Liberté – Égalité – Léoferré

Porträt des Dichter-Sänger-Komponisten Léo Ferré (1916-1993)

| Elmar Klink

o Ferré, obwohl immer als solcher bezeichnet, war kein Franzose, sondern Monegasse, geboren in Monte Carlo mit französischer Staatsbürgerschaft. Der Vater war Kurhausdirektor und zuständig für das Casino im Fürstentum Monaco. Der junge Léo bekam da schon einen Eindruck von der exklusiven Welt der Reichen, denen er später mit beißenden Lied-Texten zu Leibe rückte.

Rebecca Horn: Concert for Anarchy. Bildquelle: https://www.tate.org.uk

Doch auch Ferré liebte das Exklusive. Nachdem er mit größeren musikalischen Konzert-Erfolgen zu mehr als nur Tagelöhnen kam, die ihn jahrelang gerade so über Wasser hielten, gestattete er sich selbst einige Exklusivitäten. Er fuhr gerne schnelle Wagen (eine englische Achtzylinder Jaguar Sportwagenlimousine) und kaufte sich günstig zwei größere Anwesen, wo er Zeiten seines Lebens verbrachte. So auf der der bretonischen Küste vorgelagerten Insel Guesclin, die er mit kaufte und danach die burgähnliche Schlossanlage Perdrigal (Pech-Rigal) aus dem 13. Jahrhundert im okzitanischen Departement Lot nahe der Stadt Gourdon in der mittleren Dordogne-Region. In seinen Refugien lebte er mit seiner zweiten Frau Madeleine Rabereau (Heirat 1952), eine Ehe, die kinderlos blieb und einer Menagerie von Tieren, die in Haus und Hof Freilaufrecht genossen: Schimpansen, mehrere große Bernhardiner-Hunde, Ziegen, Schweinen, Katzen und Federvieh. Wer das von der Straße etwas abgelegene Landgut in Südwestfrankreich betrat, wurde von einer Horde Tiere empfangen und zu den Herrschaften des Hauses eskortiert. Obwohl eigentlich bewusst abgesondert lebend, war man auch unangemeldet willkommener Durchreisegast bei Ferré. Er pflegte freundschaftlichen Kontakt zum okzitanischen Sänger Claude Nougaro aus dem nicht weit entfernten Toulouse. Nougaro hatte das berühmte „Paris, Mai“ komponiert und gesungen mit seinem mitreißenden Trommelrhythmus „Mai, Mai, Paris Mai – Mai, Mai, Paris Mai“. Das Lied handelt von den politischen Unruhen und Barrikadenkämpfen im Pariser Mai 1968. Auch Ferré hatte das politische Lied bei Konzertauftritten gelegentlich in seinem Repertoire, neben seinem eigenen „Mai 68“.

Der Künstler

Doch meist sang Ferré Liedwerke, die er selbst textete und komponierte. Das Kompositionshandwerk hatte er theoretisch in Privatstunden bei Leonid Sabaniev gelernt, einem verarmten, russischen Skrjabin-Schüler, wofür das Honorar in Naturalien vergolten wurde. Ferré selbst erlernte und spielte Klavier und Orgel. Im Lauf der Jahrzehnte sammelten sich gut 500 eigene Stücke an, von denen Ferré viele in Studios auf Bänder und Platten aufnahm, aber auch als Live-Mitschnitte und später auf CDs und CD-Sammlungen präsentierte, darunter so berühmt gewordene wie „Mon Général“, „Saint-Germain-des-Prés“, „Paris-Canaille“, „Thank you satan“ „La mer“, „Jolie môme“, „Les poètes“, „C’est extra“ oder „Les anarchistes“. Ferré war Chansonnier mit einer etwas rauen, ungeschliffenen Stimme, die zu seinen poetischen, nicht selten melancholischen, dann wieder provozierenden Liedern gut passte und die sowohl sanfte wie krächzende Tonanklänge hervorbringen konnte. Gesang hat er nie studiert. Oft schwangen in seinen Liedvorträgen Humor, Ironie und Satire mit. Ferré war kein Kind von Traurigkeit, er liebte das Lachen und Späße. Er zielte auf der Bühne textlich wie musikalisch nicht selten ab auf Schock, Verzerrung und Verfremdung. Eine Art singender Brecht auf der Bühne. Er wollte kein Troubadour fürs genießende Gemüt zum gemütlichen Zurücklehnen sein. Er kreierte und benutzte einen eigenen, häufig idiomatischen Ferré-Style (der Ferrésche Idolekt; M. Weiss), dessen bisweilen eigenwillige Wortschöpfungen man vergeblich in Wörterbüchern sucht. Daneben konnte er Sentenzen und Strophen melancholisch zerfließend dehnen und emotional ausweiden. Das machte seine Darbietungen einmalig und unnachahmlich, die für das Publikum zunächst etwas gewöhnungsbedürftig waren. Er arbeitete sichtlich und hörbar lautakrobatisch mit Worten und Tönen. Der nicht sehr groß gewachsene Ferré wirkte und beeindruckte bei Auftritten gleichwohl mit der ganzen Präsenz seiner widersprüchlich anmutenden Erscheinung. In späteren Jahren mit clownhaft wirkendem, rundem ergrautem Langhaarkranz um das schüttere Haupt. Da war er längst auf seine eigene Art akzeptiert. Man reihte ihn wegen seiner Liedinhalte mit oft politischem Hintergrund ein neben Chansongrößen wie Jaques Brel und Georges Brassens, mit denen er eine Art Triumvirat der Gleichen bildete und im freundschaftlichen Kontakt stand.

Werdegang
Léo Ferré, Fête du PSU, Colombes, 1973. Foto: JPRoche, Wikipedia, CC BY-SA 3.0

1935 machte Ferré das Philosophie-Abitur, von 1936 bis 1937 studierte er Jura, dann politische Wissenschaften, worin er ein Diplom erwarb. Bei Kriegsbeginn erst zum Militär eingezogen, zog sich Ferré ab Sommer 1940 nach der Besetzung und Demobilisierung auf ein Bauernanwesen im unbesetzten Süden des Landes zurück. Ferré war kein Kandidat für die Resistance. Er betrieb etwas Landwirtschaft, befasste sich mit klassischer Musik und schrieb Opern-Partituren. 1945 war er wieder in Monte Carlo, arbeitete beim Radiosender des kleinen Fürstentums als Sprecher, Sänger, Regieassistent und Pianist. 1946 kehrte er nach Paris zurück und versuchte sich im Kabarett-Fach im „Le Boeuf sur le toit“, „Les Assassins“ und im „Le Quodlibet“. Hier erfuhr er erste Anerkennung. Für Edith Piaf vertonte Ferré in dieser Zeit das Lied „Les Amants de Paris“ (Die Liebenden von Paris). Vertonung meint hier Orchestrierung. „La Vie d’artiste“ ist der Titel von Ferrés erster geschriebener Oper 1950. Er dirigierte 1954 das Nationalorchester der Oper von Monte Carlo für sein „Chanson du mal aimé“ von Apollinaire. Im selben Jahr trat er im „L‘Olympia“ im Vorprogramm von Josephine Baker auf. Ein Jahr später folgte der Auftritt dortselbst im Hauptprogramm. Das gelang 1958 auch im „Le Bobino“. Die 77 frühen Texte, die meist alle zu Liedern wurden, konnten im ersten Textbuch „Poètes, vos papiers!“ erscheinen.

Sowohl Edith Piaf als auch die jüngere Chansonette Catherine Sauvage vermittelten und ebneten Ferré den Zugang zu den großen Bühnen des „L’Olympia“, „Le Bobino“ und „L’Alhambra“. Sauvages unermüdliche Bemühungen trugen zur Popularisierung Ferrés nicht unwesentlich mit bei, indem sie erfolgreich die Ferré-Lieder „L’homme“ und „Paris-Canaille“ interpretierte, was sich zu dem Zeitpunkt Chansongrößen wie Charles Trenet oder Ives Montand mit den Frühwerken eines Unbekannten nicht zutrauten. Sauvage wurde auch zur engen Freundin von Ferré und seiner Frau. Es markierte schließlich den Durchbruch und das Publikum verzieh Ferré auch bald seine vom Kabarett noch mitgebrachten Grimassen- und „Raubvogel“-Allüren. Sein Vortragsstil wurde professioneller und gesetzter. Musikalisch interessierte Ferré nicht nur die Texte-Vertonung. Er komponierte hinfort ganze Orchesterstücke, die er bei Aufführungen dirigierte. Auch liebte er den Jazz und kooperierte in späteren Jahren mit Rock- und Folkbands wie etwa The Moody Blues. Er war anerkannt und konnte nun die Dinge variieren und mit ihnen spielen. Obwohl in seinen Orchesterstücken eher konventionell ausgerichtet, setzte sich Ferré auch gerne über Musikkonventionen hinweg und praktizierte das anarchische „anything goes“. Wie es ihm gefiel. Er pflegte gute Bekanntschaften und Freundschaften zu Künstler*innen wie Serge Gainsbourg oder Juliette Greco, die seine Lieder sangen. Er begegnete und traf sich Größen der Künstlerszene, so mit Godard, Gabin, Hallyday, Aznavour oder Aragon. Ferré habe sich musikalisch „mit seinen überlastigen Arrangements im trivial-kitschigen Bereich“ bewegt, schreibt Siegfried P. Rupprecht im Ferré-Porträt seines Chanson-Lexikons (S. 123/124). Andere Kritiker warfen Ferré gelegentlich musikalisch zusammengeschusterten Eklektizismus vor, was ihn wenig störte. Besonders mit Brassens teilte er die inspirierende Nähe zum Anarchismus und er bewunderte überschwänglich den Komponisten Erik Satie.

Ferré, die Anarchie und die Politik

Ferré war ein Libertärer und „Individualanarchist“, hatte Stirner und Bakunin gelesen. Er verachtete bürgerliche Konventionen, besang die Welt der Reichen in schmähenden Strophen, ächtete Militär und Krieg, lehnte Gott und Religion ab („Ni Dieu – ni maître“), machte auch vor Selbstkritik der Poeten nicht halt und knüpfte musikalisch an große Minne-Vorbilder wie etwa Rutebeuf an, einen französischen Gaukler-Sänger des 13. Jahrhunderts, ähnlich Francois Villon. Ferré hegte große Sympathien für die Anarchisten, jedoch nicht so sehr deren Lehre oder Bewegung, hielt sich auch selbst stets von politischer Betätigung fern. Aktivismus war nicht sein Terrain. Er gab jedoch immer wieder Benefizkonzerte für die französische Anarchistische Föderation oder aus sonstigen aktuellen politischen Anlässen. Er pflegte rege Kontakte zur anarchistischen Szene, in die ihn früh seine Frau Madeleine einführte. Sie verfasste auch „Les mémoires d’un magnétophone“, eine Art Tagebuch des Zusammenlebens auf Schloss Perdrigal mit intimen Bekenntnissen Ferrés. Es wurde nur in einigen hundert Exemplaren erstellt und nie verteilt. Der Ferré-Biograf Belleret findet, es wäre angebracht, es neu zu veröffentlichen. Ferré war Gönner und Förderer der Anarchist*innen, seine Solidarität war geschwisterlich und treu. Über Frankreich hinaus wurde Ferré, anders als Brel und Brassens, nicht sonderlich bekannt, er unternahm auch kaum einmal längere Auslandstourneen. Vermerkt sind Auftritte in Westdeutschland (Bremen, Hamburg, Göttingen) vermutlich im April/Mai 1984 vor kleinerer Kulisse und auch mal Tourneen nach Kanada und sogar Japan. Seine Kenntnisse der politischen Lehre und Philosophie des Anarchismus beschränkten sich im Wesentlichen auf den spanischen Anarchismus, dem er sich wohl wesensverwandt fühlte.

Nur wenige schriftliche Zeugnisse geben über Ferrés politisches Verständnis Auskunft. Vor allem bezog er sich darauf, kein „Kollektivist“ zu sein. Das Gleichförmige, was ihm daran kennzeichnend zu sein schien, missfiel ihm. Ferrés Verständnis des Anarchismus war ein eher künstlerisches, von absoluter Freiheitsliebe motiviertes. Er war, so könnte man vielleicht sagen, so was wie ein „emotionaler“ Anarchist. Insgesamt existieren drei Textbücher von ihm. Im dritten Buch „La Mauvaise Graine“ (Das saubere Früchtchen) mit Beiträgen von 1945 bis 1993, posthum 1995 veröffentlicht, ist der längere Text „L’anarchie est la formulation politique du désespoir“ (Die Anarchie ist die politische Formulierung der Hoffnungslosigkeit) enthalten, in dem Ferré einige Definitions- und Beschreibungsversuche seines anarchistischen Verständnisses unternimmt. Im Liedtext „Les Anarchistes“ (Die Anarchisten) heißt es:

Auf 100 kommt nicht einmal einer, / aber es gibt sie. / Die meisten sind Spanier / kein Mensch weiß warum / vielleicht nur deshalb / weil man sie in Spanien nicht versteht, / die Anarchisten. / Alles steckten sie ein / Schläge und Pflastersteine. / Sie schrien so laut, / dass sie immer noch schreien können. / Sie gehen mit dem Herzen voran, / auch wenn der Traum Halbzeit hat. / Ihre Seele ist angefressen / von verrückten Ideen … Auf 100 kommt nicht einmal einer, / aber es gibt sie. / Und wenn ein Tritt in den Arsch / den Anfang macht, / darf man eines nicht vergessen: / Sie gehen auf die Straße, / die Anarchisten. / Zu ihnen gehört eine schwarze Fahne, / auf Halbmast, um die Hoffnung trauernd und Melancholie / mit der sie durchs Leben ziehen … Und, dass sie sich so gut halten / fröhlich und mit untergehakten Armen / dann liegt es einfach daran, / dass sie aufrecht gehen DIE ANARCHISTEN“ (zit. nach Verlagsalmanach Karin Kramer, Berlin, 1978-1980, S. 22/23).

Ferrés Lieder sind politisch. So schreibt Michaela Weiss in ihrer Studie zu Ferré über „L’été 68“ und „Paris, je ne t’aime plus“: [Sie] „sind enthusiastische Sympathiekundgebungen an die 68er-Bewegung. Ferré äußert in ‚Paris, je ne t’aime plus‘ sein Missfallen an der politischen Mehrheit der Franzosen. Er kritisiert deren Unmündigkeit, Unterwürfigkeit und Passivität. Die Ereignisse von 1968 sieht er dagegen als Zeichen politischen Bewusstseins und Befreiungsversuch an (M. Weiss: „Das authentische Dreiminutenkunstwerk…“, S. 150). Das hymnische Lied „Salut, Beatnik!“ (1967) sprach das „Individuum als Träger der Massenbewegung“ (M. Weiss, S. 151) an, „den noch nicht korrumpierten jugendlichen ‚Beatnik‘ , den er – als die Basis der Opposition gegenüber den staatlichen Institutionen und der realen politischen Praxis – verherrlicht“ (ebenda). Als Ferré, der Gewalt stets ablehnte und verurteilte, während des Algerienkriegs (1954-1962) von Folterungen und Menschenrechtsverletzungen erfuhr, erhob er wiederum seine Stimme und prangerte diese in seinem Lied „Les temps difficiles“ (1961; 1965) an.

Eine folgenschwere Tragödie

Im April 1968 lebte Ferré wegen Eheproblemen schon nicht mehr ständig in seinem mittelalterlichen Schloss, in das er viel Renovierungsaufwand gesteckt hatte. Er war gerade unterwegs auf Gesangs-Tour. Zuhause auf dem Schloss spielte sich derweil eine furchtbare Tragödie ab. Schon länger kriselte es in Ferrés Ehe mit Madeleine heftig, die zeitweilig an Depressionen litt. Beide hatten sie 1961 das Schimpansen-Baby Pépée quasi adoptiert. Madeleine fühlte sich durch Léos viele Abwesenheiten vernachlässigt und hinter seine Zuneigung für seine Tiere zurückgesetzt. Sie stellte Léo hasserfüllte Ultimaten und verlangte von ihm, dass er zu ihr zurückkäme. Als am 7. April 1968 seine Lieblingsschimpansin beim Herumtollen auf den Bäumen zu Boden stürzte und sich schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzte, eskalierten die Dinge. Madeleine ließ einen örtlichen Jäger kommen und das Tier töten, mit dem Affen auch gleich noch einige andere Tiere. War es zugleich ein persönlicher Racheakt? Als Ferré zurückkam, bot sich ihm ein Bild des Grauens, Blutlachen und getötete Tiere, darunter auch die 1965 aufgenommene junge Schimpansin Zaza und ein Schwein. Pépée offenbar aus Eifersucht der Frau umgebracht. Es war ein tiefer Schock für ihn. Besonders die Affen und Hunde genossen Familienhaus- und Schutzrecht, sie lebten im Haus mit. Léo tat vielleicht des Guten etwas zu viel mit seiner abgöttischen Affenliebe. Die kleine Äffin Pépée wurde von ihm sogar im Kinderwagen spazieren gefahren. Es gab eine furchtbare Auseinandersetzung, was letztlich zur endgültigen Trennung des Paares und Scheidung 1973 führte. Léo verzieh Madelaine die Taten nie. Etwa zwei Wochen nach dem schlimmen Vorfall schrieb er in einem Hotelzimmer nachts zum Gedenken ein Trauerlied für Pépée, das er am Tag darauf öffentlich vortrug, als er seine Konzerttour unterbrach. Obwohl bei weiteren Tourneen 1968 und 1969 immer wieder noch vorgetragen, fand das tragische Poem keine Aufnahme in Ferrés Tondokumente-Sammlung. Erhalten sind nur Live-Mitschnitte. Im Lied heißt es einer Trauerode gleich: „Du hattest Hände wie Tennisschläger / Pépée / Und wenn ich dir die Fußnägel schnitt / sah ich Blumen in deinen Kinnhaaren / Du hattest Ohren wie Gainsbourg (ein frz. Chansonsänger, Schauspieler und Komponist von „Je t’aime…“, Anm. d. Verf.) / Aber du brauchtest keinen Scotch / Um sie über Nacht wieder anzulegen / … / Pépée / … / Du hattest Augen wie Dachluken / Pépée / Wie wenn man durch sie bis zum Hafen von Antwerpen blicken konnte / … / Du hattest das Herz eines Trommlers / Pépée / … / Ich hätte gerne die Hände des Todes / Pépée / Und dann die Augen und dann das Herz / Ich möchte mich gerne zu dir legen / … / Man schläft immer mit den Toten / Man schläft immer mit den Toten / … / Pépée“ (zit. nach Léo Ferré: La mauvaise graine; eigene Übers. d. Verf.). Auch die lange Freundschaft zu Catherine Sauvage ging in die Brüche, die sich in dem heftigen Ehekonflikt auf die Seite von Ferrés Frau stellte.

Die Zeit danach

Das Leben musste irgendwie weitergehen. Ferré stürzte sich in Kompositions- und Konzertaktivitäten. Auch familiär ergaben sich neue Bande zu einer neuen Frau namens Marie-Christine Diaz mit spanischer Herkunft. Das Paar heiratete 1974 und bekam drei Kinder, ein Junge (1970) und zwei Mädchen (1974 und 1978). Die Ferrés waren zu Beginn der 1970er Jahre mit dem kleinen Matthieu umgezogen nach Italien in die Toskana, wieder auf ein alleinstehendes Gehöft, ein eher schmuckloses Steingebäude bei Castellina-in-Chianti, 30 Kilometer nördlich von Siena, umgeben von Olivenbäumen, Weinbergen und Wald. Ferré liebte das Land, die bäuerliche Kultur und die Natur und Tiere waren auch wieder mit von der Partie, wenn auch in bescheidenerer Anzahl und ohne Exoten. Es war ein spätes, ungetrübtes Familienglück mit einem bodenständigen Typ Frau, anders als die intellektuelle Madelaine. Genauer reflektiert hat er seine persönliche Lebenskrise offenbar nicht weiter in seinen Liedern. Er verarbeitete den Schock „familiär“, könnte man fast sagen.

Mit André Breton, dem Dichter des Surrealismus, verband Ferré eine persönliche Freundschaft, er vertonte einzelne seiner Gedichte. Ferré komponierte die Partituren zu Texten u. a. von Rimbaud, Apollinaire, Villon, de Ronsard, Verlaine und Baudelaire. Ferré war in den 1970er/80er Jahren weiterhin produktiv, in Studios, auf der Bühne, mit Tourneen, neuen Kompositionen oder auch für Videoaufnahmen. 1970 erschien das Doppelalbum „Amour, anarchie“ 1975 dirigierte er 140 Musiker*innen und Chorist*innen im „Palais des Congrès“ mit einem Ravel-Beethoven-Programm. Ab 1976 war er sein eigener, unabhängiger Produzent, nachdem er sich mit der langjährigen Produktionsfirma Barclay früher schon überworfen und von ihr getrennt hatte. 1980 widmete er ein Auftritts-Spektakel den Poeten, das „Testament phonographe“ erschien als zweite Sammlung 143 eigener Lied- und Prosatexte. 1984 folgten Auftritte im „Théatre des Champs-Èlysées“ mit Videoaufnahmen für France 3. 1986 Auftritt mit ersten Récitals im „Théatre Dézajet“. 1987 mit 71 Jahren dann die schon anstrengende Japan-Tournee. Die Stimme wurde dünner und brüchiger. Erst jetzt wurde es etwas ruhiger um ihn, Ferré schaltete ein paar Gänge zurück, er war jetzt Platten- und Entertainer-Millionär. Die Kinder waren teils schon halb erwachsen. 1993 starb Ferré am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag im Krankenhaus. Er, der das Nationale und Patriotische stets ablehnte und verachtete, gab dem Tag der Franzosen seine eigene Antiehrung.

Werk-Rezeption

Hier ist nicht der Ort, Ferrés Ton-Dichtungen einer genaueren kritischen Betrachtung und Kommentierung zu unterziehen. Dies unternahm vergleichend bereits Michaela Weiss 2003 in ihrer profunden musikwissenschaftlichen und texttheoretischen Untersuchung: „Das authentische Dreiminutenkunstwerk“, auf das ausdrücklich verwiesen sei. Bei näherem Interesse an Person und Werk gilt es noch immer auf französische Originalliteratur zurückzugreifen und natürlich die Musikaufnahmen, die noch zahlreich teils in Neuauflagen erhältlich sind, darunter eine 5er-CD-Ausgabe mit vielen Titeln oder alte Live-LPs von einem Auftritt im „L’Alhambra“, mit Liedern zu Rutebeuf und Apollinaire, neu auf CD eingespielt. Claude Fléouter verfasste eine kompakte Biografie „LÉO“ (1996) mit Fotoinnenteil und synoptischer Zeittafel. Gründlich geht Robert Belleret zu Werke mit gleich zwei Standard-Werken: Der umfangreichen Biografie „Léo Ferré – Une vie d’artiste. Biographie“ (Actes Sud, 2007) mit vollständiger Discographie und dem informativen, reich bebilderten und illustrierten „Dictionnaire Ferré“ (Actes Sud, 1996 et 2003) mit allem Wissenswerten zu Leben und Werk Ferrés im Lexikon-Stil. Leider wurde bisher keines der genannten französischen Werke ins Deutsche übertragen, was sicher mit Ferrés geringerer Bekanntheit hierzulande und auch dem stark gebrochenen Verhältnis der Deutschen zur Gattung Chanson zu tun hat.

Die grundsätzliche Kritik Ferrés an Massenkultur

Ferré sah und sorgte sich um eine allgemeine Entwicklung der Niveauabsenkung und medialen Gleichschaltung der Lied- und Gesangskultur besonders durch das Fernsehen. Die Chanson-Tempel des engagierten Liedes sind verschwunden, politisches Lied gilt mehr denn je als garstig Lied, vom Chanson völlig separiert. Die Schere zwischen politischem Lied und Chanson geht indessen weiter auseinander. Theoretiker der Frankfurter Schule, wie Horkheimer und Adorno, letzterer zugleich Musiksoziologe, analysierten bereits in den 1940er Jahren in der „Dialektik der Aufklärung“ die Implikationen und fatalen Auswirkungen der Kulturindustrie im Massenzeitalter. Nicht wenige werden sich fragen, was ein solcher Essay über jemand wie Léo Ferré noch soll? Die Menschen folgen der totalkommerzialisierten Musicalisierung des Musik- und Gesangsbetriebs, die nicht mal Gotthilf Fischer noch aufhalten kann, der noch meinte, jeder und jede könne singen. Wir brauchen keine Bayreuther, Salzburger oder Bregenzer Opern-Festspiele als öffentliche Inszenierungen des Bombastischen für galaverwöhnte Prominenz. Sondern eine Renaissance des engagierten Chansons und politischen Liedes, das uns im Bewusstsein der Gesellschaftlichkeit des Menschen elementar etwas über den Menschen und seine sittlichen, ästhetischen und politischen Akte und Motive zu sagen hat. Singen ist wie Sprechen Erzählung, ein wichtiger Kommunikationsakt auf Dialog angelegt, nicht auf Konsum nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters. Ferré setzte durch seinen anarchischen Nonkonformismus, Individualismus und sein künstlerisches Beispiel einen frühen Kontrapunkt zu all der heutigen profanen Massenliedkultur. 2016 sendete ARTE zum 100. Geburtstag eine neue Filmdokumentation über Ferré, in der er auch selbst zu Wort kommt.

Elmar Klink

 

Literatur/Quellen (deutschspr.):

Französische Chansons: Von Béranger bis Barbara (Frz./Deutsch). Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Dietmar Rieger. Stuttgart 1987 - Hermes Handlexikon: Die großen Chansonniers und Liedermacher. Wichtige Interpreten, bedeutende Dichtersänger. Von Matthias Henke. Düsseldorf 1987 – Siegfried P. Rupprecht: Chanson-Lexikon. Zwischen Kunst, Revolution und Show. Die Lieder und Interpreten der tausend Gefühle. Berlin 1999 - Felix Schmidt: Das Chanson. Herkunft, Entwicklung, Interpretation. Frankfurt/M. 1982 - Institut Francais Bremen (Hg.): Liederheft (zweispr.) zu drei Ferré-Auftritten in Bremen (Schauburg-Kino), Göttingen (Stadthalle), Hamburg (Fabrik). Bremen (vermutl. 1984) - Michaela Weiss: Das authentische Dreiminutenkunstwerk. Léo Ferré und Jacques Brel – Chanson zwischen Poesie und Engagement“ Heidelberg 2003;

(frz.spr.):

Léo Ferré par Charles Estienne. Choix de textes, Discographie, portraits. Poètes d’aujord’hui 93. Paris 1962 - Léo Ferré: La Mauvaise Graine. Textes, poèmes et chansons. Prévace et notes de Robert Horvile, Université de Lille III. Libraire Générale Francaise 1995.