Der (Alb)Traum ist aus?

Chile ist aufgewacht und sagt dem Neoliberalismus den Kampf an

| Anna Fünfgeld

Beitragderalbtraum
Streetart iin Santiago de Chile, November 2019, "Angesichts der Ausbeutung ist Selbstorganisation diie Lösung" - Foto: Anna Fünfgeld

Chile despertó!“ Chile ist aufgewacht und es besteht die Hoffnung, dass der neoliberale Traum, der für die Mehrheit der Chilen*innen noch nie ein solcher war, sein baldiges Ende finden könnte.

Auslöser der landesweit größten Proteste in der Geschichte Chiles seit 1973 war eine wiederholte Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise. Während man vor fünf Jahren noch etwa 500 Pesos für eine durchschnittliche Fahrt bezahlt hat, wurde der Preis nun von 800 auf 830 Pesos angehoben und sollte bis Ende des Jahres nochmal um nahezu 200 Pesos erhöht werden. Die Reaktion darauf war zunächst eine Reihe von dezentralen, größtenteils von Schülerinnen von mehreren Mädchenschulen und Studierenden organisierten Protestaktionen bei denen über einige Wochen wiederholt in kollektiven Aktionen die U-Bahnen gestürmt und Absperrungen übersprungen und geöffnet wurden.

Am 18. Oktober hat sich daraus eine Großdemonstration ergeben, bei der nicht nur der Unmut über die Fahrpreiserhöhungen sondern über das politökonomische System Chiles insgesamt zum Ausdruck gebracht wurde (1). Seit Antritt der aktuellen Regierung des rechts-konservativen Präsidenten Sebastián Piñera vor eineinhalb Jahren wurden nicht nur die Preise des öffentlichen Nahverkehrs angehoben, sondern auch die Stromversorgung teurer, sowie die Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitssektor gekürzt. Die Folge dieser Politik ist eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheit in dem Land, das zwar als OECD-Mitglied als einer der reichsten Staaten der Region gilt, gleichzeitig aber schon lange enorme Disparitäten in der Verteilung von Einkommen und Vermögen aufweist. Während Mindestlohn und Renten in den letzten Jahren kaum angehoben wurden und die hohen Gebühren im privaten Gesundheits- und Bildungssystem weiterbestehen, wurden die Steuern für Großunternehmen auf ein Minimum reduziert, die Abgeordnetendiäten sind vergleichsweise hoch und es bestehen zahlreiche Korruptionsvorwürfe gegenüber Regierungsangehörigen. Weiterhin hat der chilenische Senat kurz vor Ausbruch der Proteste das transpazifische Freihandelsabkommen TPP-11 verabschiedet, was Anlass zur Sorge über weitere Privatisierungen und den Abbau von ohnehin minimalen staatlichen Sozialleistungen gibt.

Verständlich wird das enorme Ausmaß der Proteste daher erst mit Blick auf die chilenische Sozialstruktur sowie das politökonomische System des Landes. Unter der Pinochet-Diktatur wurde Chile maßgeblich durch die Berufung einer großen Anzahl an in den USA ausgebildeten Ökonomen, (den sogenannten Chicago Boys) in Ministerialämter zu einem neoliberalen Experimentierfeld. Die Sozialsysteme, grundlegende Versorgungsinfrastrukturen sowie ein Großteil der natürlichen Ressourcen sind seither in Chile privatisiert. Die Preiserhöhung vom Oktober 2019 um umgerechnet 0,037 Euro war daher nur eine weitere Etappe hin zur Prekarisierung weiter Teile der chilenischen Bevölkerung wie der Slogan „no son 30 pesos, son 30 años“ (deutsch: „es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“) verdeutlicht. In den 30 Jahren, die seit dem Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet vergangen sind, wurden zwar demokratische Institutionen und eine Reihe an Freiheitsrechten implementiert, an der neoliberalen Leitdoktrin des Landes hat sich jedoch nichts geändert.

Noch immer kontrolliert eine relativ kleine Anzahl an Familienclans (u.a. Matte, Angelini Rossi, Mackay, Bendeck und Luchsinger) zentrale Geschäftszweige und verfügt über weitreichenden politischen Einfluss. Die Zusammenhänge zwischen dem Fortbestehen dieser oligarchischen Herrschaftsstruktur und dem aktuellen Geschehen zeigen sich auch in der Person Sebastián Piñeras. Piñera, der der Partei Renovación Nacional (deutsch: Nationale Erneuerung) angehört, hat bereits während seiner ersten, von 2010 bis 2014 andauernden, Präsidentschaft den radikal-neoliberalen Kurs des Landes verteidigt, als er die im Rahmen der Bildungsproteste von 2011/12 geforderten Reformen des noch aus der Militärdiktatur stammenden Bildungssystems verweigerte und stattdessen ein repressives Vorgehen gegen teils noch minderjährige Schüler*innen und Studierende anordnete. Der Bruder des Präsidenten, José Piñera, ist einer der Chicago Boys, die in den 80er-Jahren einen Ministerposten im Kabinett von Pinochet innehatten. Als Arbeitsminister hat er damals das Rentensystem vollständig auf das Kapitalumlageverfahren umgestellt. Und die Abschaffung genau dieses Rentensystems (Administradoras de Fondos de Pensiones, AFP), das mit einer Durchschnittsrente von etwa 110.000 Pesos (ca. 128 Euro) für weite Teile der Bevölkerung die Altersarmut bedeutet, ist eine der zentralen Forderungen der Demonstrierenden.

Wie die Renten, sind auch die Einkommen einer großen Anzahl der Chilen*innen so niedrig, dass für viele Menschen die Lebensmittel in den Supermärkten sowie andere Alltagsgüter, deren Preisniveau oft nahezu identisch mit jenem in Deutschland ist, nicht erschwinglich sind. Sie sind auf alternative Märkte angewiesen. Ähnlich verhält es sich mit den Mieten in Großstädten wie Santiago. Die lebendige Hausbesetzer*innen-Szene in der Stadt ist damit nicht nur Ausdruck einer politisierten und gut organisierten Subkultur, sondern auch unmittelbare materielle Notwendigkeit – für Chilen*innen wie auch Immigrant*innen.

Die Plünderungen von großen Supermarktketten und Einkaufszentren, zu denen es im Zuge der Proteste immer wieder kommt, sind, anders als in vielen Medienberichten dargestellt, keineswegs Ausdruck eines blinden Vandalismus oder kriminellen Spaßprotests, sondern ebenfalls als politischer Akt und materielle Notwendigkeit einzuordnen. Das spiegelt sich unter anderem darin wider, dass es bei den Plünderungen keineswegs ausschließlich um Luxusgüter ging, sondern genauso auch um Grundnahrungsmittel. Auf Grundlage von in sozialen Medien kursierenden Videos wird zudem angenommen, dass ein Teil der Plünderungen von Polizei und Militär organisiert wurde, um eine weitere Eskalation der Proteste herbeizuführen.

In das Kabinett seiner zweiten Amtszeit hat Präsident Piñera mehrere Politiker*innen der rechten, Pinochet-treuen Partei Unión Demócrata Independiente (deutsch: Unabhängige Demokratische Union) berufen. Dazu zählte bis vor kurzem auch Andrés Chadwick, Cousin des Präsidenten und ehemaliger Präsident der Jugendorganisation der Pinochet-Diktatur (Frente Juvenil de Unidad Nacional). Chadwick stand damals nachweislich über den Chefideologen der Militärdiktatur, Jaime Guzman, auch in Kontakt mit der deutschen Kolonie Colonia Dignidad, in der Gegner*innen des Regimes gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden. Als Innenminister hat er das repressive Vorgehen von Militär und Polizei gegen die Demonstrierenden mitorchestriert bis er wie mehrere andere Minister*innen aufgrund der anhaltenden Proteste das Kabinett Ende Oktober verlassen musste.

Angesichts der ideologischen Nähe großer Teile des Kabinetts zur Militärdiktatur ist es wenig verwunderlich, dass die Regierung bereits am ersten Protesttag ein umfassendes Arsenal an gewaltsamer Repression demonstriert hat. Es wurde ein zunächst fünfzehntägiger Ausnahmezustand ausgerufen, welcher die Einschränkungen fundamentaler Rechte ermöglichte. Zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur wurde das Militär mit Panzern auf die Straße geschickt um Demonstrationen niederzuschlagen.

Protestas en Santiago de Chile, 2019. Proteste in Santiago de Chile, Oktober 2019 – Foto: Felipe y Jairo Castilla [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)]

Militär und Spezialeinheiten der Polizei machten dabei nicht nur Gebrauch von Wasserwerfern und Unmengen von Tränengas, sondern ebenso von mit Schrotkugeln versetzten Flinten. Etwa eine Woche lang wurde zudem eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, der sich die Mehrheit der Chilen*innen jedoch nicht gebeugt hat. „No tenemos miedo“ (deutsch: „Wir haben keine Angst“) war eine der zentralen Losungen der ersten Demonstrationstage. Damit haben sich die Menschen gegenseitig ermutigt, sich von dem gewaltsamen Vorgehen von Militär und Polizei nicht einschüchtern zu lassen.

Tagsüber wie nachts waren in allen Ecken der Stadt die Rhythmen der Cacerolazos zu hören, eine traditionelle Protestform in Chile, bei der ein eingängiger Rhythmus auf Töpfen und anderem Küchengeschirr geschlagen wird. Seit mehr als einem Monat (Stand 21.11.2019) werden täglich Demonstrationen, Cacerolazos, Barrikaden, Straßenblockaden und andere Protestaktionen abgehalten – nicht nur in Santiago, sondern auch in vielen anderen Städten und in ländlichen Regionen Chiles.

Trauriges Resultat der ersten drei Protestwochen sind mindestens 23 Tote und zahlreiche Verletzte. Mindestens fünf der Toten wurden nachweislich von staatlichen Sicherheitskräften getötet und zwei Menschen sind während der Haft umgekommen. Die anderen Fälle sind nicht abschließend geklärt und es wird vermutet, dass weitere Menschen durch Schusswaffeneinsatz von Militär und Polizei getötet wurden und die Zahl der Todesfälle noch weitaus höher sein könnte. In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Vermisstenmeldungen. Weiterhin gibt es Berichte über sexualisierte Gewalt und systematische Folterungen durch Militär und Polizei. Das Chilenische Institut für Menschenrechte (Instituto Nacional de Derechos Humanos, INDH) gibt an, dass zwischen 17. Oktober und 21. November 462 Anzeigen gegen staatliche Sicherheitskräfte eingegangen sind. 13 Anzeigen wurden wegen Tötungsdelikten bzw. versuchter Tötung erstattet, 341 Anzeigen beziehen sich auf Folterungen und 74 Fälle sexualisierter Gewalt durch Polizei und Militär wurden angezeigt.

Laut dem INDH wurden zwischen dem 17. Oktober und 21. November 2019 über 6362 Menschen inhaftiert und mehr als 2500 verletzt. Es wurden über 1500 Schussverletzungen in den Krankenhäusern registriert, die meisten davon gehen auf den Einsatz von Schrotkugeln zurück. Offiziell ist es den Polizeikräften nur gestattet, Schusswaffen im Beinbereich einzusetzen. Dass trotzdem zahlreiche Menschen Schussverletzungen am Kopf und am oberen Teil des Körpers aufweisen, lässt darauf schließen, dass hier ein systematischer Rechtsbruch vorliegt. Trauriges Resultat dieses brutalen Vorgehens ist, dass bereits mindestens 223 Menschen durch Schrotkugelschüsse ihr Augenlicht ganz oder teilweise verloren haben. Es wurde nun eine Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen nach Chile gesandt, um die Vorfälle zu untersuchen.

Kurz vor dem Eintreffen der Beobachtungsmission wurden sowohl der Ausnahmezustand als auch die Ausgangssperre aufgehoben. Die Regierung hat zudem ein Maßnahmenpaket bestehend aus einer Reihe von sozialpolitischen Reformen angekündigt und veranlasst, dass die letzte U-Bahn-Preiserhöhung rückgängig gemacht wurde. Was die Protestierenden fordern sind allerdings nicht ein paar kosmetische Reformen, sondern grundlegende sozio-ökonomische und politische Veränderungen. Daher ist ein Abflauen der Proteste nicht in Sicht; allein am 2. November demonstrierten über eine Million Menschen auf den Straßen Santiagos. In relativ kurzer Zeit haben die Proteste ein enormes Ausmaß angenommen und es hat sich eine breite und plurale Bewegung herausgebildet, die in der grundlegenden Forderung nach einer gerechteren Gesellschaft vereint und entschlossen ist, diese Forderung weiterhin auf die Straßen zu tragen und sich nicht von dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte abhalten zu lassen.

Anarchistischer und feministischer Einfluss

Obschon die Proteste von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragen werden, die verschiedene politische Strömungen vereint, zeigt sich in der sich neu herausbildenden zivilen Organisationsstruktur sowie in den Praktiken des Protests der große Einfluss anarchistischer und feministischer Gruppen. Insbesondere seit der in den 1990ern aufkommenden Solidaritätskampagne mit den Gefangenen linker, bewaffneter Gruppen, die gegen die Militärdiktatur gekämpft haben (u.a. MIR, FPMR, Movimiento Juvenil Lautaro) ist der Anarchismus zu einer vergleichsweise breiten gesellschaftlichen Bewegung in Chile geworden. Mittlerweile wurde in Santiago ein Netz antiautoritärer Basisstrukturen (cabildos autonomos) entwickelt, bei dem sich die Menschen in Räten zusammentun, um Alternativen für verschiedene Politikbereiche zu entwickeln. Es bestehen Räte zu Bildungs-, Renten- und Gesundheitsfragen, feministische Versammlungen und Vernetzungstreffen zur gegenseitigen Unterstützung in Notsituationen. Die Versuche etablierter politischer Parteien sich diese Basisstrukturen anzueignen werden von einer großen Mehrheit der Menschen abgelehnt.

Die Erkenntnis des Scheiterns des Repräsentationssystems in Chile und der Inaktivität der linken Parteien hat dazu geführt, dass weite Teile der Protestierenden es ablehnen einer Organisation oder Partei die Aufgabe der Repräsentation ihrer Interessen zu übertragen. Was gefordert und praktiziert wird sind hingegen antiautoritäre und plurale Basisstrukturen, mit denen selbstorganisierte Solidarstrukturen aufgebaut werden. Es finden regelmäßige Workshops, Versammlungen, Informationsveranstaltungen und Nachbarschaftstreffen statt, die horizontal und mit wechselnden Sprecher*innen organisiert sind. Weiterhin bilden explizit feministische Interventionen wie Märsche, Barrikaden und Performances einen wichtigen Bestandteil der Proteste.

Die Straßenkämpfe und Barrikaden, die hauptsächlich von den anarchistischen Gruppen getragen werden, werden von der Mehrheit der Protestierenden als wesentliches, ermöglichendes Element des Protests betrachtet. Erst hierdurch wurde ein Weiterführen der Proteste entgegen der Ausgangssperren und gewaltsamen, staatlichen Repressionen (die sich gleichermaßen auch gegen friedlichen Protest richten) möglich.

In einem Land, das auf zivile Proteste für bessere Lebensbedingungen unmittelbar mit systematischer Gewalt und Menschenrechtsverletzungen antwortet, in dem Militärs auf den Straßen patrouillieren und Polizei und Militär Menschen erschießen und foltern, kurz, in dem der staatliche Gewaltapparat nach wie vor in der Tradition der Militärdiktatur handelt, ist das Fortbestehen der Proteste und die Sicherheit der Demonstrierenden jeden Alters ohne Straßenkampf und Barrikaden für viele kaum denkbar. Trotz des extrem gewaltsamen Vorgehens der Staatsmacht sind jeden Tag tausende Menschen auf den Straßen und bei den Treffen der Basisorganisatio­nen anwesend. Die Men­schen fordern nicht weniger als eine Absetzung des Präsidenten, eine neue, gerechtere Sozialpolitik, das Ende der neoliberalen Doktrin und eine verfassungsgebende Versamm­lung, die die alte Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur ersetzen soll.

Letztere wurde am 15. November durch ein Abkommen des Kongresses zumindest formell auf den Weg gebracht. Dass dieses Abkommen unter der Beteiligung verschiedener politischer Parteien zustande kommen konnte wird zu großen Teilen auf die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmertums zurückgeführt, das angesichts eines kurzfristigen Werteverfalls des Pesos und nach unten korrigierter Wachstumsraten den Druck auf die rechten Parteien erhöht hat, die Situation zu befrieden. Nicht nur deswegen stehen sowohl die Oppositionsparteien wie auch die Mehrheit der Protestierenden dem Abkommen skeptisch gegenüber. Das Abkommen sieht auch die Möglichkeit eines Verfassungskonvents vor, der zu großen Teilen aus Parlamentsangehörigen bestehen würde. Gleichzeitig wurden mit dem enormen Netzwerk an Basisorganisationen und Solidarstrukturen, das sich in nur einem Monat herausgebildet hat, politische Alternativen jenseits des Repräsentationssystems geschaffen, die sich nicht mehr so einfach wegdenken lassen. Was in den Straßen Santiagos derzeit zu spüren ist, ist eine kollektive Entschlossen­heit diesen Moment in die chi­lenische Geschichte eingehen zu lassen.

Der Geist der Revolution ist allgegenwärtig. Und sie ist tanzbar.

Anna Fünfgeld, Santiago de Chile

Anna Fünfgeld ist Politikwissenschaftlerin und freie Mitarbeiterin von Radio Dreyeckland.

 

Anmerkung:

1) Siehe dazu: Das politische Erdbeben in Chile. Furcht und Hoffnung in einer neoliberalen Gesellschaft, Artikel von Stephan Ruderer, in: GWR 443, November 2019, S. 1,9

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

Mehr zum Thema