Simone Barrientos/Karsten Krampitz (Hrsg.): Der Feuerstuhl. Werk und Wirken des Schriftstellers B. Traven. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2019, 239 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86569-302-2
„Kein Bild von mir“: Das machte der Autor, soeben erst entdeckt, zur Bedingung. Seine Texte sollten für ihn sprechen, Äußerlichkeiten nicht vom Inhalt ablenken. Das Gegenteil war der Fall. Von Beginn an schien die Biografie wichtiger zu sein als das Werk. An den Themen lag es nicht. Schon sein zweiter Roman, „Das Totenschiff“ behandelt eine immer noch aktuelle Frage: Wie kommen Menschen, in der Heimat verfolgt, ohne Papiere in ihr Wunschland? Gar nicht, lautet, damals wie heute, die Antwort; oft endet die Reise vor einem Grenzzaun oder auf dem Meeresgrund. Die Geschichte trägt, auch ohne allen Wirbel um ihren Urheber.
B. Traven nannte sich der Autor. Es war nicht sein richtiger Name und nicht einmal sein erstes Pseudonym, wie sich später herausstellte. Doch so genau wollte es niemand wissen. Ein kapitalistischen Prinzipien verpflichteter Literaturbetrieb, stärker am Kommerz als an der Kunst orientiert, wie Traven argwöhnte, brauchte konsumfreudige Leser. Gerne half er, sie zu manipulieren, indem er bestenfalls Halbwahrheiten über seine Herkunft und sein Umfeld verbreitete. Buch- und Zeitungsverlage strickten fleißig an der Legende mit, ließen sich doch von ihnen selber geweckte Kundenbedürfnisse, etwa dasjenige nach Sensationen, in der Folge umso leichter befriedigen.
Zunächst hatte Traven seinen Erstling „Die Baumwollpflücker“ dem „Vorwärts“ angeboten. Das Manuskript schickte er aus seinem mexikanischen Exil, als Adresse gab er ein Postfach in der Hafenstadt Tampico an. Die Leser*innen des SPD-Blatts, so sein Kalkül, würden mit seiner Romankundschaft eine Schnittmenge bilden und die im Buch geübte Kritik am ausbeuterischen Gewinnstreben internationaler Konzerne wie an der Verelendung entrechteter Arbeiter teilen. Dieser Meinung war auch Redakteur John Schikowski.
Doch statt an das soziale Gewissen seiner Klientel appellierte er lieber an oberflächliche Instinkte. „Der Verfasser“, kündigte er den Vorabdruck im „Vorwärts“ an, „kennt das Proletarierleben in Mexiko, in Nordamerika, in Zentralamerika. Als Ölmann, als Farmarbeiter, als Kakaoarbeiter, Fabrikarbeiter, Tomaten- und Apfelsinenpflücker, Urwaldroder, Maultiertreiber, Jäger, Handelsmann unter den wilden Indianerstämmen der Sierra Madre, wo die ‚Wilden‘ noch mit Pfeil, Bogen und Keule jagen, ist er tätig gewesen.“
An Schikowskis Aussagen war kaum etwas Wahres dran. Immerhin erreichten sie ihren Zweck, die Leserschaft biss an. Überdies schien sie sich exakt so zu verhalten, wie Traven in seinem früheren Leben, als er bereits publizistisch tätig war, vermutet hatte: „eine Million Vorwärts-Leser“ mit ihrem konsumistisch-unkritischen Verhalten bildeten „keine Macht, sondern eine Masse“.
Einer von ihnen war Ernst Preczang. Der Cheflektor der ein Jahr zuvor gegründeten und im gewerkschaftlichen Milieu angesiedelten Büchergilde Gutenberg luchste Schikowski die Adresse Travens ab und schrieb ihm am 13. Juli 1925: „Soweit es mich betrifft, spüre ich in Ihrem Roman verwandten Geist und würde Sie darum als Mitarbeiter bei uns mit Freude begrüßen.“ Preczang schloss in „der Hoffnung, daß Sie bereit sind, uns zu helfen, ein wenig frische Luft und fröhliches Weltgefühl in die deutsche Literatur zu bringen“. Es war der Beginn einer für beide Seiten äußerst lukrativen Zusammenarbeit.
500 Mark hatte Traven vom Vorwärts bekommen und war damit recht zufrieden gewesen. Von der Büchergilde konnte er für den kompletten Roman das Siebenfache erwarten. Bald stiegen die Auflagen ins Märchenhafte: Allein „Das Totenschiff“ erreichte in den nächsten fünf Jahren die 100.000er Marke. Später wurden seine Werke in 40 Sprachen übersetzt, mit einer geschätzten Gesamtauflage von 30 Millionen Exemplaren. Die Anerkennung setzte sich in anderen Bereichen fort: „Der Schatz der Sierra Madre“, von John Huston verfilmt, gewann drei Oscars und spielte vier Millionen Dollar ein.
Auch nach all diesen Erfolgen blieb die Person Travens ein Rätsel. Mit ein wenig gutem Willen seitens Schikowskis und Preczangs hätte es längst entschlüsselt sein können. Der Lösung ziemlich nahe war unterdessen Erich Mühsam gekommen. Er hatte „Das Totenschiff“ einem Vergleich mit Texten eines Mitstreiters aus der Münchner Räterepublik unterzogen und war zu dem Schluss gekommen, dass jener mit B. Traven identisch war: „Ret Marut, Genosse, Freund, Kampfgefährte, Mensch, melde dich“, forderte Mühsam, nachdem er sprachliche und stilistische Übereinstimmungen festgestellt hatte. Der Enttarnte zog es vor, dazu zu schweigen; selbst dann noch, als Oskar Maria Graf in seiner Sprach- und Stilanalyse zum gleichen Ergebnis gekommen war.
Einige Gründe sprachen für Travens Geheimniskrämerei. Als er sich noch Ret Marut nannte, hatte er die anarchistische Zeitschrift „Der Ziegelbrenner“ fast im Alleingang betrieben und aus einer linken Position die SPD kritisiert. Deren Anführern, allen voran Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske, gab er eine Mitschuld am Scheitern der Räterepublik und ihrer blutigen Niederschlagung mit mehr als tausend Toten. Das Werk eines Ret Marut, der den Ideen Max Stirners anhing, „in jeder Partei-Zugehörigkeit eine Beschränkung meiner persönlichen Freiheit“ sah und zur Zerstörung der kapitalistischen Produktion samt ihres staatlichen Garanten aufrief, hätte kaum in ein sozialdemokratisches Blatt oder einen gewerkschaftsnahen Verlag gepasst.
Zudem wurde Marut nach seiner Flucht aus München, als er in letzter Sekunde einem Erschießungskommando entkam, steckbrieflich gesucht. Seine fast fünf Jahre dauernde Flucht führte ihn über Köln, Antwerpen, Amsterdam, Kopenhagen und London (da wollte jemand alle Spuren verwischen) nach Mexiko, wo er sich zwei weitere Pseudonyme zulegte: Als Traven Torsvan meldete er sich bei den Behörden an, für Regisseur Huston war er Hal Croves, der den angeblich erkrankten Autor Traven bei den Dreharbeiten zum Sierra Madre-Film vertrat.
„Warum Mexiko?“, ließe sich abschließend fragen. Eine mögliche Antwort liefert ein neuer Sammelband anlässlich Travens 50. Todestag. „Der Feuerstuhl“ lautet sein Titel, nach einem angeblich indigenen Ritual, das Traven im Roman „Regierung“ beschreibt: Künftig Herrschende müssen vor Antritt über glühenden Kohlen sitzen, um sich in Demut zu üben und mit diesem Bewusstsein auch später ihr Amt auszuüben. Mexiko, macht der Band klar, war für Traven kein vorübergehendes Ziel, kein Fluchtpunkt, sondern dauerhafte Bleibe. Das Land lieferte ihm anschauliche Beispiele für seine im Ziegelbrenner vorgebrachten Theorien. Nicht alle waren negativer Art. Travens Ziel, den Kapitalismus zu vernichten, war dasselbe geblieben, doch gab es positive Ansätze einer gerechteren Gesellschaft, die zu verfolgen sich eventuell lohnte.
Auch in Mexiko hatte es, wie in Bayern und im Deutschen Reich, eine Revolution gegeben – mit anscheinend glücklicherem Ausgang. Als Traven in Tampico eintraf, übernahm mit Plutarco Elías Calles ein Präsident, der den Einfluss der katholischen Kirche ebenso wie den der internationalen Ölgesellschaften zurückdrängte, interventionistischen Bestrebungen der USA eine Absage erteilte und die Bewegung indigener Landloser gegen Großgrundbesitzer ebenso unterstützte wie die Industriearbeiter in ihrem Kampf um betriebliche Mitbestimmung. Klar, Traven wäre nicht Marut gewesen, hätte nicht bald die Kritik an den Zuständen und Verhältnissen überwogen.
In Mexiko war die Revolution im Jahr nach Travens Ankunft offiziell beendet. Leider verschwanden auch die meisten Errungenschaften: Bald bildeten sich wieder Eliten heraus, die Produktionsverhältnisse blieben im Wesentlichen unangetastet, die Beteiligung der indigenen Bevölkerung an politischen Prozessen erschöpfte sich in der Rolle des Aushängeschilds einer nur auf dem Papier existierenden Emanzipation. Um mit Traven zu sprechen: Die Regierenden der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution, bis ins Jahr 2000 ununterbrochen am Ruder) hätten niemals eine Probe auf dem Feuerstuhl bestanden.
Dennoch schien sich Traven in der neuen Heimat wohler zu fühlen als in der alten, die er nur noch einmal, zehn Jahre vor seinem Tod, kurz besuchte. Als er am 26. März 1969 starb, hatte Traven zwei Drittel seines Lebens in Mexiko verbracht. Es ist ein Verdienst des Sammelbands, diesen Weg aufzuzeichnen und ihn in Beziehung zu aktuellen Entwicklungen zu setzen, nicht nur in Mexiko, denn der Kapitalismus ist ein globales Übel.
Travens Werke sucht man heute in den Buchläden vergeblich. Warum eigentlich? „Das Totenschiff“ oder „Regierung“ verdienen eine Lektüre.
Ralf Höller