„Alle meine Entlein“ oder doch lieber „Leis, Kindlein, leis / da draussen schleicht der Preuss...“ „...Pommernland ist abgebrannt, Maikäfer flieg“? Mein Vater war im Krieg. Nicht in Pommern, sondern mit 17 im Ruhrgebiet als FLAKhelfer. Unser Nachbarhaus war ne schwarz ausgebrannte Ruine, sah ich raus aus dem inzwischen wieder verglasten Fenster, sah ich mehr von den zerbombten Trümmern unserer Straße, unter denen ganze Hausgemeinschaften verreckt waren. Es waren die 1950er Jahre – kurz nach dem „Endsieg“. Gesungen wurde da viel noch Vorkriegsgut und im Röhrenradio trällerte die leichte Schlager-Muse. Das Liedgut des zwölfjährigen 1000jährigen GroSSdeutschen Reiches hingegen war seltener, aber längst nicht weg. Zarah Leander immer noch in (die mit der NS-Amnäsie): „Ich weiß es wird noch mal ein Wunder geschehn...“, als man noch auf Wunderwaffen hoffte, und der rührselige Goebbels-Hausfreund Rühmann war auch wieder gut im Geschäft, auch gesanglich. Die etwas Verruchteren sangen schon mal „Macky Messer“, ohne wirklich zu wissen, dass das von Brecht war. Und bis ‚68 war es noch einigermaßen weit.
Auf dem Lehrplan im Humanistischen Gumminasium standen immerhin schon ein paar 1848er Songs: „Die Gedanken sind frei…“, wenn das auch das einzige damals war, was frei war, PERSIL- und gehirngewaschen von den Pfaffen, wie wir waren. „Oh Haupt voll Blut und Wunden…“, Kopfnüsse, Waatschen, Wangenkneifen, Ohrenziehen. Was wussten wir schon von 1848, von Revolution? Wir wussten ja nicht mal was von 1918 oder gar 1938. Aber das Lied von den Studenten sangen wir verständnislos nach: „Und wenn sie mich dann fragen, wo ist Absalom, dann werd‘ ich ihnen sagen: Ach, der hänget schon! Er hängt an keinem Baume, er hängt an keinem Strick, sondern an dem Traume der freien Republik.“ Von der freien Republik weit und breit nichts. Grau in graues Adenauerland. Res Publica. Im Lateinunterricht war es immer noch „…schön und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben.“ Des Caesars (Kaisers) „De Bellum Gallicum“ (man konnte es auch mit „Frankreichfeldzug“ übersetzen) als Leittext. In Erdkunde: „Dreigeteilt – NIEMALS!“ Und die erste Strophe des Deutschlandliedes war in den jungen Jahren dieser scheinbefreiten Republik keineswegs out.
Aber, pubertierend kriegte man langsam mit, da gab es diese Rocker, US-Rock ‚n‘ Roll, meist in irgendwelchen verrufenen Kaschemmen mit proletarischen Besuchern und ihren Girls. No-Go-Area für Bürgerkinder. Discos gabs noch nicht. Nur versteckte einzelne Jazz-Keller. Und in unserer Musiktruhe, für die sich der Heranwachsende zu interessieren begann, neben der „Schwarzwaldmarie“ mysteriöser Weise auch ein paar Jazz-Scheiben: Glenn Miller, der irgendwo im Krieg entschwebt war und wundersamerweise Louis Armstrongs großartiger „Basin Street Blues“ und noch ein paar andere Ohröffner. „Negermusik“. Natürlich hörte ich das ganze beschränkte Angebot. Später kam ein wilder Mix von Singles aus Tantis Musikbox in der bami‑Eis‑Bar dazu. Mein Musikgeschmack blieb lange breitbandig von Operette über Schlager bis zum Beat – „Mach doch mal die Urwaldmusik aus! Oder wenigstens leiser!“
Sixteen
Mit 16 (1968) nannte ich einen abgelegten Plattenspieler und ein bassstarkes Röhrenradio mein eigen, das zum endlich autonomen Musikhören ermutigte. Die Einkaufsmöglichkeiten waren jedoch mangels cash begrenzt, also Radio. Als ich zu Whynachten ne „Telefunken TD 300“ tragbare Tonbandmaschine bekam, wurde mit heissen Ohren abgepasst und aufgenommen, mit Mikro, analog und natürlich mono. Stereo war noch hochteurer Luxus. Im Radio klingelte ein wenig Revolution in meine Ohren: „Twee-Null-Acht op volle Kracht! Radio Hilversum driiijjjjjj….“ und andere Piratensender vor der Holländischen Küste lösten das brave „Radio Luxemburg“ ab, das wir immerhin im westlichsten Westen empfangen konnten. Spielte Luxemburg nur ab und zu ne halbwegs tolle Scheibe und natürlich ständig Beatles, so kriegten wir über die Piratensender die volle Packung Stones, Hendrix, Ten-Years-After, Exception, Nice, Deep Purple, The WHO: „We won‘t be fooled again…“ …
Und dann gab es da noch diesen Plattenladen Gottschalk am Markt mit seinen Hörkabinen, wo sich beim kostenlosen, zufälligen, weil nicht von Kenntnis getrübten Reinhören in LPs völlig neue Musikwelten erschlossen – nie Dagewesenes, nie Gehörtes, „Underground“. King Crimson mit „In the Court of the Crimson King – 21st Century scizoid man“ mit dem abgefahrenen legendären Cover, Matching Mole‘s little red Record, die politisierende Edgar Broughton Band mit „Out Demons out!“, Pink Floyd, alle Sorten Kraut-Rock (dabei so‘n Fund wie Eulenspiegel mit „Ich zeig dir den Staub auf deinem Haar“, früher Umweltprotest als Deutschrock) und psychedelic Music, Amon Düül 2, Can, Witthülser & Westrup und ziemlich exotisch: Burundi Black – die afrikanische Trommlcombo, bäng-bäng-bäng, jede Scheibe ne neue Dröhnung nie gehörter Musikwelten. Das war Revolution! Das nahm mich mit, in jeder Beziehung in dieser beziehungsarmen Zeit. Love, Peace & Happiness. Cooler Spruch, aber wenig Realität. Scott McKenzie „Going to San Francisco …with some flowers in the hair“, der Hippie-Song. Freier Sex – nur theoretisch. Alle waren klemmig und mussten erst lernen. Aufklärung? Fehlanzeige. Auch da gabs was auf die Ohren: „Je t‘aime“ mit Jane Birkin, der Aufreger in der Erwaxenen-Welt, Skandal! Wir kamen voll auf provo und das war verdammt nötig, uns freizuboxen. „Geh doch erstmal zum Friseur! Bei Adolf hätts das nicht gegeben. Euch müsste man alle vergasen. Geht doch mal ARBEITEN! Geht doch nach DRÜBEN!“ Hä? Doch nicht zu denen.
Haar
Überhaupt: HAIR, das Musical – ne völlig neue Welt, Haare gegen die kurzgeschorenen Militarismusköpfe der Älteren (und Jungangepassten). Als zur Schau getragener live Protest, der allenthalben gemobbt wurde. Die „Pilzköpfe“ waren bald nur harmloser Party-Putz, Haare bis zum Arsch, das war cool und provo. HAIR – das war ein ganzes Konzept, wenn auch in den deutschen Texten arg verwässert. Und dann an der niederländischen Küste, auf Schouwen-Duiveland, das Mega-Erlebnis mit 17: WOODSTOCK, der Film in Überlänge im Großzelt. Das ging ab! Neue Welten taten sich auf. Easy Rider mit seinem genialen Soundtrack großartiger Bands wie Steppenwolf, Hendrix, The Band, Dylon, Byrds mit „Wasn`t born to follow“ usw. mit ner echten Message: „… all I wanted was to be free!“ Und die Biker-abknallenden Rednacks waren damals bittere Realität. Freaks wurden gekillt.
Befreiung
Wir befreiten uns nach und nach nicht nur von den alten Musik-Schlacken und floateten zu neuen, absolut neuen Horizonten, die die angesagte POP‑Art uns farbenfroh ausmalte – Schluss mit dem Nachkriegsgrau und den genormten beige-besch. Klamotten. Ich malte jetzt auch – knallige POP-Plakate für die neu eröffnete Tanzschulendisko, heiß begehrt und erstes mit Malen verdientes G.E.L.D., das natürlich gleich in Vinyl umgesetzt wurde. Eric Burden „Mother Earth“, „In-A-Gadda-Da-Vida“ von Iron Butterfly, „Atomheart Mother“ von Pink Floyd, Hendrix mit „All along the Watchtower“ (mensch, hab ich geheult als der hin war), Brainticket, Emerson, Lake and Plamer, Creedence Clearwater Revival (Ci-Ci-aR), Santana, Grand Funk Railroad, Joe Cocker, Jethro Tull, Doors, Led Zeppelin, Janis Joplin… Ich entwickelte einen exzellenten Geschmack, wie sich Jahre und Jahrzehnte später zeigte – kein Kauf der zu bereuen war, während die meisten den immer flacheren Mainstream und Glam-Rock hörten. Schon war der Kommerz dem Protest auf den Hacken. Und auch die Protagonist*inn*en des Protests wurden kommerzieller. Wer noch einen Abglanz dieser Zeiten erleben will fahre nach Burg Herzberg auf das grösste Hippie-Festival Europas mit seiner temorären Freak-City. (1) 2020 mit Guru-Guru!
Deutschsprachige Protestmusik
Ganz spät kam dann die deutschsprachige Protestmusik, „Liedermacher“ – erst um Mitte der 1970er zu mir (mangels Kaufkraft auch über die Stadtbibliothek, die neuerdings LPs auslieh): der fundamental wichtige frühe Franz Josef Degenhardt „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ (später leider zunehmend uninspirierter DKPist), Hannes Wader, der subtile Georg Kreisler, der gewesene Star-Kabarettist und dann Anarchist Wolfgang Neuss, der noch revolutionär-rebellische Wolf Biermann „Chausseestraße“, der mitreissende Anti-AKW-Barde Walter Mossmann, der bis heute unverwüstliche „Klaus der Geiger“ (aktuell mit Salossi), sein Pendant der Münchener „Tommi und die Straßenmusikanten“… und noch im Ausklang die Liedermacher-Pfingsttreffen auf Burg Waldeck und die Umsonst-und-draussen-Festivals für Alle. Ne coole Zeit mit tatsächlich etwas Woodstock-Feeling in Germoney. Ohne überzogenes Styling, ohne truckweise Technik und ohne Ordnervisagen.
Folk und Folkrock mit Anarch@bands wie COCHISE, Klassikern der Musik von unten von „Zupfgeigenhansel“ und anderen, „Bernies Autobahnband“ mit „Sind wir noch zu retten“ – sehr aktuell, „Rockvogel“, „Rotglut“, „Geier Sturzflug“ (genau: die mit dem „Bruttosozialprodukt“), „Schroeder Roadshow“ und wie sie alle hießen. Die meisten vergessen oder fast. Zeilenweise könnte hier Namedropping betrieben werden, das bei kaum jemand der jüngeren Generationen noch etwas zum Klingeln bringen würde. Der frühe Agit-Prop-Rock der DKP‑lastigen Band „Floh de Cologne“ (1966-83) wusste immerhin schon: „…der Kapitalismus stinkt, wer stinkt, der Kapitalismus stinkt…“, mein Lieblingssong aus der Rockoper „Profitgeier“ (1971) in einem sehr coolen beweglichen Albumcover. A propos Rockoper, auch aus Österreich kamen solche Klänge, die „Schmetterlinge“. Ihr Song „Die Apokalyptischen Reiter“ (Album „Die letzte Welt“) wühlt mir immer noch im Bauch: „Commander Madman und General Freak…“ Ganz aktuell zu empfehlen: „Die Genzgänger“-CD „Keine Bange Leschinsky“ über den Kapp-Putsch 1920. (2) Nicht zu vergessen die großen Vorbilder aus den USA: Dylan und Joan Baez, Pete Seeger, Woody Guthrie („This machine kills Fascists“ stand auf der Klampfe), sein Sohn Arlo Guthrie, bekannt durch den kultigen Freak-Film um Kriegsdienstverweigerung „Alices Restaurant“ (3) und der unsterbliche Neil Young mit seiner aufrüttelnden, subtilen Rockmusik. Und Joe Hill.
Musik, mit ihren oft guten Lyrics, brachte mich echt voran, gab mir‘n Kick und stärkte meine rebellierende zerknitterte Seele, die immer noch voll Wut auf die vermurkste Kindheit und Jugend war und natürlich auf die chronisch weggeschwiegene Nazi-Pest an deren Traumata die ganze Gesellschaft litt. Wenns mir dreckig ging, griff ich zwischen die Scheiben und fischte den passenden Seelenbalsam raus. Das brachte mich wieder hoch und lud die Akkus auf. TSS (Ton-Steine-Scherben) kam eher zufällig zu mir, aber natürlich packten die mich sofort. Da war drive und spirit drin, die lebten das. Und davon war beim TRIKONT-Label aus München, bis heute das wichtigste alternative Musiklabel in D-Land, noch mehr zu holen. (4) Wie mir gings Zehntausenden. Die entbändigte Musik wurde zu unserem Soundtrack der Veränderung. Wir spuckten auf Mode, Konsum und verlogene Moral und machten erstmals unser eigenes Ding. Im Spießrutenlauf, versteht sich. Aber auf die Dauer haben wir immer mehr gewonnen, wirklich und anscheinend – und unsere Musik!
Punk
Dann kam der PUNK von GB rübergeschwappt – war mir meist zu trashig, aber Bands wie Hans-A-Plast, Dead Kennedys, … konnte ich ne Menge abgewinnen. Bei uns im Hof vom besetzten Haus spielten ‚81 Punx aus den USA, da wohnte ne Rock-Band aus GB, „Leningrad-Sandwich“ und unsere Freunde von „Krawalla Schrott“, die mit dem Street-Hit „Steine-Steine-Steine-Steine…“ (einer machte später etwas Musikkarriere mit „Zigan-Tzigan“). Die Musik war jetzt echt auf der Straße, hunderte Bands. Darunter auch die altgedienten „Checkpoint Charlie“ z.B. (seit 1967!!! Skandal mit dem Schwein Franz-Josef auf der Bühne! Kommune und Indi-Label „Schneeball Records“ mit vielen Rebellen). (5) Und die Mukke war aufmüpfig und unkommerziell. Sie nistete sich in den Freiräumen der Squatts Berlins ein – KOB und später nach Mauerfall z.B. in der Köpi, Hinterhöfen und Kellern. Und natürlich seit den 1970ern schon im legendären selbstverwalteten Jugendzentrum und Punkschuppen DRUGSTORE Berlin-Schöneberg, das erst kürzlich abserviert wurde. TSS und „Rauchhaussong“ sind ja fast Synonyme. Das waren die frühen 1980er bis Anfang 1990er, von wo ab sich alles immer mehr diversifizierte, spezialisierte und kommerzialisierte. Aber bis dahin war noch was los und alles NEU, kein Retro und Repro im x-ten Remix. Der Grunge und die neuen Indi-Labels kamen später, auch mit der neuen dezentraleren Technik. Erste Auflage davon die Kassetten-Tapes die jede*r easy und billig erstellen konnte (STECHAPFEL war so ne Tape-Manufaktur, Archiv leider verloren) und die im noch brandneuen Walkman mitgenommen werden konnten. Das konnte selbst die trashigste Punk-Band. Später wurde das Medium getoppt durch zunächst sündhaft teure CD-Walkman (und gratis Sampler-CDs z.B. im „Wahrschauer“) und dann USB-Sticks. Inzwischen sind wir beim Online-Streaming nach Wahl und Beliebigkeit. Hast du alle Wahl, hast du keine mehr. Du wirst zugesuppt. Audio-Zapping. Aber du kannst auch oft die alten Bands „fischen“. Und manche neue. Deutsch-Punk wie die „Goldenen Zitronen“, „Die Toten Hosen“ und andere schafften es sogar ganz hoch in die Charts. Slime, Fehlfarben und Teile der NDW wie „Extrabreit“ waren oft der Soundtrack der 1980er-Jahre Demos. Nicht zu vergessen der SKA – geile göttinger skA-Band: „No Respect“ (1994-2008).
Alleine über die RAP-Szene könnte man nen ganzen Artikel schreiben. Bands wie „Anarchist Academy“ gabs in der linken Szene gleich im Haufen und sie versuchten sich erfolgreich vom Macho-Kult und tumbem Gangsta-RAP zu emanzipieren ohne langweilig zu werden. Als wir 1990 in Triest das erste anarchistische Ost-West-Treffen mit hunderten Teilnehmer*innen aus aller Herrn Länder machten, saßen wir mal am großen Tisch und ich fing aus ner Laune an englisch zu rappen und gabs an die Nachbarin weiter. Spontan ging das mehrmals rund um die große Tafel und ausgerechnet ich hatte dann den Hänger und es brach ab. RAP lag in der Luft und machte Spaß.
Immerhin gabs und gibts auf libertärer Seite auch noch Leute wie YOK Quetschenpower, Geigerzähler / Atze Wellblech Band, Konstantin Wecker, das Linksradikale Blasorchester oder die Mühsam-Fest-Organisator*inn*en der Band „Der Singende Tresen“. Und dazwischen und daneben noch ne Reihe anderer, solo oder im pack. Tot ist der Protestsong in D-Land nicht und zuweilen hat er sogar künstlerische Qualität.
Aber was wirklich total in die Breite ging, das war BAP, ne kölsche Band, die so saujut Dialekt sang, jeile Texte hatte und dabei einen Sound der in Ohr und Knochen ging, dass sie bundesweit schichtenübergreifend Gehör fand, auch bei Leuten, die die Hälfte nicht kapierten. Rock am Ring – „…et is täschlisch Kristallnaaht“. Das hat eigentlich nur noch einer sonst so mit Dialekt geschafft und nicht mit ganz so viel Reichweite: der Hans Söllner mit Band aus Bayern mit seinen bodenständigen anarchisch-bairischen Reggae- und Rocksongs. Regional erfolgreich auch „Sparifankal“ und darüber hinaus die „Biermösl Bloasn“ kongenial mit dem Kabarettisten Poldt. Und auch ein paar frühe Grönemeyer-Songs im Ruhr-Sound gehören, meine ich, in diese Kategorie.
Reggae
A propos Reggae – der hält sich auch seit den 1960er Jahren und ist eine eigene Sparte der in großen Teilen politischen Protestmusik. „Get up, stand up“ von Bob Marley steht ikonisch dafür. Hier ließen sich jetzt jede Menge Bands aufreihen wie die frühen UB40 und das Betrachten der Reggaemusik weitet gleich unseren Blick nach Afrika (wie ja auch der Blues, Soul und Jazz, die alle in Elemente der Weltmusik übergegangen sind). Ali Farka Touré, da ein ganz großer Name mit einem gar nicht hoch genug einzuschätzenden Einfluss. Die musikalischen Stimmen des Protests aus Afrika werden immer unüberhörbarer. Mensch denke nur an Südafrika und die Soli-Songs gegen die Apartheid.
Lateinamerika mit seinem Che-Mythos, Kubanischer Musik und hunderten von Protest-Songs auf dem ganzen Kontinent liegt uns da schon näher. Schon wegen Nicaragua, El Salvador und den mexikanischen Zapatistas. Das Spanische ist ein eigener Musikkontinent, einschließlich Mutterland, der sich vielfältig gegenseitig beeinflusst, auch hier mit einem afrikanischen, aber auch deutschen Einschlag, den die vielen Auswanderer mitbrachten. Aber das sei hier nur angekratzt. Kommen wir nach Germoney zurück.
Abfallprodukte
Inzwischen gab es ab den 1990ern als Abfallprodukt des rebellischen musikalischen Aufbruchs auf der Gegenseite ungute Ableger und Nachahmer: Nazi-Punk, rechter Jammer-Rock von „Böhsen Onkelz“ & Co. und Hass-Rap. Immer Schlimmeres – die widerwärtigen Namen, inzwischen so viele an der Zahl, will ich gar nicht ausspucken und es nur bei diesem Hinweis bewenden lassen. Nicht jedoch ohne zu erwähnen, dass die Faschos sogar anfingen auf Schulhöfen massiv ihren auf CDs gebrannten Sondermüll an Schüler*innen zu verteilen und zunehmend in Düstermuffhausen & Co. ihre Rechtsrock-Konzerte organisieren. Es ist zu absurd, dass gerade die die emanzipatorische Kultur abkupfern und funktionalisieren.
Aber was war eigentlich mit den traditionellen Kampfliedern?
Wo wurde überhaupt noch gesungen? Da haben wir die Friedensbewegung seit den 1950er Jahren, die KPD-affinen K-Sekten der post68er-Zeit, die Anti-AKW-Bewegung, die Hausbesetzer*innen-Bewegung… Auch da gab es ne Menge Songs und nicht die schlechtesten. Wir hörten sie auf Platten, Tapes, CDs. Mitgesungen wurde seltener, am meisten noch in der Anti-AKW-Bewegung.
Als ich 1976 auf den großen Brokdorf-Demo gen Itzehoe latschte, behelmt und vollvermummt (wir wussten ja was uns blühen konnte – „Wehrt Euch, leistet Widerstand…“) geriet ich aus unserem Sponti-Block in die hinter uns laufenden Reihen der Kommunisten, die lauthals rauf und runter die alten „Arbeiterlieder“ sangen: „… der Rosa Luxemburg, der haben wirs geschworen…“, „Arbeiter an die Gewehre“, „Die Internationale“ und so fort. In einer Sangespause kam ich mit dem untergehakten Genossen ins Gespräch und äußerte gewisse Zweifel am altbackenen KP-Kult und regte an, auch mal Bakunin zu lesen. Jahrzehnte später trafen wir uns unverhofft auf der FREIen HEIDe wieder – zu einem Konzert von LEBENSLAUTE. Mein damaliger Mitmarschierer war jetzt Musiker bei „Lebenslaute“ und – Anarchist! Wie weit doch Gesang und Musik trägt.
Von den traditionellen Kampfliedern der historischen Anarchist*innen ist in D‑Land nicht mehr viel zu merken. Wenn mensch bedenkt, dass es in Düsseldorf nach dem Ersten Weltgemetzel mal einen anarchosyndikalistischen Chor mit 200 Sänger*innen gab, der durchs ganze Reich tourte… Und wenn mensch sich vorstellt, wie tausende Anarchist*innen zwerchfellerschütternd laut die „Ravachole“ durch die Straßen von Paris trugen (die „Marseilleise“ und „Ca ira“ kennen wir ja alle). Oder Spaniens anarchosyndikalistische CNT aus zehntausenden Kehlen „A las Barricadas“ schmetterte. Da sind wir heutigen Anarchist*innen, zumindest was D-Land betrifft, ziemliche Leisetreter*innen, die kleinlaut hinter wummernden Boxen herschlappen. In Italien ist dies noch anders. Das „Avanti popolo“ wird dort durchaus auf rein anarchistischen Demos gesungen, aber statt „rossa“ mit „Bandiera Nera“, und nicht nur das rührselige Partisanenlied „Bella Ciao“. Der Liedschatz ist da noch etwas größer und bekannter – und er wächst. Klar, auch da gibt es Punx, die aufspielen, Rapper*innen, Songwriter*innen, Rockbands und sogar Leute wie Gianna Nannini, die auch die anarchistische Bewegung unterstützt hat. Aber da singen die Leute tatsächlich noch selber, singen mit – da ist (Sanges-)Stimmung, wie sonst vielleicht nur noch in deutschen Landen auf dem Karneval. Anarchie in Italien geht gar nicht ohne Musik. Hier wollen wir mal die internationalen Streifzüge beenden, viel wäre da noch zu sagen und zu schreiben.
Beethoven
Wäre es nicht angesagt, 250 Jahre nach dem auch mal revolutionär gesinnten Beethoven (Wagner 1848 lassnma ma lieber), mal wieder ana‑loger zu werden und in unseren musikalischen Truhen zu graben, um alte und weniger alte Lieder und Melodien wieder aus der Kiste und dem Vergessen zu holen? Und neue zu schreiben, die „Gassenhauer“ werden könnten und mit uns auf die Straßen gehen? Haben nicht auch die „Latscher“ = die antifaschistischen „Edelweisspiraten“ sich am Singen gefreut und aufrecht gehalten? Auch im Gefängnis und Lager? Die Bakuninhütte hat einen ganzen historischen Instrumentenladen geerbt. Es macht Spaß zu singen und es ist befreiend, sich singend Luft, Lust und Mut zu machen. Sicher liegt es nicht daran, dass in D-Land zu wenig Liedgut aufzutreiben wäre. Aber nach dem Gegröhle der SA-Horden und Wehrmachtstruppen, den tumben gebetsmühlenhaften KPD-Mythen mit „Die Partei, die Partei hat immer recht…“ und dem abgleierten SPD-Parteitagsgesinge mochte wohl niemand mehr so recht zu deutschem tradierten Sangesgut greifen (das teils auch wirklich toxisch war).
„Ein neues Lied, ein bess‘res Lied, Freunde, will ich Euch singen…“ – und da es noch immer um das Erringen des Himmelreiches hier auf Erden geht, wollen wir Altvater Henry Heine doch zustimmen und mal probieren aufs Neue anzuheben. Zarte Versuche gibt es schon.
R@lf G. Landmesser / LPA Berlin
Anmerkungen:
1)https://burgherzberg-festival.de/line-up/
2) https://die-grenzgänger.de/tontraeger/
3) Alices Restaurant: https://www.youtube.com/watch?v=jNBurHDrZwM
https://www.youtube.com/watch?v=-yLg_bzwvxg
5) Checkpoint Charlie: http://www.taurus-press.de/rockd/IC10.html
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.