Es sind die neoliberalen Sparprogramme, die wachsende soziale Ungleichheit, die die Menschen auf die Straße treiben: Im Oktober 2019 demonstrieren Indigene, Gewerkschaftsmitglieder und Studierende in Ecuador, auch in Chile gehen in diesem Monat Hunderttausende auf die Straße. Die Herrschenden reagieren jeweils mit brutaler Gewalt, in Chile fahren erstmals seit der Pinochet-Diktatur wieder Panzer gegen Demonstrierende auf [siehe Artikel in GWR 443 und GWR 444]. Repression schweißt zusammen, die Proteste flauen nicht ab, im Gegenteil. Und da ist sie wieder, auch in Ecuador, die Parole aus den Zeiten der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990): „El pueblo unido jamás será vencido!“ („Das vereinigte Volk wird niemals besiegt werden“). Es ist so berührend. Und doch so falsch.
Es ist großartig, dass so viele unterschiedliche Leute gegen ein Wirtschafts- und Sozialmodell auf die Straße gehen, das mittels Privatisierungs-, Deregulierungs- und Austeritätspolitiken dafür sorgt, dass die Armen ärmer und immer prekäreren Lebensverhältnissen ausgesetzt werden, während kleine Eliten sich bereichern. Der Slogan aber und die Vorstellung, die mit ihm transportiert wird, sind höchst problematisch. Er taucht nicht nur in lateinamerikanischen sozialen Bewegungen auf, sondern gehört insgeheim (und manchmal auch ganz offen) zum Standardrepertoire linker, auch anarchistischer Weltbilder: Hier das arme, ausgebeutete Volk, das sich hüten muss, wie Bakunin meinte, vor dem Staat und der „Regierung der Gelehrten“(1), und dort die kleine Clique reicher Herrschender. Ist von diesen nur Unterdrückung und Zwang zu erwarten, bilden jene den Pool, aus dem die gerechte Welt erwächst. Dementsprechend folgert etwa der marxistisch-dekolonialistische Philosoph Enrique Dussel paradigmatisch, dass jedes Befreiungsprojekt „von der Volkskultur aus(gehen)“ (2) müsse.
Was ist problematisch an dieser Annahme?
Davon auszugehen, eine kleine In-Group beherrsche den Rest der Bevölkerung, indem sie sie mit List und Wahlversprechen spaltet, ist erstens herrschaftsanalytisch beschämend schlicht gedacht. Herrschaft besteht aus komplexen Prozessen, in denen Menschen auch mittels expliziter oder impliziter Zustimmung Gefolgschaft leisten. Es gibt Unterwürfigkeit und Partizipation als eingefleischte Traditionen, von denen letztlich auch Bakunin schon wusste, dass sie nicht eingeprügelt werden müssen, sondern sich in einer Form „geistiger und moralischer Gewohnheit“ (3) äußern. Die Menschen müssen nicht immer ausgetrickst oder gezwungen werden, sie haben meist auch selbst etwas vom Mitmachen. Dass Menschen protestieren und ihrem Unmut Luft machen, ist damit gar nicht ausgeschlossen. Aber es ist nicht der Normal-, sondern der Ausnahmefall.
Zweitens ist „das Volk“ oder sind die Armen, die Subalternen oder wie auch immer man die sozialstrukturell unten Angesiedelten auch nennen mag, als Gruppe in sich viel zu heterogen, als dass davon auszugehen wäre, sie würden im Prinzip eine gemeinsame Haltung teilen. Eine Haltung, die dann nur durch die listigen Spaltungsstrategien von oben entzweit würde. Dass diese Haltung der großen Mehrheit der Bevölkerung –„Masse“, „Volk“, „die Leute“ – dann auch noch emanzipatorisch sein soll, ist als Grundannahme drittens einfach auch empirisch nicht zu halten. Aus der Tatsache, dass Rebellionen häufig von ganz normalen Leuten getragen werden, zu schließen, ganz normale Leute seien Rebellinnen und Rebellen – normal, „also rebellisch“ (4) –, wie etwa der libertäre Marxist John Holloway es tut, ist ein wunschtraumgenährter Unsinn.
Was ist mit all den Hausmeistern, Busfahrern, Platzwarten und Abteilungsleitern, die ihr kleines geborgtes Reich nach dem Muster großer Tyrannen verwalten? Was mit der AfD-wählenden Kioskverkäuferin und den ganz normalen, antisemitischen Ultranationalist*innen in Büro, Kirche und Fabrik? Was ist also mit den Reaktionär*innen aller Länder, die ja auch ganz normale Leute sind? Und manchmal gerne Volksmusik hören. In Momenten, in denen „das Volk“ den Aufstand macht, wie in Ecuador und in Chile im Oktober 2019, fallen sie vielleicht nicht so sehr ins Gewicht. Wenn die reaktionären Leute und Milieus aber ausgeblendet werden, wie eine große linke und anarchistische Tradition es tut, kann über den Aufstieg des Ultranationalismus nichts Erklärendes mehr gesagt werden.
Auch der Neoliberalismus, der mit Unterstützung großer Teile der Bevölkerungen (wenn auch häufig gegen deren Interessen) durchgesetzt wurde, kann analytisch nicht begriffen werden. Und politisch? Das Volk ist selbstverständlich immer der wichtigste Bezugspunkt für politische Praxis: keine Partei, die nicht beansprucht, es zu repräsentieren. Weil das nie voll und ganz gelingen kann – auch den sogenannten Volksparteien nicht –, hatte die Anarchistin Simone Weil einst für die „Abschaffung der Parteien“ (5) plädiert.
Ihre Ablehnung der Parteien beruht aber auf der fragwürdigen Behauptung, dass Parteien nie dem Gemeinwohl dienen könnten, weil sie immer nur Teile der Bevölkerung vertreten – Partei kommt von „pars“, Lateinisch für „Teil“. Dem setzt sie ein homogenes Ganzes entgegen, das die Wahrheit verkörpert. Und das kann sie nur tun vor dem Hintergrund eines Vertrauens darauf, dass dieses Ganze, eben das „Volk“, von Grund auf emanzipatorisch gestimmt ist. Ein Irrglaube, der Weil sogar dazu veranlasst, jede Form des „Partei-Ergreifens, der Stellungnahme für oder gegen etwas“ (6) als Aktion gegen das Denken, die Wahrheit und das Gemeinwohl zu verurteilen.
Der Postanarchismus ergreift Partei, und zwar nicht anders als Anarchist*innen es in ihrer rund 180jährigen Geschichte immer getan haben, für die Schwächsten und Geknechteten, für die Armen und die Subalternen. Am besten natürlich: Nicht für sie, sondern mit ihnen. Aber postanarchistische Theorie und Praxis verlässt sich eben nicht mehr darauf, im „kleinen Mann“ oder der „einfachen Frau“ den Genossen oder die Genossin zu treffen. Auch wenn wir die antiimperialistische Bestimmung des Volkes als kämpferische Einheit gegen das Übel des globalen Kapitals kennen, so wissen wir doch auch von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, die das Menschheitsverbrechen der Shoah begangen hat. Auch dabei ziemlich vereinigt. Es gibt keine Gewissheit im Hinblick auf das „vereinigte Volk“ und sein potenzieller „Sieg“ ist nicht per se das Reich der Freiheit und Gerechtigkeit.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
1) Michail Bakunin: Gott und der Staat. Grafenau: Trotzdem Verlag 1995, S. 90.
2) Enrique Dussel: Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Wien/ Berlin: Verlag Turia + Kant 2013, S. 148.
3) Bakunin 1995, a.a.O., S. 52.
4) John Holloway: „Ganz normale Leute: Rebellinnen und Rebellen.“ In: Ders.: Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas. Wien: Verlag Turia + Kant 2006, S. 75-84, hier S. 81.
5) Simone Weil: Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. [1943] Zürich/ Berlin: diaphanes 2009, S. 30.
6) Ebd., S. 135.