Die Prinzessin war natürlich Prinzessin Alexandra Kropotkin [1887-1966], die einzige Tochter von Fürst Peter Korpotkin [1842-1921] und die direkte Nachfahrin des ersten russischen Zaren, vor dem Aufstieg der Romanows.
Peter Kropotkin betrachtete es als Beleidigung, ihn als Fürst zu bezeichnen. Er gab das alles auf und wurde von seinem Vater enterbt. Er kehrte den Privilegien den Rücken und verbrachte Jahre im Gefängnis und anschließend Jahre im Londoner Exil, wo Alexandra geboren wurde. Er war vielleicht der größte anarchistische Theoretiker – außerdem war er ein erstklassiger Wissenschaftler und Pionier in so weitgefächerten Fachgebieten wie Geologie, biologische Evolution, Geschichte, Soziologie, Wirtschaft und Philosophie. Vor allem jedoch war er Anarchist und glaubte an eine Gesellschaft ohne Staat, organisiert durch freie Assoziation und direkten, aber gewaltfreien Aktivismus. Prinzessin Alexandra scherte sich ebenfalls nicht um ihren Titel. Sie benutzte diesen jedoch, um sich einen Lebensunterhalt in New York zu verdienen, wo sie 1921 hinzog, nachdem sie Russland nach dem Tod ihrer Eltern verlassen hatte. Sie schrieb Artikel über Anstandsregeln für das verstaubte Magazin „Liberty“, das mit der „Saturday Evening Post“ vergleichbar war, und der Titel einer Prinzessin war ihr hierbei nützlich.
Prinzessin Alexandra war eine komplizierte Person. Für sie war der Anarchismus nicht nur nebensächlich, sondern sie stimmte 1964 sogar für [den republikanischen Präsidentschaftskandidaten] Barry Goldwater. Als dieser die Wahl verlor, verursachte ihr dies „Bauchschmerzen”. Viele Anarchist*innen verachteten sie, weil sie meinten, dass sie den Namen ihres geliebten Vaters entehren würde. Meine Eltern [Sam und Esther Dolgoff] kannten sie gut und mochten sie sehr gern. Sie empfanden sie als charmante Person und nicht als die Erzreaktionärin, die sie kokett der Öffentlichkeit vorspielte. Mit der für ihn charakteristischen Ironie sagte Sam, dass die Tochter von Peter Kropotkin eine heimliche Anarchistin sei. Niemand musste Alexandra daran erinnern, wer ihr Vater war, am allerwenigsten die Verehrer*innen ihres Vaters. Sie bewunderte ihn und hielt die Erinnerung an ihn in Ehren. Sie stand außerdem Rudolf Rocker besonders nahe, den sie aus Kindertagen in London kannte.
Ein vegetarischer Gast in Kropotkins Wohnung
Alexandra mochte Mutter gern und genoss es, sie mit Geschichten aus ihrer Kindheit und ihren Jugendjahren in London zu verwöhnen. Zum Beispiel mit der Folgenden: In der intellektuellen Elite in London während der 1890er-Jahre und während des frühen 20. Jahrhunderts gehörten die Kropotkins zur gesellschaftlichen Prominenz. Sie luden sonntags zu einem offenen Salon ein, für den die alte Frau Kropotkin ein Büfett mit den besten russischen Delikatessen vorbereitete. Alle waren willkommen. Es gab jedoch einen Gast, demgegenüber sie abgeneigt war: ein junger Jurastudent mit starkem indischen Akzent und einer eigentümlichen Stimme, der andere Gäste über ihre Essgewohnheiten belehrte. Sie sollten aufhören, Fleisch zu essen und den Wodka zu trinken, den Frau Kropotkin servierte, und sie sollten Vegetarier*innen werden. Der junge Mann wusste, dass sie ihn nicht mochte. Irgendwie erfuhr er von ihren alltäglichen Gewohnheiten – vielleicht hat Peter ihm diese erzählt. Er lag danach immer in der Nähe ihres Hauses auf der Lauer – und wenn er die alte Dame aus der Vordertür heraustreten und einkaufen gehen sah, rannte er durch den Hintereingang nach oben. Dann führte er lange, komplexe Gespräche mit Peter.
Der junge Jurastudent aus Cambridge war Mohandas Gandhi [1869-1948]. Ja, der große Gandhi eilte durch den Hintereingang die Treppen hoch, um ein Zusammentreffen mit der alten Dame zu vermeiden. Was für ein Bild! Natürlich wußte Gandhi zu der Zeit nicht, dass er einmal der Mahatma Gandhi werden würde.
Man kann die intellektuelle Tradition weiterverfolgen. Gandhi wurde zunächst von Kropotkin und später von Tolstoi beeinflusst. Bayard Rustin [1912-1987, schwarzer Bürgerrechtsaktivist] wiederum wurde stark von Gandhi inspiriert. Rustin vermittelte Gandhis humanistische Philosophie des gewaltfreien Widerstands gegenüber staatlicher Macht, die auf Kropotkin und Tolstoi zurückging, an Martin Luther King weiter. Eine gewaltfreie Massenbewegung, die sich dem passiven Widerstand verpflichtete, war möglicherweise die einzige effektive Strategie, die der Bürgerrechtsbewegung offenstand und mit deren christlicher Tradition übereinstimmte. Sam fand es deprimierend, aber nicht überraschend, dass das Establishment das Leben und Image von Martin Luther King für seine Zwecke vereinnahmte. Kings unbequeme, sozialistische, ja sogar anarchistische Ansätze wurden negiert und fast bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen. Der wirkliche King wurde durch einen harmlosen King ersetzt, der für eine seichte Toleranz eintrat und so für die Weißen akzeptabel wurde – ein moderner Gründungsvater, was nach Sams Auffassung eine Verdrehung war und den schwarzen Kampfgeist schwächte.
Anatole Dolgoff: Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2020, 414 S., 24,90 Euro, ISBN: 978-3-939045-40-3
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.