Max Nettlau und der Anarchismus ohne Adjektive

Teil 2. Fortsetzung aus GWR 444, Dezember 2019

| Jochen Schmück

Max Nettlau war keinesfalls der Einzige, der sich in der internationalen anarchistischen Bewegung für eine friedliche Koexistenz der unterschiedlichen und oft miteinander im Streit liegenden anarchistischen Strömungen einsetzte.

Nach seiner gegen Mitte der 1890er Jahre allmählich einsetzenden Distanzierung von den Konzepten des kommunistischen Anarchismus entwickelte er ein Anarchismuskonzept, das er selbst als „Anarchismus ohne Beiwörter“ bezeichnete. Den Begriff, der heute eher als „Anarchismus ohne Adjektive“ bekannt ist, hatten die beiden spanischen Anarchisten Fernando Tarrida del Marmol (1861-1915) und Ricardo Mella (1861-1925) gegen Ende der 1880er Jahren eingeführt(24). In seinem 1921 in der „Freedom“ veröffentlichten Aufsatz „Mutual Toleration versus Dictatorship“ erläutert Nettlau die Entstehung dieses Begriffes wie folgt:

Ende der achtziger Jahre versuchte der kommunistische Anarchismus in Spanien, den kollektivistischen Anarchismus zu verdrängen, und als junge Bewegung war er sehr intolerant. Genosse Tarrida del Marmol, damals Herausgeber des in Barcelona erscheinenden ‘Productor’, sprach und schrieb goldene Worte über das erforderliche Miteinander beider wirtschaftlicher Hypothesen, an welche die verschiedenen Fraktionen der spanischen Anarchisten glaubten. Tarrida schuf dann den Begriff ‘Anarchismus ohne Phrasen’ oder ‘Anarchismus ohne Etikett’, den er fortan verwendete. Ungefähr zur gleichen Zeit setzte sich Malatesta, der aus Südamerika zurückkehrte, im Appello (25) der ‘Associazione’ (seine Zeitschrift, 1889) und anderswo für die friedliche Koexistenz beider Gruppierungen von Anarchisten ein.

Zu diesem Thema wurde seitdem nicht mehr viel gesagt, und die Leser der ‚Freedom‘ werden sich vielleicht noch an meine Bemühungen von Anfang 1914 erinnern(26), eine Verständigung zwischen individualistischen und kommunistischen Anarchisten herbeizuführen, ein fehlgeschlagener Versuch, der durch eine Lawine von Protesten von beiden Seiten zunichte gemacht wurde, von denen sich jede absolut wohl fühlte in ihrer Isolation und ihrem exklusiven Glauben, Recht zu haben. Für mich war es nur ein schwacher Trost, als ich sah, dass Malatesta in seinen Artikeln in ‚Umanita Nova‘ (1920) dieses Prinzip der Koexistenz und der gegenseitigen Toleranz gegenüber der italienischen anarchistischen und kommunistischen Richtung weiter aufrecht erhält und proklamiert.“ (27)

In der politischen Praxis der anarchistischen Bewegung wurde der Begriff des „Anarchismus ohne Adjektive“ nur selten benutzt, es ist eher ein Sammelbegriff, der durchaus unterschiedliche ideologische Konzepte vereinigt. Zudem wurden in der anarchistischen Bewegung auch andere Begriffe verwendet, die dasselbe meinen wie „Anarchismus ohne Adjektive“, so z.B. der in den 1920er Jahren populär gewordene Begriff der „anarchistischen Synthese“. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden ähnliche Ideen, wie sie für den „Anarchismus ohne Adjektive“ typisch sind, unter den Bergriffen „revisionistischer Anarchismus“ und „pragmatischer Anarchismus“ vertreten. Einig sind sich die Vertreter des „Anarchismus ohne Adjektive“ in ihrem Bestreben, die großen ideologischen Strömungen der anarchistischen Bewegung (kollektivistischer Anarchismus, kommunistischer Anarchismus, Individualanarchismus und Anarchosyndikalismus) in einem Verhältnis der gegenseitigen Toleranz und friedlichen Koexistenz zu vereinen.

In seiner 1928 veröffentlichten Schrift La synthèse anarchiste schlug der international bekannte französische Anarchist Sébastien Faure (28) eine Synthese der drei großen Strömungen der internationalen anarchistischen Bewegung wie folgt vor:

In Frankreich, wie in den meisten anderen Ländern, unterscheidet man deutlich drei große anarchistische Strömungen, die sich folgendermaßen klassifizieren lassen: Der Anarcho-Syndikalismus; der freiheitliche Kommunismus; der anarchistische Individualismus. (…) Nach meiner Meinung sind die drei hier erwähnten Richtungen dazu berufen, eine anarchistische Synthese herzustellen. Man könnte das Ergebnis … folgendermaßen zum Ausdruck bringen:

Die drei Strömungen des Anarcho-Syndikalismus, des freiheitlichen Kommunismus und des anarchistischen Individualismus unterscheiden sich zwar voneinander, aber es besteht zwischen ihnen kein Gegensatz prinzipieller oder taktischer Natur, der sie verhindern könnte, im guten Einvernehmen nebeneinander zu existieren und sich zu gemeinschaftlicher Aktion zusammenzufinden. Die Existenz dieser drei Richtungen bedeutet in keiner Weise eine Schwächung der Gesamtbewegung des Anarchismus. Als geistige und soziale Bewegung in seiner ganzen umfassenden Ausdehnung kann und muss er nur gewinnen durch das Bestehen dieser drei Strömungen. Jede der drei Strömungen hat in der großen sozialen Bewegung, die wir Anarchismus nennen, ihren bestimmten Platz und ihr besonderes Tätigkeitsfeld; jede hat ihre bestimmte Aufgabe und erstrebt einen gesellschaftlichen Zustand, in dem jedem Einzelwesen das Maximum von Freiheit und Wohlstand gesichert ist.

Man kann den Anarchismus somit, um eine Formel der Chemie zu gebrauchen, mit einem zusammengesetzten Körper vergleichen, der aus mehreren Elementen besteht. Dieser Körper ist durch eine Zusammensetzung der drei Elemente: des Anarcho-Syndikalismus, des freiheitlichen Kommunismus und des anarchistischen Individualismus entstanden. Seine chemische Formel könnte sein: S.² K.² I.². (…) Die Formel selbst kann verschiedene Proportionen aufweisen, deren Größe durch lokale, regionale oder internationale Einflüsse bedingt ist. Aber stets sind es dieselben drei Elemente: Anarcho-Syndikalismus, freiheitlicher Kommunismus und anarchistischer Individualismus, die untereinander die Verbindung eingehen und die Zusammensetzung des Ganzen bestimmen. In dieser Bedeutung spreche ich von der ‚anarchistischen Synthese‘.“ (29)

Faures Konzept der „anarchistischen Synthese“ war nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Er bezog sich in ihm auch auf entsprechende Anstrengungen zur Schaffung einer Einheitsplattform für die AnhängerInnen der verschiedenen anarchistischen Strömungen, die von der Föderation der ukrainischen Anarchisten, der Nabat (Sturmglocke), in den Jahren 1918-1920 unter maßgeblichem Einfluss von Volin (30) unternommen worden waren. Vergleichbaren Anstrengungen wurden auch in Italien von der Union Anarchica Italiana unternommen, für die Malatesta 1920 das Programm geschrieben hatte und in deren Organ, der Umanità Nova, er die Überwindung der Spaltung in der anarchistischen Bewegung durch Anerkennung der Koexistenz der verschiedenen ideologischen Strömungen wie folgt einforderte:

Wir sind Anarchisten, Anarchisten im eigentlichen und allgemeinen Sinn des Wortes; das bedeutet, dass wir jene soziale Ordnung zerstören wollen, in der die Menschen im gegenseitigen Kampf sich ausbeuten und unterdrücken . . . um zur Einrichtung einer neuen Gesellschaft zu gelangen, in der jeder, mit allen andern Menschen in Solidarität und Liebe verbunden, volle Freiheit, die größtmögliche Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche und die größtmögliche Entwicklung seiner geistigen und Gemütsfähigkeiten findet.

In welchen konkreten Formen sich dieses ersehnte Leben der Freiheit und des Wohlstandes für alle ausdrücken wird, kann niemand mit Genauigkeit sagen; vor allem kann keiner, der Anarchist ist, daran denken, andern die ihm als die beste erscheinende Form aufzulegen. Das einzige Mittel das Beste zu entdecken, ist die Freiheit, Freiheit der Gruppierung, Freiheit des Experiments, vollständige Freiheit ohne andere Grenze als die gleiche Freiheit des andern.

Es gibt unter den Anarchisten solche, welche lieben, sich als Kommunisten oder Kollektivisten oder Individualisten oder sonstwie zu qualifizieren. Oft ist dies eine Frage von Worten, die verschieden interpretiert werden und eine grundsätzliche Gleichheit der Bestrebungen verdunkeln und verbergen; manchmal handelt es sich nur um Theorien, um Hypothesen, mit welchen jeder auf verschiedene Weise Schlüsse, die praktisch identisch sind, erklärt und rechtfertigt.“ (31)

Innentitel „L’Anarchie“ von Max Nettlau

Auch in den USA gab es Versuche, die Spaltung der sich traditionell feindlich gegenüberstehenden Strömungen des Anarchismus zu überwinden. Neben der Anarchistin und Schriftstellerin Voltairine de Cleyre (32) setzte sich besonders der jüdisch-amerikanische Anarchist Jacob Abraham Maryson (33) für eine „anarchistische Synthese“ der anarchistischen Hauptströmungen zur Überwindung der Spaltung der anarchistischen Bewegung ein. In seiner 1935 veröffentlichten Schrift The Principles of Anarchism unterscheidet Maryson zwischen zwei Hauptströmungen des Anarchismus, nämlich der des von Proudhon abgeleiteten mutualistischen Anarchismus, dem er auch den individualistischen Anarchismus Stirners zuordnet, und des maßgeblich von Kropotkin geprägten kommunistischen Anarchismus, dem er auch den kollektivistischen Anarchismus Bakunins zurechnet. Reduziert auf diese beiden Schulen des Anarchismus spricht er sich für deren Synthese wie folgt aus:

Es sollte an diesem Punkt kein Problem geben, zu einer Synthese der beiden Schulen des anarchistischen Denkens zu gelangen. Als Ideal des sozialen Wiederaufbaus basiert der Anarchismus auf dem Kardinalprinzip der individuellen Freiheit, Bedingungen durch Chancengleichheit. Das ist die Essenz des Anarchismus von Proudhon und Kropotkin.

Als eine Lehre der sozialen Organisation muss der Anarchismus einen Plan für die Produktion und Verteilung aller lebenswichtigen Güter, sowohl physisch als auch mental, auf der Grundlage der Freiheit vorlegen. Die Schule Kropotkins behauptet, dass der Anarchismus zum Kommunismus führt; die Schule Proudhons behauptet dagegen, dass der Anarchismus uns vom Kommunismus weiter wegführt. Aber da Kropotkin als Anarchist die exklusive Einführung einer bestimmten Art des Wirtschaftssystems für alle Gruppen und Gemeinschaften nicht rechtfertigen kann, auch nicht für diejenigen, die eine andere Art von Wirtschaftsordnung bevorzugen, und da Proudhon als Anarchist keine Gruppe oder Gemeinschaft daran hindern kann, ihr Leben nach den Prinzipien des Kommunismus zu gestalten, darf die Frage des Kommunismus oder Nicht-Kommunismus nicht als ein Konflikt von Prinzipien angesehen werden. Es muss der freien Wahl jedes Einzelnen überlassen bleiben, der selber darüber entscheidet, welcher Gruppe er beitritt oder ob er lieber für sich selbst arbeitet und mit den Ergebnisse seiner eigenen Arbeit zufrieden ist.“ (34)

Obschon es also in der internationalen anarchistischen Bewegung nicht an Persönlichkeiten fehlte, die wie Max Nettlau versuchten, die traditionelle Spaltung der Bewegung in sich vehement bekämpfende Fraktionen durch Einführung eines „Anarchismus ohne Adjektive“ bzw. einer „anarchistischen Synthese“ aufzuheben, war diesen Anstrengungen zu Nettlaus Lebzeiten kein Erfolg beschieden. Resigniert musste sich Nettlau an seinem Lebensende eingestehen, dass seine Versuche Einfluss auf die ideologische und politische Entwicklung des Anarchismus zu nehmen, weitgehend als gescheitert betrachtet werden müssen:

Meine kritischen Ratschläge seit den Neunzigern hatten immer eine Anwendung der freiheitlichen Ideen im wirklichen Leben zum Ziel gehabt, eine Erweiterung und Vielartigkeit der Tätigkeit, von der Theorie weg und über die negative Kritik hinaus. – Das war himmelweit verschieden von dem, was seit Mitte der Neunziger nicht wenige wirklich taten, indem sie, neben dem Syndikalismus, auch alle anderes zur Hand nahmen, das ihre Tätigkeit nicht erweiterte sondern verengte.“ (35)

Epilog

Nettlaus Vision eines modernen, im realen gesellschaftlichen Leben verwurzelten Anarchismus erlangte erst nach seinem Tod und dem Ende des Zweiten Weltkrieges an Bedeutung. Am stärksten ist der Einfluss von Nettlau in der Bewegung des deutschen, schwedischen und britischen Anarchismus der Nachkriegszeit erkennbar, wo seine Ideen im Zuge einer Revision der bisherigen anarchistischen Ideologie einen erkennbaren Widerhall fanden. Eine solche Revision des Anarchismus hatte Nettlau noch in seinem letzten Brief an seinen Freund Rudolf Rocker (36) im Februar 1939 wie folgt gefordert:

Wir sollten einmal vernünftig werden und unsere Grundlagen erweitern. Das zu unterlassen, heißt, die ganze Sache preisgeben. Wenn man jahraus, jahrein nur vegetiert, um ein paar Meetings zu halten, Drucksachen und Zeitungen mit Müh und Not zu produzieren und anzubringen und sonst nachträglich über alles klug zu reden, das heißt mit Erbsen aus Kinderflinten schießen, und ob man so oder so organisiert und gruppiert, das ist nur Kasernenhofexerzieren und Manöverspaziergänge.“ (37)

Weltweit musste sich die anarchistische Bewegung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges reorganisieren, was zumeist mit einer kritischen Bestandsaufnahme ihrer bisherigen ideologischen Grundlagen verbunden war. In der durch Verfolgung und Krieg stark geschrumpften libertären Bewegung in Deutschland waren es vor allem die beiden ehemaligen Funktionäre der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten), Rudolf Rocker und Helmut Rüdiger(38), die sich aus dem Exil mit Nachdruck für eine kritische Bestandsaufnahme und Neubewertung der traditionellen anarchistischen bzw. anarchosyndikalistischen Konzepte einsetzten. (39)

Ungeachtet ihrer Anstrengungen für eine ideologische und programmatische Neuausrichtung ihrer Bewegung gelang es jedoch den deutschen Libertären nach 1945 nicht, einen nennenswerten Einfluss in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu gewinnen, und dies gilt sowohl für die „Traditionalisten“ als auch für die „Revisionisten“. Erfolgreicher als in Deutschland waren dagegen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Versuche zu einer Neubestimmung der anarchosyndikalistischen Theorie und Praxis in Schweden, wo sich die seit 1910 bestehende Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC) unter dem Einfluss von Helmut Rüdiger theoretisch und praktisch neu ausrichtete. Die schwedischen Syndikalisten öffneten sich sogar gegenüber dem Parlamentarismus, indem sich SAC-Mitglieder über die speziell dafür 1953 gegründete Bürgervereinigung Frihetliga Kommunalfolket an Kommunalwahlen beteiligten.

Auch in der anarchistischen Nachkriegsbewegung in Großbritannien gab es Versuche zu einer Revision der traditionellen anarchistischen Theorie und Praxis, die mit denen vergleichbar waren, wie sie von der deutschen und schwedischen Bewegung in der Nachkriegszeit unternommen wurden. Doch im Gegensatz zur deutschen Nachkriegsbewegung, die nur wenige neue jüngere Mitglieder gewinnen konnte, gelang es der anarchistischen Bewegung in Großbritannien sich auch mitgliedermäßig zu erneuern. Einige dieser jüngeren Anarchisten wie Colin Ward (1924-2010) und Nicolas Walter (1934-2000) unternahmen in den 1950er und 1960er Jahren Anstrengungen, um einen modernen pragmatischen Anarchismus (40) zu entwickeln, der besser als der traditionelle Anarchismus den Anforderungen der Gegenwart entsprach und der auf eine Überwindung der traditionellen Spaltungen der anarchistischen Bewegung abzielte. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die anarchistische Bewegung weltweit bis Mitte der 1960er Jahre eher stagnierte bzw. im Niedergang begriffen war. Erst mit dem Aufkommen der neuen Protestbewegungen ab Mitte der 1960er Jahre in Westeuropa, erlangte der Anarchismus als eine Ideologie der Befreiung erneut an gesellschaftlicher Relevanz.

Weltweit entstanden seit 1968 anarchistische Organisationen und Gruppen, die einen neuen, modernen Anarchismus anstrebten, dem es weniger um die Traditionspflege der revolutionären Perspektive als um pragmatische anarchistische Interventionen in den sozialen und kulturellen Bereichen der Gesellschaft ging. Speziell in den USA und in Großbritannien ist die Entwicklung nach 1968 besonders innovativ verlaufen, und es dauerte zumeist nicht lange, bis die neuen anarchistischen Strömungen auch nach Deutschland gelangten. So ist im Umfeld der internationalen Anti-Atomkriegs-Bewegung der gewaltfreie Graswurzel-Anarchismus entstanden, aus der feministischen Bewegung ging der Anarcha-Feminismus hervor, und die Bewegung zum Schutz unserer natürlichen Umwelt und ihrer Ressourcen brachte den Öko-Anarchismus hervor.

Die Anarchie als kulturelle Errungenschaft unserer modernen Gesellschaft, sie wollte Nettlau mit seiner Arbeit als Historiker und Anarchist fördern. Dabei war es ihm relativ egal, in welchem sozialen Kontext dies geschah. Sicherlich hätten ihn die libertären Tendenzen gefreut, die sich in den unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und ökonomischen Bereichen der heutigen Gesellschaft erkennen lassen. Denn sie machen deutlich, dass die Anarchie auf ganz vielfältige Weise inzwischen ihren Platz in unserer Alltagskultur gefunden hat.

Mit seinen Ideen für einen „Anarchismus ohne Adjektive“ will uns Max Nettlau anregen, nicht nur innerhalb der anarchistischen Bewegung gegenüber den abweichenden Anschauungen der Anhänger*innen der anderen Strömungen des Anarchismus Toleranz zu zeigen, sondern er will uns generell dazu ermuntern, über den eigenen ideologischen „Tellerrand“ hinauszuschauen, um die vielfältigen libertären Tendenzen und Aktionsmöglichkeiten wahrzunehmen, die sich heutzutage anbieten, um die Anarchie in unserem Alltag zum Leben zu erwecken.

Jochen Schmück

 

Die Geschichte der Anarchie – zum Mitmachen!

Der Libertad Verlag in Potsdam plant die Werkausgabe der „Geschichte der Anarchie“ von Max Nettlau, die das für die Anarchismusforschung so wichtige Werk erstmals in der vom Autor dafür vorgesehenen Fassung vollständig veröffentlichen will. Die Veröffentlichung erfolgt in multimedialer Form sowohl als gedruckte Buchausgabe (Hardcover) als auch als digitale Onlineausgabe, die den Leser*innen erweiterte Nutzungsmöglichkeiten (wie Volltextsuche, freie Verschlagwortung usw.) bietet. So wie sich das Nettlau gewünscht hat, wird es mit Hilfe der Onlineausgabe seines Werkes möglich sein, dass die Leser*innen seine von ihm selbst nur als Rahmenwerk verstandene Geschichtsschreibung durch themenergänzende Spezialstudien, Aufsätze, Kommentare, Korrekturen und Links zu externen Webseiten und themenbezogene Illustrationen erweitern und vertiefen können. Zugleich kann auch die wissenschaftliche und allgemeine Diskussion über den Inhalt seines Werkes online direkt im entsprechenden inhaltlichen Kontext seines Werkes geführt werden.

Nähere Infos zu dem Editionsprojekt finden sich auf der dafür eingerichteten Homepage unter www.geschichte-der-anarchie.de.

Anmerkungen:

24) Siehe Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd. IV: Die erste Blütezeit der Anarchie: 1886–1894, Vaduz: Topos Verlag, 1981, S. 120-145.

25) Bei dem von Nettlau erwähnten „Appello“ handelte es sich um einen vierseitigen im September 1889 erschienenen Prospekt mit der Ankündigung der italienischsprachigen Zeitschrift L’Associazione, die unter der Herausgeberschaft von Errico Malatesta seit dem 10. Oktober 1889 in Nizza und ab Nr. 4 bis zum 23. Januar 1890 in London erschienen ist. Siehe auch eine nähere Beschreibung des „Appells“ und seiner Wirkung in Nettlau: Errico Malatesta, a.a.O., S. 97-100.

26) Nettlau bezieht sich auf seinen im März 1914 in der Freedom veröffentlichten Artikel Anarchism: Communist or Individualist? Both, auf den weiter oben bereits näher eingegangen wurde.

27) Max Nettlau: Mutual Toleration versus Dictatorship, in: Freedom, Jg. 35, Nr. 385 (Juli 1921), S. 42-44 (Übers. aus d. Engl. v. Verf.)

28) Sébastien Faure (1858-1942) gehörte zu den populärsten Anarchisten Frankreichs und erlangte internationales Ansehen durch die Herausgabe der vierbändigen „Encyclopédie Anarchiste“, für die auch Nettlau Beiträge schrieb.

29) Sebastian Faure: Die anarchistische Synthese, Teil I, in: Fanal. Anarchistische Monatsschrift, hrsg. von Erich Mühsam, Jg 3, Nr. 1 (Okt. 1928 ), S. 8-12. Der II. Teil des Aufsatzes erschien ebd., Jg. 3, Nr. 3 (Dez. 1928), S. 57-60.

30) Volin (d. i. Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum; 1882-1945) war ein russischer Revolutionär und Anarchist, der zu den wichtigsten libertären Chronisten der anarchistischen Aktivitäten in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917/18 gehörte. Vor dem Hintergrund seiner in den Revolutionen in Russland und der Ukraine gemachten Erfahrungen rief Volin in einem 1924 veröffentlichten Beitrag für die „Encyclopédie Anarchiste“ zu einer Synthese der anarchistischen Hauptströmungen Kommunismus, Syndikalismus und Individualismus auf und regte damit vermutlich Sébastian Faure zur Übernahme des Begriffs der „anarchistischen Synthese“ an.

31) Zit. n. Max Nettlau: Errico Malatesta Das Leben eines Anarchisten, Berlin: Verlag „Der Sndikalist“, 1922, S. 147.

32) Voltairine de Cleyre (1866-1912) war eine US-amerikanische Autorin und Anarchistin, die aus der Freidenkerbewegung kommend Ende der 1880er Jahre zum Anarchismus, zuerst in seiner individualistischen Ausrichtung, gekommen war. 1897 reiste sie nach England, wo sie in London u. a. auch Max Nettlau und Fernando Tarrida del Mármol kennenlernte. Ihre ab Anfang der 1890er Jahre vertretenen Ideen ähnelten sehr denen der bereits genannten Vertreter des Anarchismus ohne Adjektive, siehe z. B. Voltairine de Cleyre and Rosa Slobodinsky: The Individualist and the Communist. A Dialogue, in: Twentieth Century (New York), Vol. 6, No. 15 (June 18, 1891), S. 3-6.

33) Der aus dem russischen Gouvernement Wilna (heute Litauen) 1887 nach Amerika ausgewanderte Jacob Abraham Maryson (d. i. Jacob Merison, 1866-1941) war ein jüdisch-amerikanischer Anarchist und Arzt, der zu den international bekannten Repräsentanten der jüdischen anarchistischen Bewegung in den USA gehörte. Maryson war in New York Mitglied der Pioneers of Liberty und gab eine Zeitlang die in jiddischer Sprache erschienenen anarchistischen Zeitschriften Freie Arbeiter Stimme und Dos Freye Vort heraus. Er veröffentlichte aber auch Beiträge in der englischsprachigen anarchistischen Presse wie z.B. in der Solidarity (dort unter dem Namen F. A. Frank) und in der von Emma Goldman herausgegebenen Zeitschrift Mother Earth. Daneben war Maryson auch als Übersetzer radikaler Literatur tätig und hat u.a. Das Kapital von Karl Marx, Der Einzige und sein Eigentum von Max Stirner sowie Der Anarchismus von Paul Eltzbacher ins Jiddische übertragen. Sein Anarchismusverständnis, das Nettlaus Konzept des „Anarchismus ohne Adjektive“ ähnelt, kommt am deutlichsten zum Ausdruck in seinem 1904 erschienen Artikel Some Misceptions of Anarchism (in: Free Society, New York; 10. April 1904) und in seiner 1935 in englischer Übersetzung erschienenen Schrift The Principles of Anarchism (Hrsg. von The Jewish Anarchist Federation of America, New York: Posy-Shoulson Co-Operative Press, 1935).

34) J. A. Maryson: The Principles of Anarchism, S. 31.
35) Zit. n. Burazerovic: Max Nettlau, a.a.O., S. 79

36) Rudolf Rocker (1873-1958) war eine der herausragenden Gestalten nicht nur des deutschen, sondern auch des internationalen Anarchismus und Anarchosyndikalismus. Max Nettlau hatte Rudolf Rocker 1895 in London kennengelernt und war mit ihm – trotz mancher gravierender Meinungsverschiedenheiten, so z.B. in ihrer Einstellung gegenüber dem Anarchosyndikalismus – ein Leben lang eng befreundet gewesen. Zu Leben und Werk von Rudolf Rocker siehe: Peter Wienand: Der „geborene“ Rebell. Rudolf Rocker Leben und Werk, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1981 sowie Hartmut Rübner: „Eine unvollkommene Demokratie ist besser als eine vollkommene Despotie“. Rudolf Rockers Wandlung vom kommunistischen Anarchisten zum libertären Revisionisten, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 15, 1998, S. 205–226.

37) Zit. n. Rocker: Max Nettlau, a.a.O., S. 298.

38) Zur Biografie Helmut Rüdigers (1903-1966), insbesondere zu seinem Einfluss auf die schwedische und deutsche libertäre Bewegung der Nachkriegszeit, siehe: Hans-Jürgen Degen: Helmut Rüdiger – Wider den Dogmatismus, in: Anarchisten. Zur Aktualität anarchistischer Klassiker, hrsg. von Wolfram Beyer, Berlin: OPPO Verlag, 1993, S. 115-127. Eine Auswahl von Rüdigers in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichten kleineren Schriften findet sich in Helmut Rüdiger: Sozialismus in Freiheit, Münster/Wetzlar: Verlag Büchse der Pandora, 1978.

39) Vgl. z.B. Rudolf Rocker: Zur Betrachtung der Lage in Deutschland. Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung, New York, London u. Stockholm, 1947.

40) Vgl. z.B. Nicolas Walter: Anarchism: A Revisionist Approach, in: Freedom, Jg. 21, Nr. 1 (2. Jan. 1960), S. 2. Besonders deutlich ist Walters Hinwendung zu einem pragmatisch verstandenen modernen Anarchismus in seiner 1969 vor dem Hintergrund der 1968er Revolte veröffentlichten Schrift About: Anarchism (London: Freedom Press, 1969) erkennbar (dt. Übersetzung: Nicolas Walter: Betrifft: Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit, mit einem biogr. Nachwort von Natasha Walter, hrsg., mit einem Geleitwort u. einer kommentierten Anarchismus-Bibliografie versehen von Jochen Schmück, Berlin: Libertad Verlag, 2018).