wir sind nicht alleine

„Die Junta endete nicht 1974“

Massenproteste gegen die repressive Politik der rechten Regierung in Griechenland

| Ralf Dreis

Beitragjunta
Polizeigewalt auf einer Polytechnikumsdemo am 17.11.2019 in Athen - Foto: Efimerida ton Syntakton

Am 20. November 2019 stellte der griechische „Bürgerschutzminister“ Michális Chrysochoídis allen Hausbesetzer*innen ein Ultimatum von 15 Tagen zum Verlassen ihrer Häuser und Zentren. Nach Ablauf des Ultimatums am 6. Dezember, dem Jahrestag der Ermordung des 15jährigen Aléxandros Grigorópoulos durch Polizeibeamte 2008, sollen alle Besetzungen gewaltsam geräumt werden.

Mit Demonstrationen, Kundgebungen, Flugblättern, Plakaten und Transparenten, mit Angriffen auf Banken, Parteibüros von Néa Dimokratía (ND), Polizeiwachen, Rathäuser und staatliche Fuhrparks, mit offenen Briefen, Zeitungsartikeln und Konzerten, reagiert die Bewegung von Alexandroúpolis im Nordosten des Landes bis Chaniá und Iráklion auf Kreta. Die anarchistische Organisation Rouvíkonas, die gemeinsam mit anderen Gruppen das soziale Zentrum K*Box in Exárchia betreibt, sprach von einer Kriegserklärung der Regierung. In Keratsíni, einem Stadtteil von Piräus wurde das Büro der rechten Regierungspartei ND zugemauert. In kleineren Städten wie Mytilíni, Ioánnina und Véria wurden am 5. Dezember leerstehende Häuser besetzt. Genoss*innen aus Athen gaben bekannt bei fünfzehn Häusern in sechs Stadtteilen die Schlösser ausgetauscht zu haben. Sollte es zu Räumungen kommen würden diese Häuser besetzt.

Wenige Tage zuvor hatten sich am 17. November, dem 46. Jahrestag der Niederschlagung des sogenannten Studentenaufstandes 1973, die größten Gedenkdemonstrationen seit Jahren gebildet. Trotz eines Klimas umfassender Repression und polizeilicher Besatzung der Athener Innenstadt beteiligten sich den Luftaufnahmen und Schätzungen zu Folge mehr als 50.000 Menschen an der Demo zum Polytechnikums-Aufstand. Allein der anarchistische Block bestand aus gut 15.000 Menschen.

Die griechischen Massenmedien schwiegen sich sowohl über die Zahlen als auch über die Hintergründe der massenhaften Beteiligung weitgehend aus. Lobend berichtet wurde fast ausschließlich über das harte Vorgehen der Polizei und über die Krawalle in Exárchia. Dass diese Krawalle in diesem Jahr ausschließlich von den über 5000 eingesetzten vollvermummten OPKE, Dias, Drasi und MAT-Sondereinsatzbullen ausgingen fand keine Erwähnung. Nach der riesigen Demonstration waren Hundertschaften koordiniert über Exárchia hergefallen und hatten willkürlich Menschen erniedrigt, zusammengeschlagen, mit Tritten malträtiert und verhaftet. Anwohner*innen wehrten sich gegen diesen Überfall mit Steinen und Molotowcocktails, was in den regierungsnahen Massenmedien umgekehrt wurde. Als die 34 Festgenommenen am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt wurden, schlugen MAT-Einheiten am Gericht auf Eltern, Mitschüler*innen und solidarische Unterstützer*innen ein.

Recht und Ordnung“

Der Anlass für die massive Teilnahme an der Polytechnikumsdemo ist in der bisherigen Bilanz der seit 19. Juli 2019 regierenden neoliberal-rechten Néa Demokratía zu finden, die in rasantem Tempo ihre reaktionäre und arbeitnehmerfeindliche Agenda vorantreibt. Den Taktstock respektive Polizeiknüppel dazu schwingt der ehemalige Sozialdemokrat Chrysochoídis, der sich als „Bürgerschutzminister“ dem Dogma von Recht und Ordnung und der Niederschlagung jeglichen gesellschaftlichen Protestes verschrieben hat. Als Anhänger des autoritären Staates bekannt und im Job erfahren – schon 2009/2010 und 2012 hatte er für die Pasok das Amt inne – bekämpft er jede Regung von Widerstand.

So soll das anarchistisch geprägte Innenstadtviertel Exárchia von „Müll und Dreck gesäubert“ werden, so die offizielle Ansage des stellvertretenden Vorsitzenden der Berufsvereinigung der Polizei (POASY) Stávros Baláskas, am 27. August 2019 nach der Räumung vier besetzter Häuser (GWR Nr.442). Gemeint sind Migrant*innen, Anarchist*innen und alle, die nicht ins rechtskonservative Weltbild passen. Seitdem kommt es zu regelmäßigen Polizeirazzien, willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Erniedrigungen, sexistischen und homophoben Beleidigungen und Tränengasattacken im Viertel. Chrysochoídis´ vermummte Bürgerkriegsarmee schlägt straffrei Passant*innen zusammen, zieht Festgenommene gewaltsam unter dem Ruf „in Exárchia herrscht die Junta, kapier es endlich“ auf offener Straße nackt aus, greift soziale Zentren an und belagert stundenlang voll besetzte Cafés. Nur die von Bewohner*innen bekämpfte Drogenmafia bleibt von den Polizeitruppen unbehelligt. Seit August wurden in Athen vier anarchistische Besetzungen und sechs Besetzungen von Geflüchteten unter massivem Polizeiaufgebot geräumt und bis unters Dach zugemauert. Mehr als 2000 dort lebende Geflüchtete wurden in menschenunwürdige Lager im ganzen Land verteilt. Einige der Bewohner*innen waren nach Monaten oder Jahren der Flucht dabei, sich in Athen zu etablieren, die Kinder besuchten Schulen, einige Eltern hatten Jobs. Es wurde versucht kritische Berichterstattung über die Räumungen zu unterbinden, ein Journalist wurde während der Arbeit vor Ort verhaftet und saß kurzzeitig in Untersuchungshaft. Die Kritik von Lehrer*innen, die ihre in Lager deportierten Schüler*innen suchen, wird von Regierungsseite ignoriert.

Gescheiterte Resozialisierung oder „der Polizeiknüppel als Notwendigkeit“

Eine Woche vor der Polytechnikumsdemo hatte die Polizei die Kellerräume der Wirtschaftsuniversität ASOEE gestürmt. Es wurden nicht die erhofften Waffen, sondern nur fünf Motorradhelme und drei halbleere Wodkaflaschen in den durchsuchten Räumen linker und anarchistischer Unigruppen gefunden. Τrotzdem verkündete die Unileitung einen einwöchigen „lockout“ und ließ die Eingänge der Uni von der Polizei zuketten. Die Begründung lautete, Militante bereiteten dort ihre Aktionen zur Polytechnikumsdemo vor und hinderten brave Student*innen am Studium. Noch am selben Tag protestierten hunderte Student*innen gegen den lockout, öffneten die Eingänge und mobilisierten zur Vollversammlung. Riot-Cops stürmten die Fakultät, schlugen Student*innen zusammen, deckten das Unigelände mit Tränengas ein und verhafteten willkürlich mehrere Studenten. Für die ND-Regierung schien der Zeitpunkt passend, um die in den Semesterferien beschlossene Abschaffung des Hochschulasyls, das der Polizei bisher das Betreten der Universitäten verboten hatte, endlich praktisch erfahrbar zu machen. Die Studierenden ließen sich jedoch nicht einschüchtern.

Zwei vermummte Polizisten mit Helmen, schusssicheren Westen und Waffen
Vermummte Polizei auf der Polytechnikums-Demo am 17.11.2019 in Athen. Bildquelle: Efimerida ton Syntakto

Dutzende Fakultäten wurden noch am Abend aus Protest bis zur Polytechnikumsdemo besetzt. Mehrere große Demos gegen die Abschaffung des Hochschulasyls in der Zwischenzeit endeten in Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der rechtsextreme Landwirtschaftsminister Mákis Vorídis (ND, früher Laos, davor Epen) erklärte nach den Prügelorgien der Polizei, dass zur Durchsetzung von Reformen „der Polizeiknüppel eine Notwendigkeit“ sei. Von Vorídis existieren Fotos von 1985, auf denen er als Nazi und Mitglied der von Ex-Diktator Geórgios Papadópoulos gegründeten faschistischen Partei Epen mit einem Beil in Athen auf Anarchistenjagd ist.

Flüchtlinge raus – legal, illegal, scheißegal

Mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament, und rassistisch begründet als „Reaktion auf die illegale Migration“, verabschiedete die ND-Regierung seit Sommer 2019 diverse Strafrechtsverschärfungen, u.a. für Menschenschmuggel, Vergewaltigung und Diebstahl. Mit gleicher Begründung wurde auch das Asylrecht drastisch eingeschränkt. Wo dies nicht reicht, wird illegal gegen Asylbewerber*innen entschieden. So im Fall von 28 Männern aus afrikanischen Ländern, deren Asylantrag ohne die vorgeschriebene Anhörung abgelehnt wurde, wie die Athener Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón am 25. November aufdeckte. Als Begründung gab die Asylbehörde auf Lésbos an, es sei „kein Übersetzer für Portugiesisch zu finden“.

Verschiedene Organisationen haben sich des Falls angenommen und entschieden Protest eingelegt. Trotz des Widerspruchs von Ärzt*innen hatte die Regierung zuvor den Zugang Geflüchteter zu medizinischer Versorgung eingeschränkt. Die katastrophalen Bedingungen in den überfüllten Lagern auf den Ägäis-Inseln sind bekannt und unverändert, was regelmäßig zu Aufständen, Krawallen, Bränden und Todesopfern führt. Geplant ist nun die Ersetzung der offenen Lager durch Knäste. Am 23. Oktober rammte ein Boot der griechischen Küstenwache ein Flüchtlingsboot vor der Insel Kos und versenkte es. Ein dreijähriger Junge ertrank. Am 12. November gab ein Boot der Küstenwache vor Lésbos nach Aussage von Flüchtlingen gegenüber der türkischen Tageszeitung Sabah mehr als einhundert Schüsse auf ihr Boot ab, weshalb sie abdrehten und mit Einschusslöchern in die Türkei zurückkehrten. Ein Sprecher der Küstenwache sprach gegenüber der konservativen Tageszeitung Kathimeriní von „Warnschüssen“. Die pausenlose rassistische Propaganda von Regierung und Massenmedien hat dazu geführt, dass überall im Land Stimmung gegen Flüchtlingsunterkünfte gemacht wird.

Gesellschaft im Ausnahmezustand

Zwar verweist die Demoparole „Brot, Bildung, Freiheit – die Junta endete nicht 1974“ auf Griechenland, doch fühlen sich immer mehr linke Griech*innen an Berichte über die Türkei oder ehemalige Militärdiktaturen in Lateinamerika erinnert. Nach dem Anlaufen des Films Joker führte die Polizei während der Vorführung Razzien in Kinos durch, um Minderjährige aus dem Film zu holen.

Über 300 Partygäste wurden bei einer Drogenrazzia in einem Technoclub gezwungen, mehr als eine Stunde mit erhobenen Händen auf der Tanzfläche zu knien. Das Bekanntwerden immer neuer illegaler und gewalttätiger Polizeiaktionen bis hin zur Folter, verbreitet Angst. So wurde die Anarchistin Anthoúla Karagiánni am 13. November in Athen am hellichten Tag, um 14:30 Uhr am belebten Káningos Platz an einer Bushaltestelle von vermummten Männern in Zivil in ein Auto gezerrt und verschleppt. Im Wagen wurden ihr Handschellen angelegt und ein Sack über den Kopf gezogen. Sie wurde ins Polizeipräsidium gebracht, bedroht, verhört, und immer gefesselt und mit Sack über dem Kopf von mehreren Männern beschimpft. Nach drei Stunden endete ihre Geiselhaft, weil sich wiederholt Genoss*innen am Präsidium nach ihr erkundigten.

Die Entführung hatte das Ziel, Hinweise auf einen untergetauchten Genossen zu erpressen, der im Rahmen der Fahndung nach der Organisation „Revolutionärer Selbstschutz“ gesucht wird. Schriftliche Aussagen dreier weiterer Genoss*innen, die auf ähnliche Weise verschleppt, bedroht und teilweise erst nach zehn Stunden freigelassen wurden, liegen vor. Zwischen dem 8. und 10. November wurden darüber hinaus 13 Häuser gestürmt, Wohnungen zerstört, Nachbar*innen eingeschüchtert und jede Menge Unterlagen und Computer beschlagnahmt. Zwei langjährige Aktivisten befinden sich als angebliche Mitglieder der Organisation in U-Haft. Schon seit August machen betroffene Anarchist*innen und Antifaschist*innen, unter ihnen Uniprofessor Panagiótis Polítis, in Efimerída ton Syntaktón wiederholt öffentlich, illegale Peilsender und Überwachungskameras der Polizei an ihren Autos, Motorrädern bzw. im Umfeld ihrer Wohnungen enttarnt zu haben.

Die „Initiative gegen die Repression“ organisierte am 30. November ein riesiges Konzert mit tausenden Menschen im Zentrum Athens gegen Polizeigewalt. Die Polizeiführung schweigt zu all dem und Chrysochoídis hat nach altem sozialdemokratischem Rezept, am 1. Dezember die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur Polizeigewalt verkündet.

Weitere Verschärfung der Wirtschaftspolitik

Dass Syriza (Allianz der radikalen Linken) im Sommer abgewählt wurde, weil die Partei fast alle gegebenen Versprechen nach dem Wahlsieg 2015 gebrochen hat, wurde in der GWR schon erwähnt. Ebenso, dass Syriza in der Wirtschaftspolitik kaum Spielräume von EU-Kommission, EZB und IWF zugestanden worden waren. Wie schnell sich Spielräume in der EU erweitern, sobald der „linksradikale“ Klassenfeind von der Macht vertrieben ist, wird deutlich seit die ND unter Kyriákos Mitsotákis regiert. Musste sich Syriza jeden ausgegebenen Euro genehmigen lassen, werden die von ND verabschiedeten großzügigen Steuererleichterungen fürs Kapital, die die auferlegten Sparziele deutlich gefährden, nicht kritisiert. Auch Pläne mehr Kapital anzuziehen, indem Griechenland zur Steueroase umgewandelt wird, worüber die Financial Times berichtete, blieben unkommentiert.

Die politischen Entscheidungsträger*innen der EU sind zufrieden, das Kapital allemal. Sieht das radikal-neoliberale ND-Programm doch die Verwirklichung der seit 2010 immer wieder anvisierten Privatisierung der staatlichen Wasser- und Stromversorgung sowie umfassende Privatisierungen im Gesundheitssystem vor. Die zigtausendfache Zwangsversteigerung von Immobilien verschuldeter Eigentümer*innen hat begonnen, und die Erweiterung des an den chinesischen Staatskonzern COSCO verkauften Containerhafens wurde beschlossen. Was der Bevölkerung von Athen und Piräus eine der wenigen Freiflächen am Meer verschließen würde. Statt der dringend nötigen und bisher vorgesehenen Grünflächen, soll auch der ehemalige Athener Flughafen Ellinikós mit einem acht Milliarden Euro teuren Projekt komplett zubetoniert werden. Geplant sind Casinos, Shopping-Malls, Wolkenkratzer und Luxusapartments mit Privatstrand. Begleitet werden die Entscheidungen nach nur fünf Monaten seit der ND-Machtübernahme von massiver Vetternwirtschaft und Korruption.

Die griechische Gesellschaft ist ob dieser Politik und der sie begleitenden autoritären Propaganda tief gespalten. Gut die Hälfte der Bevölkerung sieht sich in ihren rassistischen Vorurteilen ermutigt, hetzt gegen Geflüchtete und klatscht Beifall wenn „den Krawallmachern in Athen“ endlich gezeigt wird wo es langgeht. Die ND gilt als durchsetzungsfähig, also passt man sich besser an und hofft darauf, belohnt zu werden. Die andere Hälfte der Bevölkerung lehnt neoliberale Reformen und Polizeigewalt ab und versucht sich zu organisieren.

Die anarchistische Bewegung kämpft mit Wut und hohem Einsatz. An den Demonstrationen des 6. Dez. beteiligten sich Zehntausende in ganz Griechenland. In Athen, Thessaloníki und Pátras kam es zu Auseinandersetzungen mit den staatlichen Repressionskräften, die unter dem Einsatz von Tränengas, Blendschockgranaten, Wasserwerfern, Drohnen und Hubschraubern, und erneut mit äußerster Brutalität vorgingen. Im Morgengrauen des 7. Dezember fanden Angriffe auf über 50 Banken, Shopping Malls, Behörden und Polizeiwachen statt. Ob Wut und Entschlossenheit gegenüber dem unerschöpflichen Waffenarsenal des Staates ausreichen, erscheint fraglich.

Ralf Dreis, Thessaloníki

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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