaniens sein. Sie wollten anerkannt werden als eigenständige und gleichwertige Gruppe, neben der Gewerkschaft CNT, der Jugendorganisation und der Anarchistischen Iberischen Föderation, der FAI. Diese Anerkennung wurde ihnen immer verweigert und als sie die offizielle Anerkennung dann auf einem Plenum der libertären Bewegung im Herbst 1938 beantragten, durften sie nicht einmal während der ganzen fünf Tage des Treffens anwesend sein. Nur an einem Tag durften sie ihre Bitte vorstellen und da hieß es dann: „Nein, ihr seid nicht genug vorbereitet und so schlecht organisiert, wie ihr seid, schadet ihr der libertären Bewegung.“ Das hat die Frauen getroffen, dass sie behandelt wurden, als seien sie Kleinkinder, die nur stören, das war sehr enttäuschend.

Bernd: Du hast im Vortrag auch die Positionen der Mujeres Libres zum Beispiel zur Prostitution beschrieben. Das ist auch heute interessant für die aktuelle Diskussion. Kannst du das bitte skizzieren?

Vera: In Spanien gab es seit 1931 ein Gesetz, wonach Prostituierte etwas Kriminelles und auch Unmoralisches machten und dafür bestraft werden konnten, während das Verhalten der Freier als einwandfrei und moralisch in Ordnung gesehen wurde. Die Mujeres Libres haben sich gegen diese gesellschaftliche Doppelmoral gewandt. In den 1920ern und 1930er Jahren waren viele spanische Arbeiterinnen so verarmt, dass sie zur Aufbesserung des Familienhaushalts gegen Ende des Monats Gelegenheitsprostitution nachgingen. Also aus ökonomischen Gründen dazu gezwungen wurden, sich zu prostituieren. Die Mujeres Libres haben das nie verurteilt, dass Frauen der Prostitution nachgehen, aber sie wollten dafür sorgen, dass nie wieder jemand aus ökonomischen Gründen dazu gezwungen wird. Deshalb haben sie im Sommer 1936 in Barcelona und Madrid das Projekt der Liberatorios de Prostitución gegründet, also Befreiungshäuser. Da konnten Prostituierte hinkommen und medizinische Versorgung bekommen, dann auch finanzielle Unterstützung. Es wurden aber auch beratende Gespräche geführt, falls eine Frau gesagt hat, ich möchte das lieber nicht mehr machen und würde gerne eine andere Tätigkeit ausüben, um das Familieneinkommen aufzubessern. Dann wurde ihr das ermöglicht, und es gab auch die Möglichkeit, dort zu übernachten.

Bernd: Erzähle bitte, wie die Bücher entstanden sind?

Vera: „Feministinnen in der Revolution. Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg“ ist die Magisterarbeit, die ich 2001 an der TU Dresden eingereicht und 2003 im Unrast Verlag Münster veröffentlicht habe. Ich habe diese Arbeit extra lesbar geschrieben, das heißt, man muss keine Historikerin sein, um das Buch zu verstehen. Nachdem ich 2005 eine Mujer Libre, Sara Berenguer, kennengelernt habe, die in Südfrankreich gelebt hat, haben wir beschlossen, dass ich das Erinnerungsbuch, das sie mit 13 anderen Frauen 1999 in Spanien veröffentlicht hat, auf Deutsch herausgebe. Das hat etwas gedauert, dann haben Renée Steenbock und ich zusammen das Buch übersetzt. Es ist nun im Verlag Edition AV erschienen und heißt „Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen“, das ist die direkte Übersetzung des Buches „Mujeres Libres. Luchadoras Libertarias“. In meiner Magisterarbeit erfährt man mehr über das Drumherum, aber in diesem übersetzten Buch hat man die Originaltexte, sowohl Texte aus dem Spanischen Bürgerkrieg als auch spätere Erinnerungen der Frauen. Das heißt, ihr könnt euch das als Zweierpack in der Buchhandlung eurer Wahl bestellen und lesen.

Bernd: In deinen Büchern finden sich viele Informationen, die auch heute für emanzipatorisch orientierte Menschen, insbesondere für Feminist*innen und Anarchist*innen, Anregungen sein können. Was können wir aus der Geschichte der Mujeres Libres lernen, was uns Richtung Emanzipation weiter bringt?

Vera: Manchmal wenden sich Leute an mich und fragen: „In meiner Gruppe sind überhaupt keine Frauen, was kann ich denn besser machen?“ Ich finde, da sind die Mujeres Libres ein super Beispiel dafür, dass es darum geht, die Bedürfnisse von Frauen auch ernst zu nehmen. Es kann nicht darum gehen, wie es bei den anderen Frauenorganisationen im Spanischen Bürgerkrieg war, dass man Frauen einfach nur als Mitglieder registriert oder dass man mehr Frauen hat, die die Männerwünsche unterstützen. Das ist nicht sinnvoll. Die Mujeres Libres zeigen, dass viele Frauen sich engagieren, wenn auch ihre Wünsche berücksichtigt werden. Und da denke ich, dass wir oft immer noch in traditionellen Rollen drinstecken. Oft ist es so, egal wie partnerschaftlich Beziehungen sind, sobald Kinder kommen, ist es schon so, die Frau arbeitet Teilzeit, sie kümmert sich um die Kinder, guckt, dass Essen da ist. Und wenn das Kind krank ist, aha, die Frau kriegt weniger Lohnausfall durch die Krankenkasse, dann bleibt natürlich die Frau zu Hause und der Mann bringt den Schotter ran. Ich finde, da ist es wichtig, dass auch auf diese Lebensbedingungen von Frauen heute eingegangen wird. Dann haben Frauen auch Lust, sich zu engagieren und kommen auch in alternative Bewegungen. Das finde ich, zeigen sie deutlich. Es geht darum, dass wir gleichberechtigt zusammenarbeiten und für eine freie Gesellschaft eintreten. Und Bildung ist überhaupt das Allerwichtigste. Da kann ich ja sogar jetzt noch bezüglich der AfD-Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg sagen: „Leute, geht euch bilden, dann kommt ihr nicht auf die Idee, dass Geflüchtete an eurem Elend schuld sind, sondern dann seht ihr, wo wirklich jemand ist, der ein freies, glückliches, erfülltes Miteinander verhindert.“

Interview: Bernd Drücke

Transkription: Julian Richter/Bernd Drücke

 

Mujeres Libres (Freie Frauen)

Die Gruppe Mujeres Libres unterstützte im Spanischen Bürgerkrieg (18.7.1936 – 1.4.1939) sowohl die republikanische Seite an der Front und im Hinterland als auch die Soziale Revolution gegen den Putsch der Franco-Faschisten. In der revolutionären Situation in den republikanischen Gebieten schlossen sich seit Juli 1936 über 20.000 Frauen in mehr als 160 Ortsgruppen der Mujeres Libres zusammen. Neben der Herausgabe einer Zeitschrift arbeiteten sie in Bildungs- und Ausbildungskursen für Analphabetinnen und ungelernte Frauen und schufen Zentren zur Abschaffung der Prostitution. Die Mujeres Libres begriffen sich als eigenständige Gruppe innerhalb der libertären Bewegung, wurden jedoch von den anderen drei anarchistischen Organisationen Spaniens, der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo), der FAI (Federación Anarquista Ibérica) und der Jugendorganisation FIJL (Juventudes Libertarias), nicht als gleichberechtigte Organisation anerkannt.

Bei dem 2019 von Vera Bianchi im Verlag Edition AV herausgegebenen Buch „Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen“ handelt es sich um die Übersetzung eines 1999 auf Spanisch von ehemaligen Mujeres Libres-Mitgliedern herausgegebenen Sammelbandes.

Radio Graswurzelrevolution-Sendung:

Diese Druckfassung ist eine überarbeitete Version eines Radio-Graswurzelrevolution-Interviews, das GWR-Redakteur Bernd Drücke am 5.9.2019 im Studio des medienforum münster mit Vera Bianchi (*1974) geführt hat. Die Sendung wird - inklusive Musik - am 27.10. von 20:05 Uhr bis 21 Uhr im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt. Sie ist im Livestream zu hören auf: www.antennemuenster.de. Zudem wird sie dauerhaft dokumentiert auf: https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/radio-graswurzelrevolution/

Literatur:

Vera Bianchi (Hg.): Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen, Edition AV, Bodenburg 2019, 230 Seiten, 17 Euro, ISBN 978-3-86841-221-5

Vera Bianchi: Feministinnen in der Revolution. Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg, Unrast Verlag, Münster 2003, 160 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-89771-203-4

Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie - Buenaventura Durrutis Leben und Tod, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, 303 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-518-36895-4

George Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, Diogenes, Zürich 2012, 288 Seiten, 10,99 Euro, ISBN 978-3-257-60248-7

Abel Paz: Durruti. Leben und Tod des spanischen Anarchisten. Biographie. Aus dem Spanischen übersetzt von Luis Bredlow, Edition Nautilus, Hamburg 1993, 736 Seiten, vergriffen, ISBN 978-3-89401-411-7

Martin Baxmeyer: Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der Spanischen Revolution, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, 152 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 978-3-939045-33-5

Bernd Drücke / Luz Kerkeling / Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution, Verlag Edition AV, Frankfurt/M. 2004, 111 Seiten, 11 Euro, ISBN 978-3-939045-33-5

Walther L. Bernecker: Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936-1939, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2006, 392 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 3-939045-03-9

Lesungen mit Vera Bianchi

19.10.2019, 19 Uhr, Lange Lesenacht, Café ExZess, Leipziger Straße 91, Frankfurt/M.

21:10 Uhr: Mujeres Libres. Infos: www.gegenbuchmasse.de/2019.html

1.11.2019, 13 bis 15.30 Uhr, Hamburg, Anarchistische Perspektiven auf Wissenschaft (31.10.-3.11.2019)

Uni Hamburg, Von-Melle-Park, Workshop zu: Mujeres Libres - Libertäre Kämpferinnen.

Programm demnächst auf: www.a-perspektiven.org

Lesungen mit Bernd Drücke

18.10.2019, 19.30 Uhr, DFG-VK, Mühlgasse 13, Frankfurt/M., ja! Anarchismus-Lesung mit Herausgeber Bernd Drücke und Überraschungsgästen, Infos: www.dfg-vk-hessen.de/bildungswerk/ja-anarchismus

1.11.2019, 19 Uhr, Uni Hamburg, Von Melle Park: ja! Anarchismus-Lesung mit Bernd Drücke, Vera Bianchi und Hanna Mittelstädt - im Rahmen des Kongresses „Anarchistische Perspektiven auf Wissenschaft“ (31.10.-3.11.) Infos: https://anarchie.userblogs.uni-hamburg.de/