Rezension

Herrschaftsfrei leben – Projektanarchismus

| Elisabeth Voß

Horst-Stowasser-Institut e.V. (Hrsg.): Horst Stowasser: Das Projekt A, bearbeitet von Michael Schläger, Verlag Edition AV, Bodenburg 2019, 248 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86841-221-6

1985 erschien „Das Projekt A“ von Horst Stowasser (1951-2009) als DIN-A4-Broschüre in kleiner Auflage. Es war nicht im Buchhandel zu bekommen, sondern wurde in nummerierten Exemplaren persönlich weitergegeben. Darin entfaltete der anarchistische Autor Ideen eines Projekts zur umfassenden gesellschaftlichen Veränderung, die seit einigen Jahren in bundesweiten Zusammenhängen diskutiert worden waren. Die neu erschienene Ausgabe im Buchformat wird herausgegeben vom Horst-Stowasser-Institut. Der Verein pflegt Stowassers Vermächtnis, das AnArchiv, im Ökohof in Neustadt/Weinstraße, an dem Ort, an dem er gemeinsam mit vielen anderen die Ideen des Projektanarchismus umzusetzen versuchte.

Das Projekt A beschreibt die Idee, die Trennung zwischen Privatleben, Erwerbsarbeit und politischen Aktivitäten aufzuheben, und all diese Lebensbereiche kollektiv zu organisieren. Kernstück sind die „Doppelprojekte“: Eine Gruppe, deren Mitglieder auch zusammen wohnen, betreibt gemeinsam sowohl ein wirtschaftliches Unternehmen, als auch ein kulturelles, soziales oder politisches Projekt, das aus den Gewinnen des Unternehmens finanziert wird. Mehrere solcher Doppelprojekte vernetzen sich und wirtschaften gemeinsam. Ausgangspunkt soll eine verschlafene, westdeutsche Kleinstadt sein. „In meinem Projekt geht es unter anderem darum, ein lustvolles Leben zu leben, ohne sich dessen zu schämen, ohne dass es auf Kosten anderer Menschen, der politischen Aktivitäten oder arroganter Ausbeutung anderer geschieht.“ An immer mehr Orten entstehen solche Projekte, bilden einen gemeinsamen Rat, und Schritt für Schritt weitet sich dieses neue, attraktive Lebensmodell aus. So wird aus dem Projekt A „ein dynamisches Konzept, eine Idee, die sich über das ganze Land – ja (bitte nicht lachen) über die ganze Welt ausbreiten kann. Soll!“

Im Vorwort schildert Michael Schläger vom AnArchiv das neue Interesse vor allem junger Leute am Projekt A. Viele möchten auch mehr darüber wissen, was aus den Umsetzungsversuchen Ende der 1980er bis in die 90er Jahre hinein geworden ist. Nach der vorliegenden, erweiterten Ausgabe des Projekt-A-Buchs von Horst Stowasser arbeitet der Verein „mit vielen Dabeigewesenen und Interessierten an einer kritischen Betrachtung des Neustadter WESPE-Projektes“ (Werk selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen). Daraus soll ebenfalls ein Buch werden, das bei Edition AV erscheinen wird.

Neben dem Ursprungstext von Horst Stowasser enthält der vorliegende Band eine Kurzdarstellung „Projekt A – Was ist das eigentlich?“ der Marburger Pro A-Gruppe von 1992. Darin wird die Geschichte der Idee dargelegt, die Grundgedanken in Kürze, sowie die ersten Umsetzungsversuche und deren Scheitern im hessischen Alsfeld und die hoffungsvollen Entwicklungen in Neustadt/Weinstraße.

Ebenfalls 1992 verfasst wurde der zusätzlich beigefügte Text „Das Projekt A vorwärts und rückwärts“ von Horst Stowasser. Er legt seine strategischen Überlegungen vor und entwirft weitsichtig Szenarien von weltweitem Bankencrash und „Massenflucht der Armen in die Länder der Reichen“. Dass es nicht bleiben kann, wie es ist, steht für ihn fest. Darum sei es notwendig, Strukturen aufzubauen, um den erwartbaren Erschütterungen nicht hilflos ausgesetzt zu sein, sondern reale Alternativen anbieten zu können. Er betont, dass eine „Anarchie zum anfassen“ sich nicht in Nischen oder alternativen Inseln verbarrikadieren dürfe, sondern dass es darauf ankomme, sich zu vernetzen, nicht nur zwischen alternativen Projekten, sondern auch mit der Nachbarschaft und mit Leuten, die ganz anders ticken – ohne jedoch die eigenen Prinzipien aufzugeben.

Das Buch enthält zusätzlich ein Faltblatt, das Stowasser 1993 verfasst und einer zweiten Auflage des Projekt A-Buchs aus 1992 beigefügt hatte. Darin reflektiert er die bis dahin gemachten Erfahrungen, die dazu führten, dass einiges, was im Buch konkret angedacht war, bereits 1992 „endgültig zu Grabe getragen“ wurde. Jedoch sei „der erste Beweis erbracht, dass das utopische Experiment möglich ist und gelingen kann“. Dass es im Leben anders geht als in der Theorie, war Horst Stowasser immer klar, und er wies unermüdlich darauf hin, dass es nicht darum gehe, das im Buch Geschriebene nachzubauen, sondern verstand es als Idee und Denktendenz, die zum Selbermachen ermutigen sollte. Hauptsache es erstarrt nicht, bleibt herrschaftsfrei, autonom und schafft Strukturen, in denen jede und jeder Einzelne sich frei entfalten kann.

In diesem Sinne sind solche Utopien gerade heute wieder wichtig, darum ist das Buch genau im richtigen Moment neu erschienen.

Elisabeth Voß