auf die barrikaden

Chile zwischen Vergangenheit und Zukunft

Chile kommt nicht zur Ruhe

| Stephan Ruderer

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Santiago de Chile 2019 - Foto: Margarita Alvares Monroy

Chile kommt nicht zur Ruhe. Seit mehr als vier Monaten halten die umfangreichen sozialen Proteste in Chile an.

Mittlerweile zwar nicht mehr täglich, aber noch jeden Freitag kommt es auf den Straßen der chilenischen Städte zu massiven und teilweise gewalttätigen Protesten und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Man kann schon jetzt absehen, dass den Protesten in Chile eine neue globale Modellfunktion zukommt. Sie lassen sich weder mit den Demonstrationen in Frankreich noch mit der orangen Revolution in der Ukraine oder dem arabischen Frühling vergleichen. In Chile finden die weltweit ersten massiven Proteste gegen die unmenschlichen Auswirkungen des Neoliberalismus statt. Ein Neoliberalismus, der in Chile fast unter Laborbedingungen funktionieren konnte und ohne dessen Entstehungsgeschichte sich die aktuellen Proteste nicht erklären lassen.

Die historische Analyse ist entscheidend, um die aktuelle Situation in Chile zu verstehen. Wichtig sind dabei drei Elemente, die alle zum unmittelbaren Erbe der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990) zählen und die Chile zum neoliberalen Vorzeigeland gemacht haben. Zum einen die neoliberale Sozialgesetzgebung der Diktatur, die das Leben der Chilenen noch heute bestimmt, zum anderen die aktuelle Verfassung Chiles, die 1980 unter der Diktatur erlassen wurde und zum dritten die Menschenrechtsverletzungen, die in der Repression der aktuellen Krise wieder verstärkt aufgetreten sind und schon während der Diktatur die Funktion hatten, die neoliberalen Maßnahmen zu „schützen“. Auf den Neoliberalismus und die chilenische Verfassung soll hier näher eingegangen werden.

Foto: Margarita Alvarez Monroy

Dem chilenischen Militär und seinen zivilen Unterstützern ging es während der Diktatur um eine revolutionäre Umwandlung Chiles mit dem Ziel, zu verhindern, dass es der Linken nochmals möglich wäre, auf demokratischem Weg an die Macht zu kommen. Die Erfahrung der Zeit der Regierung Salvador Allendes (1970-1973), der als erster sozialistischer Präsident auf demokratischem Weg an die Macht gekommen war und eine demokratische, legale Umwandlung der Gesellschaft hin zum Sozialismus anstrebte, war maßgeblich für die Politik der Militärdiktatur. Die Möglichkeit einer erneuten linken Regierung in Chile sollte in den Augen der Militärs und ihrer zivilen Unterstützer mit allen Mitteln verhindert werden. Eine zentrale Säule war dabei die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die ab 1975 von einer Gruppe ziviler Wirtschaftsexperten, von denen viele an der Universität in Chicago unter Milton Friedmann studiert hatten, den sogenannten Chicago Boys, implementiert wurde. Das diktatorisch regierte Chile wurde dabei zu einem Experimentierfeld mit Laborbedingungen für die von Friedmann inspirierte orthodoxe neoliberale Wirtschaftspolitik. Entscheidendes Credo war ein absolutes Vertrauen in die freie Marktwirtschaft und die subsidiäre Rolle des Staates. Um die noch aus der Allendezeit geerbte hohe Inflation einzudämmen, setzten die Chicago Boys auf eine radikale Kürzung der öffentlichen Ausgaben, der Sozialkosten und der Subsidien. Gleichzeitig wurde die chilenische Wirtschaft für Investitionen und Kredite aus dem Ausland geöffnet, die Arbeitsmarktbeziehungen dereguliert und über den Rückzug des Staates die Privatwirtschaft gestärkt. Diese Schock-Politik führte zu einer drastischen Rezession, zu einer hohen Arbeitslosigkeit und einem immensen Anstieg der Armut, erreichte aber nach einigen Jahren das Ziel der Eindämmung der Inflation.

Möglich war diese Schock-Politik nur aufgrund der brutalen Repression der Diktatur, die den Widerstand von Gewerkschaften oder Bevölkerung gegen die drastischen Maßnahmen verhinderte. Die prinzipiellen Leitlinien der chilenischen Wirtschaftspolitik basierten auf der Idee der wirtschaftlichen Freiheit und der Überlegenheit von technokratischen Wirtschaftsexperten gegenüber politischen Akteuren, was beides dazu führte, dass sich der Staat komplett aus der Regulierung der Wirtschaftsbeziehungen heraus halten sollte. Entscheidend dafür war der Glaube an den Markt als neutrale Regulierungskraft, die auf gerechte Weise die Ausübung der wirtschaftlichen Freiheit garantieren würde. Soziale Ungleichheiten wurden dabei in Kauf genommen, denn die Chicago Boys waren davon überzeugt, dass die Ungleichheiten, die durch den Markt generiert werden und die damit einhergehende soziale Hierarchisierung, Resultat einer Ordnung wären, die durch einen neutralen und damit gerechten Mechanismus kreierte wurde. Dieser Glaube führte dazu, dass sämtliche Staatsleistungen, insbesondere auf sozialem Gebiet, nicht mehr als soziale Rechte sondern als Wirtschaftsleistungen konzipiert wurden, deren Preis über den Markt geregelt würde und die somit auch von privaten Unternehmen angeboten werden könnten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wurden Anfang der 1980er Jahre nicht nur die Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen „flexibilisiert“, sondern auch die staatlichen Sozialaufgaben privatisiert. Das Rentensystem wurde 1981 von einem intergenerationellen Solidaritätsprinzip hin zu einem privatisierten Rentenmodell umgestellt, in dem jeder Arbeitnehmer nur noch individuell für seine Rentenersparnisse zuständig ist. Die Chilenen mussten ab diesem Zeitpunkt einen Anteil ihres Lohns in einen privaten Rentenfonds einzahlen, der über Investitionen dafür sorgen würde, dass damit die Pension des Arbeitnehmers bezahlt werden könnte. Tatsächlich funktionierte das System nur in dem Sinne, dass die privaten Rentenfonds zu einem der größten Kapitalbesitzer der chilenischen Wirtschaft wurden und über Investitionen in Banken und Infrastruktur enorme Gewinne für ihre privaten Besitzer erwirtschaften konnten. Ihre eigentliche Funktion, die Sicherung einer ausreichenden Rente, erfüllten sie nicht, so dass in Chile heute ein Großteil der Arbeitnehmer mit einer Rentenzahlung leben muss, die weit unter dem Existenzminimum liegt. In ähnlicher Weise wurde das Gesundheits- und Erziehungssystem reformiert, beide „Güter“ wurden der Verantwortung der einzelnen Familie zugeschrieben und der Staat sollte nur noch für den ärmsten Teil der Bevölkerung eine Grundversorgung im Zugang zu Ärzten, Krankenhäusern und Schulen garantieren und bezahlen. Die Privatisierung des Gesundheitswesens und der Schulen und Universitäten führte dazu, dass die Qualität der ärztlichen Versorgung und der schulischen Ausbildung direkt von den Zahlungsmöglichkeiten des Elternhauses abhing. Die Zementierung der sozialen Ungleichheiten wurde dabei aufgrund der propagierten, in erster Linie wirtschaftlichen Freiheit des Individuums in Kauf genommen. Diese konsequent rechte Politik war nur möglich unter den Bedingungen einer autoritären Diktatur, die jeglichen Widerstand der betroffenen Bevölkerung durch staatliche Repression erstickte. Diese neoliberale Ausrichtung der Wirtschaft forcierte dermaßen die sozialen Ungleichheiten, dass zum Ende der Diktatur über 40% der Chilenen unterhalb der Armutsgrenzen lebten.

Um zu verstehen, warum der Neoliberalismus in Chile auch in den dreißig Jahren Demokratie seit 1990 nicht verschwand, muss man auf mehrere Gründe verweisen. Zum einen wirkte der internationale Trend nach dem Zerfall des real existierenden Sozialismus auch in Chile. Dieser räumte dem neoliberalen Kapitalismus eine Vormachtstellung ein, die ja auch in Europa immer stärker zu spüren ist. Zum zweiten übernahmen in Chile auch die demokratischen Politiker der „Linken“ sehr schnell die neoliberalen Prinzipien, da sie als Teil der Elite meist selbst von ihren Auswirkungen profitierten. Zum dritten muss man den politischen Rahmen bedenken, den die Diktatur der Demokratie in Chile hinterlassen hat und der sich in der Verfassung von 1980 manifestiert.

Graffito in Chile (oben: „Freiheit an jeder Ecke“, unten: Reblliere, jetzt ist die Zeit) – Foto: Anna Fünfgeld

Die Verfassung von 1980

Diese Verfassung geht zum großen Teil auf die Inspiration des Chefideologen der Diktatur, Jaime Guzmán, zurück, der eine autoritäre und geschützte Demokratie ausgearbeitet hatte. Guzmán war ein charismatischer Anwalt der Katholischen Universität, der dort eine Gruppe junger Studierender um sich geschart hatte, die sogenannten gremialistas, die ihn fast mystisch verehrten und während der Diktatur zahlreiche einflussreiche Regierungspositionen einnahmen. Guzmán selbst war vom korporativen Autoritarismus Francos und vom traditionellen, integralistischen Katholizismus inspiriert und fungierte während der Allende-Zeit als „politischer Berater“ der rechtsextremen Terrororganisation Patria y Libertad. Das zentrale Anliegen bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung war es, die Erfahrungen der Allendezeit, also die Möglichkeit, dass eine linke, sozialistische Regierung auf legalem, verfassungsrechtlichem Weg an die Macht kommt, zu verhindern. Erreicht wurde dies durch eine konstitutionell festgelegte politische Ungleichheit zugunsten der rechten Parteien und hohe demokratische Hürden zur Veränderung der politischen Spielregeln. So griff die Konstitution in die Zusammensetzung des Senats ein, da neun Senatoren auf undemokratische Weise ernannt und somit die demokratisch erzielten Mehrheitsverhältnisse entscheidend verändert wurden. Daneben wurde über ein Gesetz mit Verfassungsrang ein binominales Wahlsystem eingeführt, welches automatisch die zweitstärkste Partei – im chilenischen Fall meistens das rechte Parteienbündnis – bevorteilte, so dass sich die durch Stimmenabgabe erzielten Mehrheitsverhältnisse nicht in gleichem Ausmaß in der Sitzverteilung im Parlament und im Senat niederschlugen. Dies machte es für das Bündnis der demokratischen Parteien nach 1990 praktisch unmöglich, die für eine Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheiten von 60-66% zu bekommen, so dass sich die drei Aspekte (designierte Senatoren, binominales Wahlsystem und hohe Mehrheiten für eine Verfassungsänderung) gegenseitig stützten und eine Abschaffung dieser undemokratischen Elemente nur in Zusammenarbeit mit den von ihnen begünstigten Parteien möglich gewesen wäre. Der politische Einfluss der dem Militärregime nahestehenden Parteien wurde somit konstitutionell abgesichert. Diese Verfassung funktioniert bis heute gemäß einem Ausspruch von Jaime Guzmán, dass man das Spielfeld so abstecken müsse, dass selbst, wenn der ideologische Gegner an die Macht kommt, dieser sich aufgrund der politischen Spielregeln gezwungen sieht, eine Politik zu machen, die man selbst (also die neoliberale Rechte) ebenso machen würde.

Die Verfassung erfüllt diesen Zweck bis heute nahezu in Perfektion. So gelangen den demokratischen Parteien in den letzten dreißig Jahren zwar zahlreiche politische Verfassungsreformen (die designierten Senatoren und das binominale Wahlsystem sind u.a. mittlerweile abgeschafft), aber das – durchaus verständliche – Hauptaugenmerk auf diese politische Reformen verhinderte grundsätzliche Veränderungen des neoliberalen Wirtschaftssystems. Chile erzielte in der Demokratie zwar hohe Wachstumsraten und konnte die Armut deutlich reduzieren, das Land blieb aber weiterhin eines der sozial ungleichsten Länder weltweit. Dass die massiven Proteste ausgerechnet im Oktober 2019 diese ungeahnten Ausmaße annehmen würden, hat auch damit zu tun, dass erst seit einigen Jahren die ersten größeren Generationen von Arbeitnehmern in Rente gehen, die ihre Pension mit dem unter der Diktatur eingesetzten individuellen System der AFPs beziehen. Viele Familien erkennen erst jetzt die Auswirkungen einer staatlich verordneten Altersarmut.

 

Ausblick

 Ob es den aktuellen Protesten dabei wirklich gelingt, die Fesseln der Diktatur endlich zu sprengen, bleibt abzuwarten. Nach der anfänglichen Überraschung zeigt die politische Rechte in Chile jedenfalls ihre traditionellen Abwehrmechanismen. Die Proteste werden einerseits brutal niedergeschlagen, so dass es erstmals seit der Diktatur wieder zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, zum anderen werden sie in der Öffentlichkeit kriminalisiert und der Diskurs in Richtung öffentliche Ordnung gelenkt, so dass die soziale Agenda mittlerweile nur noch zweitrangig erscheint. Gleichzeitig hat sich aber die historische Chance auf eine neue Verfassung in Chile eröffnet. Angesichts der Proteste haben fast alle politischen Parteien eine Einigung unterschrieben, die für April 2020 ein Plebiszit über die Frage vorsieht, ob die Bevölkerung eine neue Verfassung möchte oder nicht. Wenn in dieser Abstimmung die Option für eine neue Verfassung gewinnt – wonach es zurzeit aussieht – dann wird erstmals in der chilenischen Geschichte das Grundgesetz nicht vom Militär oktroyiert, sondern von Vertretern der Bevölkerung ausgearbeitet. Der Weg dorthin ist weiterhin steinig und wird von der aktuellen Regierung und ihren Parteien so gut es geht blockiert werden, aber allein die Möglichkeit einer neuen Verfassung verspricht einen Hoffnungsschimmer für die chilenische Gesellschaft. Denn nur über die konstitutionelle Verankerung von sozialen Rechten, die in der aktuellen Verfassung nicht eindeutig vorgesehen sind, lässt sich die neoliberale Grundausrichtung Chiles verändern.

Dass der Neoliberalismus kein Rezept für gesamtgesellschaftlichen Fortschritt ist, dafür sind das Land und die aktuellen Proteste der beste Beweis. Ein Blick auf das aktuelle Chile kann also auch für die Zukunft Europas, in dem die soziale Ungleichheit ebenfalls zunimmt und neoliberale Rezepte von Privatisierung bis hin zur Idee der individuellen Meritokratie zahlreiche Fürsprecher besitzen, von entscheidender Bedeutung sein. Chile muss sich von der Last der Vergangenheit erst befreien, um den Weg in eine hoffnungsvollere Zukunft für große Teile der Gesellschaft zu öffnen. Ein genauer Blick auf den chilenischen Prozess kann dabei durchaus Erkenntnisse für die Zukunft der westlichen Welt insgesamt liefern.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.