„Samen, aus denen andere Welten entstehen“

Inkompatible Politikmodelle in Mexiko. Zapatistas gegen „Entwicklungsprojekte“ der Regierung López Obrador

| Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A.

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„Autonomes rebellisches zapatistisches Widerstandszentrum: Kollektiv des Herzens rebellischen Saatguts im Gedenken an den Genossen und Lehrer Galeano“ Einweihung des neuen autonomen Verwaltungssitzes Caracol 6 in La Unión, Chiapas, Mexiko. Foto: EZLN

Die häufig als sozialdemokratisch etikettierte Regierung unter dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (Amlo) von der Partei „Bewegung zur nationalen Erneuerung“ Morena (span.: Movimiento Regeneración Nacional) wird nach acht Monaten Amtszeit mit immer mehr Protesten seitens linker demokratischer, emanzipatorischer, feministischer, humanistischer, ökologischer und kleinbäuerlich-indigener sozialer Bewegungen und Aktivist*innen konfrontiert.

 

Neben der Kritik an den anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen werden vor allem sogenannte Entwicklungsprojekte in Südmexiko wie der „Maya-Zug“ in der mexikanischen Karibik und in Nord-Chiapas oder die trans-ozeanische Bahntrasse vom Atlantik zum Pazifik zwischen den Industriehäfen Salina Cruz in Oaxaca und Coatzacoalcos in Veracruz sowie der aufoktroyierte Ausbau von sozial und ökologisch hochproblematischen Infrastrukturprojekten wie neuen Kraftwerken in Süd- und Zentralmexiko angeprangert, welche die Existenz hunderter Gemeinden bedrohen.

Hier prallen weiß, männlich und technologie-gläubig geprägte Entwicklungs- und Wachstumsvorstellungen mit dem Streben der lokalen Bevölkerung aufeinander, die autonom über ihre Lebensweise entscheiden und nicht den Verwerfungen des urban orientierten Kapitalismus folgen möchte. Befragungen der Bevölkerung werden nachweislich manipuliert und häufig von Personen beantwortet, die keine oder kaum eine Ahnung von der Problematik vor Ort haben. Mit der „neu-alten“ Regierungspraxis verletzt Mexiko tagtäglich nationales und internationales Recht, darunter die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO über indigene Rechte.

Amlo setzt wie seine Vorgänger im Amt einen – eventuell leicht abgeschwächten – neoliberalen und autoritären PRIismus um. Schließlich hat er seine Karriere in der „Institutionellen Revolutionären Partei“ PRI begonnen, die Mexiko von 1929 bis 2000 ununterbrochen und dann erneut von 2012 bis 2018 dominiert hat. Danach hat er mehrfach – teils wegen tatsächlichen Wahlbetrugs – vergeblich als sozialdemokratischer Kandidat für die Partei der Demokratischen Revolution PRD kandidiert. 2018 gelang es dem dann gut etablierten Apparat der neuen Partei Morena, um die sich viele PRI-, PRD-Angehörige und Hardcore-Kapitalisten wie der Mit-Erfinder des „Plan Puebla Panamá“ Alfonso Romo versammelt haben, die Machtübernahme – unter anderem aufgrund populistischer Versprechungen für mehr „Wohlstand für Alle“. Strategisch geht es darum, Regionen und Bevölkerungsgruppen an den Kapitalismus anzudocken und somit die Territorien ausbeutbar für privilegierte, demokratisch keineswegs legitimierte Minderheiten zu machen – ein Riesengeschäft für mexikanische und internationale Konzerne.

Ausbau der zapatistischen Autonomie

Dies stößt auf beachtlich zunehmende Kritik. Besonders scharf reagierte die indigen geprägte linke Bewegung der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN auf die anhaltenden neoliberalen Entwicklungsdogmen und die entsprechende Praxis. Sie konnte nun ihren Einfluss im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas deutlich erweitern. Nach über tausend basisdemokratischen Gemeindeversammlungen und Mobilisierungsarbeit im Untergrund in den vergangenen drei Jahren wurden ohne Waffengewalt weitere regierungs- und parteiunabhängige Parallelstrukturen aufgebaut, um die regionale Autonomie zu stärken.

Diese Gremien, die als „Räte der guten Regierung“ bezeichnet werden, organisieren aufgrund des alltäglichen Versagens, der Ausbeutungspraxis und der Repression des mexikanischen Staates erfolgreich eigenständig Bereiche wie Agrarökologie, Bildung, Frauenrechte, indigene Rechte, Gesundheit, Kooperativen, Medien, Menschenrechtsbeobachtung, Lebensmittelproduktion, Ökonomie, Rechtsprechung, Sicherheit, Transport, Verwaltung sowie die Vernetzung mit linken sozialen Bewegungen in ganz Mexiko und weltweit. Die Initiative haben vor allem die zapatistischen Frauen und Jugendlichen vorangebracht. Auch ehemalige Regierungsanhänger*innen unterstützen die neue Initiative der EZLN.

Die Sitze der zapatistischen Räte werden als „Caracoles“ (deutsch: Schneckenhäuser) bezeichnet und fungieren als staatsunabhängige Verwaltungszentren für jeweils mehrere zehntausend Menschen. Sie koordinieren die autonomen Landkreise, Dörfer und Städte. Das Besondere ist, dass die Struktur „von unten nach oben“ funktioniert – alle Mandate sind stets nur von der Basis „geliehen“ und alle Beauftragten können jederzeit abberufen werden. Ein geschlossenes Territorium kontrolliert die EZLN allerdings weiterhin nicht, häufig leben Zapatistas und Regierungsanhänger*innen friedlich nebeneinander. Es kommt aber auch immer wieder zu Angriffen auf Oppositionelle, darunter die christlich-pazifistische Bewegung Las Abejas oder die Zapatistas.

Militarisierung durchbrochen

Es ist durchaus als historisch zu bezeichnen, dass nun neben den fünf bereits existierenden Caracoles sieben weitere gegründet wurden. Darüber hinaus stieg die Anzahl der autonomen Landkreise von 27 auf 31. In einem Kommuniqué mit dem Titel „Wir haben die Umzingelung durchbrochen“ vom 17. August 2019 schreibt Subcomandante Moisés, Sprecher der EZLN: Nach Jahren der geheimen Arbeit, trotz der Belagerung, trotz der Lügenkampagnen, trotz der Diffamierungen, trotz der Militärpatrouillen, trotz der Nationalgarde, trotz der als soziale Programme getarnten Aufstandsbekämpfungskampagnen, trotz des Vergessens und der Verachtung sind wir gewachsen und stärker geworden. Gegen die Verachtung der Mächtigen, die uns als unwissend und dumm abtun, setzen wir Intelligenz, Wissen und Vorstellungskraft ein.“

Militarisierung zur Durchsetzung kapitalistischer Projekte

Chiapas ist seit dem zweiwöchigen bewaffneten Aufstand der EZLN gegen Ausbeutung, Diskriminierung und Unterdrückung von Anfang 1994 einer der am meisten militarisierten Bundesstaaten Mexikos, da die Region erstens extrem ressourcenreich ist und zweitens eine Ausweitung der linken Rebellion unbedingt verhindert werden soll.

Die aktuelle Regierung hat die Militarisierung Mexikos weiter vorangetrieben. Mit der Argumentation, dass die bisherigen Sicherheitskräfte für ihre Zusammenarbeit mit dem Drogengeschäft und anderen äußerst gewalttätigen illegalen Strukturen berüchtigt sind, hat der Präsident eine Nationalgarde gründen können, die inzwischen über 58.000 Personen umfasst. Mit über 230.000 Soldaten insgesamt sind damit so viele Militärs wie noch nie im Einsatz und leisten vermeintlich polizeiliche Arbeit zum Schutz der Bevölkerung, die nicht von der Verfassung gedeckt ist.

Die Hochrüstung der Streitkräfte wird von Menschenrechts- und Frauenorganisationen, sozialen Bewegungen und progressiven Intellektuellen massiv kritisiert, da keinerlei Verbesserung der Alltagsrealität, sondern eine deutliche Verschlechterung bereits eingetreten ist. Besonders pikant ist, dass das meiste Militär nicht etwa dort stationiert ist, wo die Kriminalitätsrate pro Kopf besonders hoch ist, sondern dort, wo ökonomische Großprojekte wie Berg- und Tagebau, agrarindustrielle Monokulturen wie Ölpalmen oder Tourismusprojekte geplant oder bereits im Entstehen sind, darunter der sogenannte „Maya-Zug“ auf der Halbinsel Yucatán in der mexikanischen Karibik und in Palenque, Nord-Chiapas, der insgesamt eine Strecke von 1.500 Kilometer umfassen soll.

Auf der Regierungshomepage zum „Tren Maya“ wird offen von einer „Integralen Neuordnung des Territoriums“ gesprochen: Tagsüber soll der Tourismus dominieren, nachts der Abtransport von lokalen Produkten wie Edelhölzern. Vor allem: Es sind kaum Haltestellen und bezahlbare Preise für die lokale Bevölkerung geplant. Aber die „Bettelei“ der zumeist indigenen Menschen in der Region würde toleriert werden, so Tourismusminister Rogelio Jiménez Pons. „Wir haben keine Lust, Sklavinnen für die Touris zu werden“, so Andrea, eine junge Zapatistin im Interview. „Wir brauchen Ruhe und Frieden.“ Als besonderen Affront betrachten die sozialen Bewegungen auch die Namensgebung des Zuges als „Tren Maya“ – es wird nicht nur die Umwelt zerstört und Menschen vertrieben, es wird auch noch neo-kolonialistisch und folkloristisch die stark indigene Prägung der Region kapitalisiert. Minister Jiménez nahm im Februar 2019 kein Blatt vor den Mund: „Wir sind eine linke Regierung, die mehr als jedwede Sache einen wirklichen Kapitalismus etabliert, jenseits des ‚Kapitalismus der Kumpel‘, den es in Mexiko gibt.“

Von Eurozentrismus, Unkenntnis von Konzepten wie Post-Development oder Buen Vivir spricht auch die Verlautbarung des vermeintlichen Vordenkers der venezolanischen Revolution Heinz Dieterich, der kürzlich postulierte: Ein Fortschritt würde „[…] nur mit einem Wirtschaftswachstum von vier Prozent und durch große Infrastrukturprojekte wie die neue Ölraffinerie im Südosten und das Eisenbahnprojekt ‚Tren Maya‘ möglich sein“. Die Haltung der Zapatistas bedeute eine Blockade für ganz Südmexiko und ein Hindernis für den Fortschritt in der Region. Auch die ressourcenreichen und indigen geprägten Nachbarbundesstaaten Oaxaca und Guerrero sind wegen ihrer Attraktivität als Lieferanten für Bodenschätze, Wasser- und Windenergie besonders von der Militarisierung betroffen.

Gleichzeitig erfüllt Mexiko mit der Kontrolle der Grenze zu Mittelamerika die Aufgabe, Menschen abzuwehren, die in die USA migrieren wollen, und dass, obwohl Amlo US-Präsident Trump im Wahlkampf von 2018 noch als rassistischen Faschisten tituliert hatte.

Erfolge der Autonomie

Umso beachtlicher ist es, dass es der EZLN trotz der bis heute permanenten Anwesenheit der staatlichen Polizei- und Militärkräfte, der illegalen Paramilitärs und Banden der Großgrundbesitzer, des organisierten Verbrechens, Desinformation in den Mainstream-Medien und der anti-zapatistischen Hasskampagnen in den „Sozialen Medien“ gelungen ist, viele Menschen vor Ort von ihren emanzipatorischen Zielen zu überzeugen. Vor allem die erfolgreiche Alltagspraxis hat die Menschen überzeugt.

So konnte die EZLN in den Landkreisen Amatenango del Valle, Chicomuselo, Chilón, Motozintla, Ocosingo, Tila und sogar in der großen, touristisch geprägten Stadt San Cristóbal de las Casas, neue autonome Räte und Landkreise etablieren. Diese Selbstverwaltungsstrukturen haben bisher stets zu mehr Selbstbestimmung, mehr Geschlechtergerechtigkeit, mehr Deeskalation und weniger Ausbeutung, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung beigetragen. Interessant ist, dass auch viele Nicht-Zapatistas seit vielen Jahren diese freieren Strukturen, vor allem in den Bereichen Rechtsprechung und Gesundheit, nutzen. Präsident López Obrador sah sich ob des großen Rückhalts der EZLN in der Bevölkerung vor Ort genötigt, die Ausweitung der zapatistischen Strukturen öffentlich zu „begrüßen“, solange sie nicht gewalttätig agierten – welch ein Zynismus angesichts der Realität im Land!

Die EZLN wiederum distanziert sich konsequent von der aktuellen Regierung: „Wir wussten und wissen, dass unsere Freiheit nur das Werk von uns selbst sein wird, den indigenen Gemeinschaften. Mit dem neuen ‚Vorarbeiter‘ [gemeint ist Amlo, Anm.d.A.] in Mexiko setzte Verfolgung und Tod sich weiter fort: In nur wenigen Monaten wurden ein Dutzend compañeros des Nationalen Indígena Kongresses CNI und des Indigenen Regierungsrates – soziale Kämpfer – umgebracht. Unter ihnen ein Bruder, der von den zapatistischen Gemeinschaften sehr respektiert wird: Samir Flores Soberanes – getötet, nachdem er vom Vorarbeiter gebrandmarkt wurde – der die neoliberalen Mega-Projekte weiter fortsetzt, die ganze Gemeinden verschwinden lässt, die Natur zerstört und das Blut der indigenen Gemeinden in einen Profit für das große Kapital verwandelt. Deshalb – zu Ehren der Schwestern und Brüder, die gestorben sind, verfolgt und vermisst werden oder im Gefängnis sitzen – haben wir uns entschlossen, die Kampagne der Zapatistas […] so zu benennen: ‚Es lebe Samir Flores‘.“

EZLN kündigt weitere globale Aktivitäten an

Bedeutend ist, dass die Zapatistas sich weiterhin nicht allein auf Chiapas, Mexiko und den indigenen Widerstand beschränken. Sie haben angekündigt, zu diversen Treffen zu politischem Aktivismus, kritischen Wissenschaften und Künsten einzuladen und rufen dazu auf, eine weltweite Räteföderation für Widerstand und Rebellion aufzubauen. Auch der parteiunabhängige Nationale Indigene Kongress CNI sowie das globale Netzwerk der „Sexta Internacional“ sollen durch Treffen und Mobilisierungsarbeit weiter gestärkt werden. Die Erklärung der EZLN zur aktuellen Situation endet mit den Worten:

Wir sind Rebellion und Widerstand. Wir sind eines der vielen Schlagwerkzeuge, die die Mauern zertrümmern werden, einer der vielen Winde, die über die Erde fegen und einer der vielen Samen, aus denen andere Welten entstehen werden.“

Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A.