„Concert for Anarchy“ heißt ein 1990 von der Aktionskünstlerin Rebecca Horn geschaffenes Kunstwerk, zu sehen in der Tate Gallery of Modern Art in London. „Hoch unter der Lichtkuppel schwebt ein Konzertflügel, an den Beinen von der Decke baumelnd. In regelmäßigen Intervallen klappt er mit Gedröhn seinen Deckel auf und streckt lustvoll-aggressiv lange, wippende Tast-Zungen heraus. Mit respektloser Geste werden bei diesem ‚Concert for Anarchy‘ Ordnung und Werte auf den Kopf gestellt“, ist auf kunstforum.de zu lesen. In Anspielung auf dieses anarchische Piano heißt die Musikrubrik in der GWR seit einem viertel Jahrhundert „Concert for Anarchy“. In dieser GWR bieten wir Euch auf Seite 13 ff. anstelle nur eines „Concert“-Beitrags, einen kleinen Themenschwerpunkt „Widerständige Musik und Anarchie“. Den Auftakt macht Gerhard Hanloser mit folgendem Diskussionsbeitrag. (GWR-Red.)
Musik und Musikgeschmack sind etwas Persönliches. Wenn wir Anarchistisches nicht so sehr in strikter Form als Ideologie, Bewegung oder Theorie verstehen, sondern als freiheitlichen Geist und Element befreiend-kollektiven Zusammentretens gegen Herrschaft und Unterdrückung, dann können wir kaum etwas Allgemeines und Verbindlich-Gültiges über eine derartige Musik aussagen. Ein bislang unübertroffener Versuch, dies dennoch zu leisten, stellt meines Erachtens das Buch „Der Kampf um die Träume. Musik, Gesellschaft und Veränderung“ von Wolfgang Sterneck aus dem Jahre 1995 dar. Doch für jemand, der sich nicht professionell mit Musik auseinandersetzt, löst sich die Frage nach dem Zusammenhang von Befreiung und Musik ins Biographische auf.
Für meinen Vater, Jahrgang 1930, verkörperte beispielsweise der Jazz der 1940er und 50er Jahre in all seinen Varianten etwas Befreiendes, sprengte es doch sowohl den Nazikitsch wie den Wirtschaftswunderkleister, der damals musikalisch beherrschend war. Bei mir, Jahrgang 1972, war es der Hardcore-Punk der späten 80er, der von Bands wie „Fugazi“, „Bad Brains“, aber auch „Verbal Assault“ verkörpert wurde. Konzerte europäischer Hardcore-Bands wie „Life…but how to live it“ aus Norwegen, von der Anarchopunk-Band „Kina“ aus Italien, der Briten von „HDQ“ standen in einem klaren Zusammenhang zu den Autonomen Jugendzentren oder auch den besetzen oder legalisierten Häusern. Politische Haltung und subkulturelle Verortung stehen in einem Wechselverhältnis, das nachhaltig prägt. Politisiert war diese Hardcore-Szene im Sinn eines autonomen Antiimperialismus, der eher anarchistisch geprägt war als marxistisch-leninistisch. Davon zeugen nicht zuletzt die beiden musikalisch wie inhaltlich interessanten Sampler, die gleichzeitig Benefit-Sampler waren: Viva Umkhonto! (1987) vom Konkurrel Records Label aus den Niederlande und ein Jahr später die Soli-Platte „Intifada. The Palestinian Uprising“.
Auf beiden vertreten war auch die äußerst ambitionierte niederländische Band „The Ex“. Diese 1979 gegründete Band hatte bereits 1981 eine Benefiz-Single Weapons For El Salvador eingespielt, die den bewaffneten Widerstand in El Salvador unterstützen sollte. 1983 führte „The Ex“ eine Solidaritäts-Tour für den britischen Bergarbeiterstreik durch. Ihren Anarchismus zeigt die Doppel-Single „1936 – the spanish revolution“ von 1986, die neben vier Stücken aus und über den spanischen Bürgerkrieg ein umfangreiches zweisprachiges Booklet enthält, das über den anarchistischen Widerstand der anarchosyndikalistischen Confederación Nacional del Trabajo (CNT) berichtet.
Wo „Viva Umkhonto!“ zur Unterstützung des Kampfes der südafrikanischen Bewegung rund um den ANC gegen die Apartheid aufrief, sollte der „Intifada“-Sampler von 1988 Ausdruck der Unterstützung des Palästinensischen Aufstands sein. Eine beigelegte Broschüre informierte in antikolonial ausgerichteten Texten über den Hintergrund des Konflikts. Diese Veröffentlichung war nicht die einzige deutliche Positionierung an der Seite der palästinensischen aufständischen Jugendlichen mit ihrer „Revolte der Steine“. So lieferte die schottischen Anarcho-Punk-Band „Political Asylum“ aus Stirling, die von 1982 bis 1993 aktiv war, einen Text mit deutlichem Inhalt in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt:
„This desert rose has deadly thorns
The blossoming nation built upon conquest and creed
Four million Palestinians scattered in its wake
An encamped nation of refugees just learning how to hate
Down amongst the olive groves there is no promised land
Zion bends to the wargod’s will and blood still stains the sand
Attack’s the best form of defense
So the strong would have us believe when they make war on the weak
The Star of David pierced the heart of Lebanon
Innocents lost in the battlefield have no place to run
Who fuels the flames of Israel
The true bastions of democracy“
Das lange Zeit führende bundesrepublikanische Hardcore/ Punk-Fanzine „Trust“ aus Süddeutschland brachte in diesem Geist der radikalen Palästina-Unterstützung im Januar 1989 auf dem Rückcover ein Plakat, auf dem ein Pressefoto zu sehen war, auf dem ein israelischer Soldat eine Gruppe junger palästinensischer Frauen mit dem Gewehrkolben traktiert, darüber steht „Palästina 88“, darunter: „Alltag heute, und morgen?“
Das mag sich dem Verständnis eines heutigen, mit den antideutschen Bands „Egotronic“, „Antilopen Gang“ oder „UltraViolentKitten“ aufgewachsener junger Antideutscher, der sich als subversiv imaginiert, vollständig entziehen. Ja, er wird es nur als Ausdruck eines verdammenswürdigen „Antisemitismus“ markieren können, haben sich alle diese antideutschen Bands doch einer die Realität Israels und der besetzen Gebiete vollständig ausklammernden „Israel-Solidarität“ verschrieben. Von Mitgliedern dieser Bands kommen schließlich Statements, die mit Bekundungen zum Nahostkonflikt wie folgender aufwartet: „Erschreckender ist eigentlich, dass zur Zeit Springers Die Welt das einzige Medium ist, das sich nicht der antisemitisch gefärbten Berichterstattung anschließt. Schlimm, dass ich das mal sagen muss.“ (Interview mit Torsun von Egotronic im Ox-Fanzine / Ausgabe #120, Juni/Juli 2015) Etwas davor im Interview bekundete der Musiker auf die Frage, ob er in einer Art Punk-Bürgerlichkeit angekommen sei: „Ja, irgendwie schon, ich bin glücklich. Auch weil ich alles andere bis zum Abwinken gemacht und gehabt habe. Mein Traum, von der Musik zu leben, ist wahr geworden. Ich fühle mich angekommen.“ Vor dem Hintergrund meiner politischen, musikalischen und subkulturellen Erfahrungen empfinde ich allerdings diese Auslassungen als vollkommen geschichtslos, naiv-angepasst und ihrerseits erfahrungsarm; also als ideologisch.
Weitere befremdliche Reaktionen in Hinblick auf die Frage des befreienden und politisch sprengenden Potentials von Musik begegneten mir auf dem Workshop „Musik und Anarchistisches“ auf dem Hamburger Kongress „Anarchistische Perspektiven auf Wissenschaft“. (Vgl.: Ralf Landmessers Bericht in der Graswurzelrevolution Nr. 444 vom Dezember 2019) Neben einer lebhaften und kontroversen Diskussion, nahmen wir uns als Textlektüre das kurze, programmatische Manifest der „Ton Steine Scherben“ vor, das am 24. Dezember 1970 in der Berliner Untergrundzeitung Agit 883 veröffentlicht wurde und den Titel trägt: „Musik ist eine Waffe“. Der Text sei in voller Länge dokumentiert, weil er einen Geist der Subversion in sich trägt, der heute eine nahezu vollständig versunkene Welt zu sein scheint:
„Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst! Wenn du mit deinen Texten etwas sagst und eine Situation nennst, die zwar alle kennen, die aber jeder vereinzelt in sich hineingefressen hat, dann werden alle hören, daß sie nicht die einzigen sind, die damit noch nicht fertig geworden sind und du kannst ihnen eine Möglichkeit zu Veränderung zeigen.
Musik kann also zur Waffe werden, wenn du mit ihr die Ursachen deiner Aggressionen erkennst. Wir wollen, daß du deine Wut nicht verinnerlichst, daß du dir darüber klar wirst, woher deine Unzufriedenheit und deine Verzweiflung kommen. Wir wollen die Feinde des Volkes nennen: ‚Macht kaputt was euch kaputt macht – zerstört das System, das euch zerstört!‘ Unsere Musik soll ein Gefühl der Stärke vermitteln. Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, ‚Kriminelle‘, Leute in und aus Heimen. Von ihrer Situation handeln unsere Songs.
Lieder sind zum Mitsingen da. Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute singen können. Unsere Lieder sind einfach, damit viele sie mitsingen können. Wir brauchen keine Ästhetik; unsere Ästhetik ist die politische Effektivität. Unser Publikum ist der Maßstab und nicht irgendwelche ausgeflippten Dichter. Von unserem Publikum haben wir gelernt Lieder zu machen, nur von ihnen können wir in Zukunft lernen, Lieder für das Volk zu schreiben.
Wir sind in keiner Partei und in keiner Fraktion. Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient. Egal, von welcher Gruppe sie geplant ist. Wir werden in Berlin und Westdeutschland vor und in Betrieben und in den Jugendheimen der Arbeiterviertel spielen. Dazu zeigen wir Dias, die eine Ergänzung zur Musik und zum Text bilden. Das Ziel ist es, unsere Aktionen den jeweiligen Situationen in den Betrieben oder Stadtteilen anzupassen. Dazu brauchen wir die Unterstützung der dort arbeitenden Gruppen.“
Ein jüngerer anarchistischer Genosse äußerte recht spontan: „Das könnte ja auch von ‚Landser‘ (Neonazi-Band aus Berlin, die sich 2003 auflöste) kommen… Dieser Volksbegriff!“ Große Einigkeit bestand auch darin, den Waffen-Begriff als militaristisch abzulehnen.
Die Reaktion ist interessant, weil sich in ihr so einiges verdichtet und widerspiegelt, was in zeitgenössischen Debatten auch im anarchistischen Milieu immer wieder aufscheint: Liberalismus, Geschichtslosigkeit und Dekontextualisierung. „Ton Steine Scherben“ den vorherrschenden Moden des Anti-Extremismus oder den Querfrontkonstruktionen folgend vor eine rechte Kulisse zu schieben, kann nur gelingen, wenn man die linke Militanz und aufklärerische Kampfbereitschaft, die sich auch in der „Waffen“-Metapher ausdrückt, nicht im Kontext der damaligen Zeit sieht, sondern lediglich zu skandalisieren trachtet. Eine Waffe ist jedoch nicht nur ein Gegenstand, bestimmt und geeignet, Lebewesen physisch in ihrer Handlungsfähigkeit zu beeinträchtigen, handlungsunfähig zu machen oder gar zu töten. Waffen sind auch Mittel, die Gegenstände oder immaterielle Güter beschädigen, zerstören oder gebrauchsunfähig machen können. Und nicht nur die Vorstellung von „Kritik als Waffe“ zeigt, dass der Begriff der Waffe immer eine übertragene Bedeutung hatte. So ist die Aussage von Friedrich Wolf „Kunst ist Waffe“ überliefert und niemand geringeres als Pablo Picasso erklärte: „Nein, Malerei ist nicht dazu da, um Appartements zu schmücken. Sie ist eine Waffe zu Angriff und Verteidigung gegen den Feind.“
Der Volksbegriff in dem vorliegenden Fall wird durch „Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, ‚Kriminelle‘, Leute in und aus Heimen“ näher spezifiziert – und erinnert nicht nur an die Randgruppenstrategie von Herbert Marcuse und die der frühen RAF, sondern zeigt auch, dass im Volksbegriff der „Ton Steine Scherben“ alle jene einen konstitutiven Platz haben, die bei den Nazis und den postfaschistischen WohlstandsbürgerInnen der BRD als „Asoziale“ markiert wurden. Die „Ton Steine Scherben“ machten Volksmusik in diesem Sinne und in einem Sinne wie es auch der Liedermacher Daniel Viglietti in Uruguay verstand: das Volk als pueblo, als die Armen, die Leute von unten – eine Kategorie, die sich manchem akademischen Linken heute entziehen mag. Und sie machten eine Art Volksmusik wie es der anarchistisch geprägte Sänger aus dem süddeutsch/französisch/schweizerischen Dreiländereck, Walter Mossmann, betrieb, wenn er in Wyhl auf den besetzten Plätzen mit seiner Gitarre aufspielte. Dieser wollte im regional situierten Kampf eine solidarische Neuzusammensetzung kämpfender Individuen jenseits der Nationalstaaten sehen und propagierte dies. Außerdem ging es Mossmann darum, die Energie des Konservativ-Bäuerlichen herrschaftskritisch aufzuheben und das Reaktionäre aufzusprengen, wie es in der Bewegung gegen das AKW in Wyhl auch der Fall war. Schließlich war die Bewegung keinesfalls rein bäuerlich, so nahm unter anderem „eine Lehrerfamilie, die von Jean-Jacques und Inge Rettig aus Schirmeck im Elsass“ eine wichtige Rolle ein. „An denen ist das Jahr 1968 und der Pariser Mai nicht spurlos vorbeigegangen. Außerdem spielten von Anfang an auch kritische Wissenschaftler und Dissidenten aus der Industrie eine Rolle“, so Mossmann in einem rückblickenden Interview aus dem Jahre 2005 (1).
Anspruch auf Veränderung bedeutet: Mehrheiten gewinnen, will mensch nicht Putschist*in sein. Nichts anderes besagt auch dieser linke Volksbegriff. Muss deshalb anarchistische Musik mehrheitsfähig sein? Noch lange nicht. So wie Avantgarde-Gruppen, wie die Lettristen oder die Situationistische Internationale, immer eine Berechtigung und Bedeutung hatten und haben, gilt dies auch für Musik wie jene eines John Cage. Aber jede musikalische Komposition als populistisch zu verdammen, die klassische Hörgewohnheiten bedient, gar zum Mitsingen animiert, ist kontraproduktiv und elitär. Tatsächlich macht es mehr Sinn, subversive Musik mit Anspruch auf Popularität auf die Gefahr der Verkitschung zu befragen. Kitsch ist gegenaufklärerisch. Er ist vorgetäuschte Empfindung, gehorcht mechanischen und festen Formen, er lässt ein Hinterfragen so wenig zu wie er Ausdruck tatsächlich vorhandener Gefühle ist. Mir scheinen die Stücke der „Ton Steine Scherben“ frei zu sein von Kitsch und Schwulst, also überladener Sprache und einem hohlen Pathos, auch weil Witz und Ironie in fast jedem Stück anwesend sind. So sind selbst die großen epischen „Rührstücke“ wie das 20minütige „Steig ein“ von der „Wenn die Nacht am tiefsten“-LP kein Schmalz, obwohl hier in pathetischer Sprache eine Utopie besungen wird und Flöten zum Einsatz kommen, aber das Stück endet im repetitiven „Wir wollen keine Ketten“ und der Überlagerung verschiedener linksradikaler Parolen in einer Art meditativem Sampling. Ich würde mich zu der These hinreißen lassen, dass keines der „Ton Steine Scherben“-Stücke mit den großen Themen wie Revolution, Hoffnung, Utopie, Exodus, Heimat und Liebe im klassischen Sinne schmalzig sind und dennoch, besser: gerade deshalb berühren. Und sie sind zeitlos. Auf einer hipsterkommunistischen Geburtstagsparty in Berlin Anfang Dezember, legte der DJ nachts um 3 einen technoiden Remix von „Mensch Meier“ auf. Es war das einzige Mal an diesem Abend, dass sich ein gemeinsames freudiges Aufmerken auf der Tanzfläche bemerkbar machte und das Stück wurde regelrecht zelebriert.
Die Gründung der Ton Steine Scherben, eine der wenigen anarchistischen Bands, die für mehrere Generationen Linksradikaler und Subversiver von Bedeutung war und ist, hat 2020 ihr 50. Jubiläum. Vielleicht ein guter Anlass, dem Geist der Subversion nachzuspüren. Damit der damalig in Text und Lied gefasste Anspruch der Scherben, ein Gefühl der Stärke im Klassenkampf zu vermitteln, angesichts der heutigen Zustände nicht nur in linker Melancholie mündet, die allerdings auch eine verborgene Kraft darzustellen vermag.
Gerhard Hanloser
Gerhard Hanloser ist Sozialwissenschaftler, Historiker und Germanist. Im Oktober 2019 ist im Unrast Verlag sein neues Buch „Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs“ erschienen. Eine Rezension dazu erscheint voraussichtlich im März 2020 in den Libertären Buchseiten (GWR 447).
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.