Decio Machado / Raúl Zibechi: Die Macht ergreifen, um die Welt zu ändern? Eine Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen. Realität der Utopie 4. Übersetzt von Raul Zelik, Bertz + Fischer, Berlin 2019, 220 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-86505-755-6
Es ist kaum ein Jahrzehnt her, da machten sich nicht wenige Menschen hierzulande Hoffnungen auf einen neuen weltweiten linken Aufbruch, der von Lateinamerika ausgeht. Schließlich hatten sich dort Ende der 1990er Jahre Entwicklungen abgespielt, die unterschiedlichen Spektren der Linken Hoffnung machten. In Brasilien wurden die Sozialdemokrat*innen stärkste Partei und mit Lula wurde ein Metallarbeitergewerkschaftler, der gegen die Militärherrschaft aktiv war, Präsident. Auch in Uruguay und Ecuador gab es scheinbar nach Massendemonstrationen progressive Regierungsbündnisse.
In Venezuela schien die Regierung von Hugo Chávez sogar über sozialdemokratische Krisenverwaltung hinauszugehen. Großbetriebe wurden vergesellschaftet und eine Massenbewegung verhinderte im Jahr 2001 einen Militärputsch. Chávez schien der Exponent eines Sozialismus, der aus den Erfahrungen des Stalinismus gelernt hatte. Starke Basisbewegungen aus der Bevölkerung würden eine Bürokratisierung verhindern, so die Hoffnung von außerparlamentarischen Linken, die das chavistische Experiment in Venezuela vor allem seit 2001 mit mehr oder weniger kritischer Solidarität begleiteten.
In diesen Jahren gehört auch Raul Zebechi zu diesen kritischen Begleitern des bolivarischen Prozesses in Bolivien. Der Intellektuelle aus Uruguay gehörte zu denen, die den Fokus seiner Aufmerksamkeit nicht auf Chávez, sondern auf linke Stadtteilbewegungen legten, die es schon seit Jahrzehnten gab, die aber unter Chávez erstmals seit Jahren nicht mehr kriminalisiert wurden. Zebechi gehörte aber immer zu denen, die daran erinnerten, dass der Staat nicht der Ort sein kann, über den grundlegende Veränderungen laufen können. Die aktuellen Krisen der Linksregierungen in Lateinamerika bestätigen diesen Befund.
Jetzt hat Raul Zebechi gemeinsam mit Decio Machado eine Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen veröffentlicht, die von Raul Zelik übersetzt im Verlag Bertz + Fischer veröffentlicht wurde.
Es ist eine grundlegende Kritik, die manche, die sich zu viele Hoffnungen, in soziale Emanzipation durch den Staat gemacht haben, nicht gefallen wird. Sie sollten sie trotzdem lesen und diskutieren, denn nicht nur Zebechi hatte noch vor zehn Jahren den bolivarischen Prozess in Venezuela kritisch-solidarisch begleitet. Sein Koautor Machado war sogar zeitweilig Berater des ecuadorianischen Präsidenten Raffael Correa. Dessen Nachfolger führt das Land nun auch rhetorisch zurück an die Seite der USA und will auch mit dem Kapitalismus nicht mehr brechen. Doch das wollte auch Correa nicht. Schließlich zitieren die Autoren ihn im Buch: „Letztlich machen wir die Dinge besser ohne das Akkumulationsmodell anzutasten. Denn wir wollen nicht den Reichen schaden, sondern eine gerechtere Gesellschaft mit größerer Chancengleichheit“.
Nun könnte man argumentieren, dass das Scheitern dieses Modells eine Bestätigung des alten linken Credos ist, dass ein Verlassen auf die Sozialdemokratie nur Illusionen schürt. Auch im Fall von Bolivien ist das Fazit der Autoren ernüchternd: „Der Beitrag der fortschrittlichen Regierung bestand genau darin: er hat den Staat gestärkt und einen Zyklus von Kämpfen unterbrochen.“ Sehr präzise zeichnen sie am Beispiel der Bergbaugenossenschaften nach, wie eine neue Bourgeoisie entsteht, wenn das kapitalistische Akkumulationsmodell nicht angetastet wird. Dabei setzten sich die Genossenschaften aus jenen Arbeiter*innen zusammen, die aus dem kämpferischen Bergbausektor kommen.
1980 wurde dieser Bergbau von den neoliberalen Regierungen zerschlagen, man hoffte damit auch eine kämpferische Arbeiter*innenklasse erledigt zu haben. Viele der erwerbslos gewordenen Bergleute sahen in den Genossenschaften nicht nur eine Jobalternative. Auch politisch stehen sie der Regierung des ehemaligen Coca-Bauern und Gewerkschaftlers Evo Morales nahe. Sie bekommen Privilegien, haben sich aber mittlerweile selber zu Kapitalist*innen entwickelt. Hier leisteten die beiden Autoren ein Stück materialistische Gesellschaftsanalyse.
Probleme sozialistischer Transformationsprozesse
Nun kann man allerdings vom bolivarischen Prozess in Venezuela nicht behaupten, dass er nicht auch Strukturen der alten besitzenden Klassen angegriffen hat, die verkürzt als die Reichen bezeichnet werden können. Deswegen wird Venezuela in dem Buch auch unter dem Kapitel „Probleme sozialistischer Transformationsprozesse“ abgehandelt und historisch neben der Sowjetunion und Kuba eingeordnet. GWR-Leser*innen wird ihr Befund freuen: „Man kann also festhalten, dass die Begründer des historischen Marxismus die Gefahren einer Bürokratisierung in postrevolutionären Gesellschaften völlig falsch einschätzten und die anarcho-kommunistischen Denker ein viel klareres Bewusstsein davon besaßen, dass eine Revolution zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie sich nicht des Staates entledigt“.
Doch leider wird in dem Buch nicht auf die Debatten in der bolschewistischen Partei nach der Oktoberrevolution eingegangen, wo es lange massiven Widerstand gegen die Einführung fordistischer Arbeitsmethoden in der jungen Sowjetunion gab. Zudem wäre ein Hinweis angebracht gewesen, dass sich auch die Anarchosyndikalist*innen 1936 in Barcelona fordistischer Arbeitsmethoden bedienten, wie Michael Seidmann in dem im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buch „Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38“ gut herausarbeitet hat.
Offene Fragen für die Diskussion
Der Stellenwert der Basisbewegungen im bolivarischen Venezuela bleibt in dem Buch von Machado/Zibechi offen. Sie erwähnen die Arbeiten von Dario Azzellini, der in verschiedenen Büchern und Filmen eine starke Rolle dieser linken Basisbewegungen festgestellt hat. Da wäre eine genauere Analyse ebenso angebracht, wie bei dem Kapitel über die Korruption in Brasilien. Dort zeichnen die Autoren überzeugend nach, dass es sich bei den Korruptionsprozessen, die den Sozialdemokraten Lula ins Gefängnis brachten, um den Machtkampf von zwei Fraktionen der Bourgeoisie in Brasilien handelte. Doch unterbelichtet bleibt die Rolle des brasilianischen Korruptionsdiskurses bei der Faschisierung der Gesellschaft, der mit der Wahl des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsanaro seinen Höhepunkt, nicht aber seinen Abschluss gefunden hat. Diese Faschisierung, die nicht nur in Brasilien zu beobachten ist, kommt in dem Buch nur am Rande vor, was einerseits ein Vorteil ist, da die nichtfaschistischen Kräfte genauer kritisiert werden können. Doch diese Rechtsentwicklung, die sämtliche Spektren der Linken betrifft, hat dafür gesorgt, dass in Brasilien die Gegner*innen von Bolsonaro wieder mehr zusammenrücken. Schließlich ist Lula jetzt kein Präsident mehr, sondern Gefangener. Da ist eine breite Solidaritätsbewegung notwendig. Diskutiert werden sollte aber, wie verhindert werden kann, dass im Kampf gegen Rechts wieder reformistische Modelle als kleineres Übel gesehen werden.
Diskutiert werden sollte auch über die linken Alternativen zu den staatssozialistischen Modellen, die im Buch nur am Rande vorkommen, wenn die zapatistische Bewegung erwähnt wird. Wie es den Zapatistas gelang, in den letzten Jahren ihren Einflussbereich sogar auszuweiten, welche Erfolge aber auch welche Probleme es in den zapatistischen Gemeinden gibt, wäre ebenfalls ein Thema für eine Diskussion, die dieses empfehlenswerte Buch anregen könnte.
Peter Nowak