Rezension

Gandhis ethische Normen

| Lou Marin

Johan Galtung, Arne Næss: Gandhis politische Ethik. Die Begründung der Satyagraha-Normen erstmals in deutscher Übersetzung, hrsg. von Reiner Steinweg, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019, 188 S., 34 Euro, ISBN 987-3-8487-6050-3

Im 150. Geburtsjahr Gandhis erscheint eine Reihe neuer Bücher, u.a. das im Verlag Graswurzelrevolution, „Gandhi. ‚Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art’“, das im September 2019 in der Graswurzelrevolution Nr. 441 bereits per Vorabdruck vorgestellt wurde. Hier wird nun ein klassisches Werk der europäischen Gandhi-Rezeption vorgestellt. (GWR-Red.)

Norwegen war Anfang der 1950er-Jahre eines der ersten europäischen Länder, das mit dem 1947 unabhängig gewordenen Indien in eine Entwicklungszusammenarbeit trat. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit des norwegischen Mathematikers und Soziologen Johan Galtung (geb. 1930), damals zugleich junger Kriegsdienstverweigerer, sowie des Philosophen Arne Næss (1912-2009) auf Gandhi gelenkt. 1955 veröffentlichten sie ein Buch auf Norwegisch über Gandhis politische Ethik, die sie aus den ihnen damals zugänglichen Schriften Gandhis herausdestillierten und als Normensystem philosophisch aufarbeiteten. In deutscher Sprache ist das norwegische Werk von 320 Seiten nie komplett veröffentlicht worden. Andreas Buro hatte 1983, zur Hochzeit der europäischen Friedensbewegung, eine deutsche Kurzversion von vier Seiten der 15 Satyagraha-Normen von Galtung/Næss veröffentlicht.

Die nun von Reiner Steinweg herausgegebene und eingeleitete Ausgabe ist noch immer keine Gesamtübersetzung, aber doch eine vollständige Übersetzung des wesentlichen Kapitels IV mit den 15 Satyagraha-Normen plus ihrer intensiven Kommentierung und Präzisierung durch Galtung/Næss, sowie zusätzlicher Auszüge aus anderen Kapiteln des Ausgangswerkes. Da das Original in Norwegisch erschien, mussten die vielen Gandhi-Zitate für diese umfassende deutsche Erstausgabe erst wieder im englischen Original gesucht und dann im Deutschen wiedergegeben werden, wodurch die drei ÜbersetzerInnen Christine von Bülow, Christian Bartolf und Xaver Remsing zusammen mit Reiner Steinweg eine enorme Übersetzungsarbeit leisteten, für die ihnen große Anerkennung gebührt.

Reiner Steinweg geht in seiner Einleitung auch auf interessante begriffliche Übersetzungsprobleme ein: So wurde der im Englischen von Gandhi benutzte Begriff „suffering“, der auf eine hinduistische geprägte Kultur zurückgeht, in der Satyagraha-Norm Nr. 10 mit „Sei hingabebereit!“ übersetzt, präzisiert im Sinne von „sich energisch für etwas einsetzen“ oder „sich stark auf etwas konzentrieren“ (S. 134), und wird so nicht mit einem passiv hingenommenen, christlichen Leidensverständnis verwechselt. Für solche wohl überlegten Übersetzungen kann man nur dankbar sein, geht es Galtung/Næss doch um eine universale Darstellung der politischen Ethiknormen Gandhis und um ihre Nutzanwendung für europäische Rezipient*innen.

Das Buch ist gleichwohl nicht ganz einfach zu lesen. Das liegt vor allem am Mathematiker Galtung, dessen tabellenartige Anordnungen ethischer Normen sich nicht immer auf den ersten Blick erschließen. Seine signaturhaften Rückverweise auf bereits besprochene Ethiknormen erschweren den Lese- und Verständnisfluss oder gehen gar in mathematische Formeln über: P1: N1 – N7 – N11 – N13 (S. 168ff.).

Hilfreich ist, dass alle Signaturen auf der hinteren Bucheinband-Klappe aufgelistet sind. Wer die Anstrengung auf sich nimmt, wird mit intelligenten und bedenkenswerten Darstellungen zu den ethischen Prinzipien Gandhis belohnt, selbst wenn man einmal einer bestimmten Norm nicht selbst folgen mag oder aber auch als Gandhi-Kenner meint, diese oder jene von den Autoren herausdestillierte Norm Gandhis anders zu sehen. Auf Seite 167 ahnen die Autoren schon selbst, dass vor allem die Norm, Kampagnenaktionen beim erfolgreichen Entstehen einer Massenbewegung nicht auszuweiten oder auch die von ihnen genannte Norm, Gandhi hätte auf Sabotage verzichtet, zu „Uneinigkeit“ führt. So bin ich der Meinung, dass Gandhi beim Salzmarsch die Aktionsbereiche ständig ausgeweitet hat und auch der Ansicht – im Gegensatz zu den Autoren (S. 156) –, dass das „Verbrennen englischer Stoffe“, die ja britischer Herstellung und importiert waren, sehr wohl Sabotage – oder besser: gewaltfreie Sachbeschädigung – war. Galtung/Næss negieren hier auch die Symbolkraft des Feuers bei diesen Sachbeschädigungen, die ja auf die britischen Herrschenden bedrohlich wirkten und damit gleich eine Reihe zuvor aufgestellter Normen durchbrachen. So kann man sich trefflich über die herausdestillierten Normen streiten, immer aber auf anregende Weise.

Seit dieser frühen Schrift der westeuropäischen Gandhi-Interpretation sind ganze Strömungen der Gandhi-Interpretation entstanden, eine nationalistische, eine westlich-pazifistische (vgl. zu beiden etwa: Beate Jahn), eine marxistisch-pro-gandhianische (die Subaltern-Studies, Partha Chatterjee, B. Bhattacharyya) und, vor allem im englischsprachigen Raum, eine inzwischen unüberschaubar mannigfaltige Strömung der anarchistischen Gandhi-Interpretation (George Woodcock, Peter Marshall, Geoffrey Ostergaard, Ashis Nandy, Maia Ramnath), an die auch das neue Gandhi-Buch im Verlag Graswurzelrevolution anknüpft.

Obwohl Galtung/Næss eher der rein westlich-pazifistischen Interpretation zuzuordnen sind, kommen die anarchistischen Aspekte Gandhis doch zum Vorschein, bis dahin, dass die Autoren am Ende selbst konstatieren müssen, dass Gandhis politische Ethik sich anstatt für die westliche Demokratie „besser für eher anarchistisch geprägte Gesellschaftsformen“ (S. 159) eigne.

Ich habe gleichwohl einen methodischen Einwand: Auf Seite 47 meinen die Autoren, dass „man Gandhis Lehre anno 1910 und 1940 nicht voneinander abgrenzen müsste“. Doch, der Meinung bin ich schon: Das gleich gültige Herausdestillieren der ethischen Normen aus Gandhis Schriften aus allen Phasen seines Lebens verleiht dem Normenkatalog etwas zu Statisches, ganz so, als wäre der Gandhi zu Beginn in Südafrika 1893 derselbe wie 1948. War er nicht.

Verloren geht bei Galtung/Næss ein Verständnis der Evolution der Ansichten und Normen Gandhis, die in zunehmend emanzipative Richtung zeigte. Dass Gandhi etwa in Südafrika und im Ersten Weltkrieg Rot-Kreuz-Korps im Krieg befürwortet und ja selbst geleitet hat, hat er später als Fehler selbstkritisch hinterfragt und konnte dann 1928 überzeugt behaupten: „Ich mache keinen Unterschied zwischen jenen, die Zerstörungswaffen benutzen und jenen, die Rotkreuzarbeit verrichten“ (S. 99). Für die statische Auslegung von Galtung/Næss ist das ein klassischer Normenkonflikt. Für evolutionäre oder auch dynamische Gandhi-Auslegungen, wie sie etwa B. Bhattacharyya in seinem wichtigen Buch „Evolution of the Political Philosophy of Gandhi“ präsentiert, wird auf Grund von Gandhis zunehmender Evolution und Radikalisierung die Aussage von 1928 zur gültigen ethischen Norm und die wie immer geartete Kriegsbeteiligung im Zeitraum vorher als überwunden, d.h. ethisch-normativ nicht mehr gültig angesehen.

Lou Marin