Die Graswurzelrevolution Nr. 441 vom September und die GWR 442 vom Oktober 2019 enthielten Beiträge zum Thema Klima, die angesichts des drohenden Klimaumbruchs und der ungenügenden Aktivität der Regierenden zu Systemwandel und (Graswurzel-)Revolution aufriefen. Etwa zehn Jahre bleiben uns laut den Schätzungen von Wissenschaftler_innen (1) für Gegenmaßnahmen, um gravierende irreversible Schäden zu vermeiden. Nicht viel Zeit, um uns darüber zu freuen, dass „wir“ schon „immer Recht“ hatten, dass der Klimawandel kapitalismusgemacht sei. Umgekehrt kann Zeitdruck für autoritäre Kräfte eine Möglichkeit sein, Entscheidungen, die Eliten oder Nationen bevorteilen, schnell durchzupeitschen.
Welche Alternativen präsentieren wir, wenn wohlhabende Prepper private Schutzbunker für die kommenden Ressourcenkriege bauen, Wissenschaftler_innen an der Wetterbeeinflussung (Geoengineering) für Industrieländer arbeiten und rechte Parteien die Wirtschaft der eigenen Länder stärken wollen – ignorierend, dass Kolonialismus, Kapitalismus und jetzt auch noch Klimawandel, tendenziell die Länder am stärksten trifft, die am wenigsten dazu beigetragen haben? Welche Art von Systemwandel wollen wir? Welche dezentralen Utopien kann die radikale Linke den aktuellen globalen Herausforderungen entgegensetzen?
Nicht nur weil der Klimawandel mit einer gewissen Dringlichkeit den Systemwandel wieder mehr ins Gespräch bringt, ist die Frage „äh, was für ein System eigentlich?“ interessant. Uns stehen heute – jedenfalls solange wir Strom- und Internetinfrastruktur am Laufen halten können und wollen – viele ortsunabhängige Vernetzungs-, Organisierungs-, Diskussions-, Visualisierungs- und Datenverarbeitungswerkzeuge zur Verfügung. Anarchistische Konzepte können eine inklusive, nachhaltige, anpassungsfähige und resiliente Alternative sowohl zu Kapitalismus als auch zu rechten Ideologien sein. Daher möchte dieser Text zur Diskussion über anarchistische Utopien anregen. Diese Diskussionen können unsere eigenen Vorstellungen konkretisieren, unsere Ideen transportieren und gleichzeitig anarchistische Diskussions- und Entscheidungsprozesse erleben lassen. Als eine mögliche Form der Auseinandersetzung habe ich an drei Stellen im Text Links zum Diskussionswerkzeug Kialo eingefügt.
Fallen der Utopiendiskussion
Bei der Dogmatismusfalle erscheint die Utopie als fixe und einzig wahre Anleitung und nicht als sich flexibel an gegenwärtige Erkenntnisse anpassende und sich über die Zeit verändernde Zielvorstellung, die Motivation und Orientierung für die nächsten Schritte liefern kann. Um der Elfenbeinturmfalle zu entgehen, sind leicht zugängliche und solidarisch geführte Utopiediskussionen wichtig, die zur Reflexion der politischen Aktivitäten anregen, keine Angst vor konkreten Aussagen oder erstmal unvereinbar nebeneinander stehenden Meinungen haben, und attraktive Alternativen ins Gespräch bringen. Der Versuch Teile von Utopien schon in der Gegenwart umzusetzen, hilft neue Erkenntnisse zu gewinnen und trägt zum Aufbau alternativer (Infra-)Strukturen bei. Jedoch sollten wir uns von Schwierigkeiten bei der Umsetzung im bestehenden System mit all seinen Widersprüchen nicht entmutigen lassen.
Unter der Annahme, dass die meisten kein präindustrielles Leben bevorzugen, ist vielleicht die größte Herausforderung die Frage, wie ein komplexe Anforderungen erfüllender Gesellschaftsentwurf gleichzeitig plausibel von seiner Realisierbarkeit überzeugen kann. So entstand als ironische Überspitzung der Lücke zwischen utopischen Entwürfen und gefühlt unklarer Realisierbarkeit 2015 das Internet Meme „Fully automated luxury gay space communism“. Um diese Plausibilitätslücke zu schließen, ist es meines Erachtens wichtig, sich über konkrete, realisierbare Gesellschaftsentwürfe auszutauschen. Zudem kann das Hoffen auf die spontane Organisation in einer Umbruchsituation zu krassen Versorgungsengpässen und dies zu kriegerischen Auseinandersetzungen und autoritären Machtergreifungen führen.
Kritik und Grundsätze als Basis der Utopie
Sutterlütti/Meretz (2) empfehlen über Utopien zu diskutieren, indem mensch zunächst die Kritik am bestehenden System darlegt, dann eine Utopie nicht bis ins Ausgestaltungsdetail, aber zumindest in ihren Kategorien oder Grundsätzen beschreibt, und sich schließlich mit der Frage der Transformation auseinandersetzt.
Anarchistische Kritik wendet sich gegen Herrschaft und daher auch gegen Ausbeutung und Ausgrenzung. Freiheit, Solidarität, Dezentralität, Nachhaltigkeit und Gewaltfreiheit sind für viele Kategorien anarchistischer Utopien. Die Wichtigkeit dieser Grundsätze wird zusätzlich mit der Forderung nach der Anwesenheit des Ziels in den Mitteln für die heutige Praxis und den Weg der Transformation betont. Doch was genau bedeuten Begriffe wie Freiheit und Solidarität in unterschiedlichen Ansätzen des linken Spektrums? Beispielsweise über Freiheit lässt sich ausführlich diskutieren: So schreibt Ulrich Klemm (3), dass Freiheit keine vertraglich garantierte Angelegenheit sein kann, während Oskar Lubin (4) Vorteile gewisser Formen von Institutionen für emanzipative Strömungen benennt. Können wir trotz unterschiedlicher Utopie-Entwürfe diese solidarisch diskutieren und kritisieren und auf diese Weise weiterentwickeln? Vielleicht stellen sich zunächst kategorisch unterschiedliche Ideen als in der Praxis sehr ähnlich dar oder es finden sich Utopie-Entwürfe in denen diverse Ansätze nebeneinander gelebt werden können.
Vielfältige dezentrale Gesellschaften
Im Commonismus-Entwurf von Sutterlütti/Meretz (2) ist ein wichtiger Grundsatz die Freiwilligkeit bei der Erledigung von Tätigkeiten mit dem Vertrauen, dass wichtige Aufgaben von irgendwem erledigt werden. Die Entscheidung, was produziert wird und wer das bekommt, inklusive der Möglichkeit der Kooperationsverweigerung, liegt bei den Produktionskollektiven. Mir ist noch nicht klar, wie Gefahren der Willkür und der Machtausübung von denen, die in wichtigen Produktionsstätten (z. B. Strom und Wasser) tätig sind, vermieden werden können. Zudem scheint viel Last auf dem Individuum zu liegen, das durch geschicktes Diskutieren mit Produktionskollektiven für die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse sorgen muss. Mir fehlt dabei die Freiheit von der Angst der Nichterfüllung wichtiger Bedürfnisse, die durch gemeinsame, dezentrale und freiwillige Vereinbarungen deutlich reduziert werden könnte. Freiwillige Vereinbarungen könnten auch vermeiden, dass Sorgearbeit nur an einigen hängen bleibt.
In emanzipatorischen Gesellschaftsentwürfen gibt es viele Ideen zwischen den Polen der kompletten Freiwilligkeit und interpersonellen Aushandlung einerseits und selbstorganisierten dezentralen „Institutionen“ andererseits. Freiwillige Vereinbarungen, die im Konsens getroffen wurden, haben eine hohe Akzeptanz und Umsetzungswahrscheinlichkeit. Nichteinhaltungen von Vereinbarungen können problematisiert werden und Verteilungskonflikte mit Unterstützung von Kollektiven zur Konfliktbearbeitung z. B. im Sinne der Transformativen Hilfe (5) bearbeitet werden. Unbeliebte Tätigkeiten können attraktiver gestaltet werden, mit beliebteren kombiniert werden („Ausgeglichene Arbeitsfelder“ in Parecon (6)) oder nach einer gemeinsamen Vereinbarung rotiert werden. In neueren Publikationen (7) erwähnen Sutterlütti/Meretz auch Formen dezentraler Planung mit Vorschlagscharakter.
Bolo‘bolo (8) beschreibt, wie in einer dezentralen Gesellschaft mehrere dieser Ansätze nebeneinander existieren könnten: So könnte es ein bolo oder eine Region geben, in der es keine gemeinsamen Vereinbarungen, sondern nur Aushandlungen zwischen Konsument_innen und Produzent_innen gibt, ein anderes in dem Grundbedürfnisse im Konsens definiert, deren Erfüllung durch ein auf Konsens beruhendes Tätigkeitsverteilungssystem sichergestellt, und nicht-Einhaltung von Vereinbarungen thematisiert wird, und wiederum ein anderes, in dem ein Rat von Weisen über Verteilung von Tätigkeiten und Gütern entscheidet (https://www.kialo.com/31672).
Diese Ansätze könnten nicht nur regional nebeneinander existieren, was regionale Migration erfordern würde, sondern sogar in der gleichen Region parallel gelebt werden. Konkret könnte das so aussehen, dass sich jeder Mensch für einen Ansatz entscheidet, nach diesem Ansatz Versammlungen zur Entscheidungsfindung besucht, tätig ist und Zugang zu Gütern hat und gleichzeitig mit Menschen zusammen lebt, die einen anderen Ansatz bevorzugen.
Die Idee von der lokalen Ansatzvielfalt, vermeidet Probleme der Isolation und Indoktrinierung, erlaubt das Ausprobieren und Weiterentwickeln verschiedener Konzepte von Herrschaftsfreiheit und könnte beim Scheitern einer Idee trotzdem Versorgungskrisen ganzer Regionen vermeiden. Sollte dies zu als unfair wahrgenommen Ungleichgewichten zwischen den Ansätzen führen, wie dem überdurchschnittlich hohen Anteil von sorgebedürftigen Menschen im Ansatz mit relativ hoher Versorgungssicherheit oder dem überdurchschnittlichen Verbrauch einer knappen Ressource, so wären minimale Vereinbarungen zwischen den Ansätzen notwendig.
Globale Herausforderungen
Doch während auf lokaler Ebene eine Co-Existenz vielfältiger Lebensentwürfe, wie beispielsweise weitgehender Subsistenzwirtschaft einerseits und nachhaltiger Hightech-Produktion andererseits, oder der Verteilung von knappen Gütern nach abgeleisteten Arbeitsstunden einerseits und nach Bedarf anderseits, vorstellbar sind, sind auf überregionaler und globaler Ebene manchmal nicht mehrere Möglichkeiten parallel lebbar: Eine Region kann ein Kohlekraftwerk nur betreiben oder nicht betreiben und die von Wissenschaftler_innen empfohlene Reduktion der Treibhausgase zur Vermeidung des Klimawandels kann nur ernst genommen werden. Wie können diese Art von Entscheidungen in einer polyzentralen und polyparadigmatischen Welt gefällt werden?
In bolo‘bolo gibt es mehrere Ebenen von lokalen, regionalen, kontinentalen und globalen Gremien. In der planetaren Versammlung, dem asa’dala, kommen Delegierte aus den kontinentalen Gremien zusammen und besprechen Fragen wie die Verteilung von fossilem Treibstoff, Forschung und interkontinentaler Transport. In „Glimpses Into the Year 2100“ (9) geht es genau um den Fall einer Revolution in Zeiten des Klimaumbruchs. Es gibt ein weltweites Informations- und Diskussionssystem und weltweite Wahlen zu bestimmten Entscheidungen. In der Welt-Versammlung von Delegierten werden Fragen wie Ein-Kind-Politik, Bann auf private Autos und Bann der Fütterung von Tieren für die Fleischproduktion besprochen. Diese Art von Entscheidungen auf planetarer Ebene erscheint mir zu einschränkend. Wenn das Ziel die Reduktion der Treibhausgase ist, könnte jede Gemeinschaft und Region lokal entscheiden, auf welche Weise sie die Reduktion umsetzt.
Minimalanforderungen an eine globale Föderation dezentraler Gemeinschaften
Zunächst scheint eine Vereinbarung über die Akzeptanz der Co-Existenz unterschiedlicher Ansätze sinnvoll. Dann sollte es eine grobe Verständigung darüber geben, welche Fragen den ganzen Planeten betreffen und deshalb auf planetarer Ebene transparent dargestellt und entschieden werden sollten. Um die dezentrale Selbstverwaltung zu stärken, sollte der Umfang global relevanter Themen möglichst gering gehalten werden. Sinnvoll sind darüber hinaus meiner Meinung nach Vereinbarungen zum Format des Austauschs über Bedarf, Ressourcen und Erfahrungen. Zur Lösung planetarer Fragen könnte sich die Föderation der Gemeinschaften und Regionen auf unterschiedliche Methoden einigen oder diese je nach Entscheidungsfrage variieren. Möglich ist auch eine Kombination aus Methoden, wobei jede zum gleichen Ergebnis kommen sollte: Eine Befragung eines Expert_innenkomitees, eine online Diskussion mit anschließender Abstimmung und – wie bei bolo‘bolo die Entscheidung der Delegierten (https://www.kialo.com/31673). Globale Föderation mit imperativem Mandat, kann, wenn sie wie bei bolo‘bolo über viele Regionalitätsebenen geht, zu zeitaufwändigen Entscheidungen führen. Dieser Nachteil könnte Dank Vernetzung über Internet behoben werden, indem Kommunikation beschleunigt und möglicherweise um einige Regionalitätsebenen verschlankt wird.
Transformation
Die Frage danach, wie eine Transformation in eine herrschaftsfreie Gesellschaft aussehen kann, ist davon abhängig, welche Art von Gesellschaft angestrebt wird. Gleichzeitig sind Gedanken zur Transformation wichtig, um die tatsächliche Realisierbarkeit anschaulich zu machen. Um den Rahmen dieses Artikels nicht zu sprengen, möchte ich nur einige Transformationsideen andeuten: Da Kriegs- und Überwachungstechnologie dystopische Level erreicht haben und auch wegen der oben beschriebenen Komplexität der Versorgung, kann ich mir eine spontane Revolution schwer vorstellen. Intuitiver erscheinen mir Prozesse des Aufbaus von Projekten und Netzwerken, die schon Teile der Utopie umsetzen, sich ausbreiten und schließlich die bestehende Gesellschaft in die angestrebte Gesellschaft übergehen lassen. Vorstellbar ist auch eine Art globaler Abstimmung, bei der sich eine überwältigende Mehrheit für den Übergang in eine andere Gesellschaftsform entscheidet, wie sie in „Utopia ist machbar“ (10) angedacht ist. Eine spannende Frage ist dabei auch, wie vermittelbar ist, dass einige nach der Transformation in nachhaltige Gesellschaften mehr mit der Knappheit von Ressourcen konfrontiert sein werden, als in ihrem jetzigen Lebensstil (https://www.kialo.com/31674).
Aufruf zum Austausch über Utopien
Wichtig ist meiner Meinung nach, dass möglichst viele Leute sich über Utopien inklusive lokaler Organisation, der Co-Existenz verschiedener Gesellschaftsmodelle, globaler Entscheidungsfindung und Realisierbarkeit austauschen. Je mehr Leute die Ideen herrschaftsfreier Gesellschaftsformen unterstützen, desto besser sind die Chancen der erfolgreichen Transformation, denn wenn schon beim Diskutieren über mögliche Utopien klar wird, wie z. B. die Strom- und Wasserversorgung geregelt werden könnte und wenn sogar schon ein paar Leute bekannt sind, die sagen „wir kennen uns aus, wir können das machen“, dann reduziert dies Ängste und Hemmschwellen. Der Austausch über Utopien kann je nach Vorlieben unterschiedlichste Formen annehmen: Von Internetdiskussionen und Gesprächen am Stammtisch, über frei zugängliche Artikel oder Bücher, wissenschaftliche Untersuchungen zur Realisierbarkeit und Computersimulationen (siehe auch (8)), über Versuche der Umsetzung in Wohnprojekten, Kollektiven und Netzwerken, bis hin zu Planspielen in der lokalen Politgruppe oder im Freund_innenkreis.
Planspiele
Planspiele können z. B. so aussehen, dass zwei Leute die Spielkoordination übernehmen und zunächst eine Ausgangssituation schildern. Dann bilden sich je nach Situation Gruppen (z. B. Lebensmittel-Produzent_innenräte, Verteilungskoordinator_innen und Leute, die sich für Kinderbegleitung zuständig fühlen, …), die untereinander und miteinander die nächsten Schritte besprechen und angehen. Die Spielkoordination kann nach z. B. 30 Minuten weitere Inputs zur sich verändernden Situation geben (z. B. es sind drei Wochen vergangen, durch ausbleibenden Regen drohen Ernteausfälle). Dabei können nicht nur „Schönwetterutopien“ sondern auch Worstcase-Szenarien wie Machtübernahmen von Rechts, Ressourcenkriege oder Ökodesaster gespielt werden. Wichtig ist dabei Zeit für eine emotionale Nachbetrachtung einzuplanen und ein Stopp-Zeichen zu vereinbaren, sodass Leute, denen das Spiel emotional zu krass wird, rechtzeitig unterbrechen können. Toll an Planspielen ist, dass je nach Alter und Interessen der Spielgruppe, die zu spielende Situation angepasst werden und trotz des Ernsts der Lage konstruktiver Spaß aufkommen kann.
Katharina Tidesh
Anmerkungen:
1) https://www.un.org/press/en/2019/ga12131.doc.htm
2) Sutterlütti/Meretz, Kapitalismus aufheben, 2018
3) https://www.graswurzel.net/gwr/2005/07/freiheit-und-anarchie/
4) www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/gras1904.html
5) http://transformation.blogsport.de
6) Albert, Leben nach dem Kapitalismus, 2006
7) https://keimform.de/2019/gesellschaft-nach-dem-geld-den-commonismus-simulieren/
8) P.M., bolo‘bolo, 1983
9) Shalif, Glimpses Into the Year 2100 — 50 years after the revoution, 2007
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.