Was zeichnet Gandhis Anarchismus der „anderen Art“ aus? Und welche Relevanz haben seine Praxis und sein Denken für uns heute? Diesen Fragen geht das Buch von Lou Marin und Horst Blume nach. Wie auch im Titel des Buches kommt am Anfang Gandhi selbst zu Wort. Das Buch beginnt mit drei Textpassagen, in denen Gandhi sich zu seinen anarchistischen Überzeugungen äußert. Die Auswahl der Texte ist sehr passend und zeigt durch die unterschiedlichen Zeitpunkte (der erste Text gibt eine Rede von 1916 wieder, der zweite Text ist von 1931 und der dritte von 1940), dass Gandhis anarchistische Überzeugungen keine Momentaufnahme darstellen, sondern über die Zeit hinweg einen fundamentalen Teil seines Denkens ausmachen. Anhand der Textpassagen wird zudem deutlich, dass Gandhis Denken sich nicht so einfach in eine Schublade pressen lässt. Dass das Prinzip der Gewaltfreiheit für Gandhi leitend war, ist wohl allseits bekannt. Dass diese Überzeugung jedoch weit differenzierter war als gemeinhin angenommen, kommt in der dritten im Buch abgedruckten Textpassage zur Geltung: In diesem 1940 in der Zeitschrift Harijan abgedruckten Interview äußert Gandhi sich dazu, wie für ihn eine gewaltfreie Gesellschaft aussehen kann. Dabei werden auch komplizierte Themen angesprochen. Beispielsweise nennt Gandhi den Widerstand der polnischen Bevölkerung gegen die Invasion der Nazis „fast gewaltfrei“ und spricht darüber, wie eine Polizei in einer gewaltfreien Gesellschaft sich von britischer Polizei unterscheiden und eine „Körperschaft aus Reformern“ sein könnte.
Im Hauptteil des Buches liegt der Fokus darauf, Gandhi gegen Rassismusvorwürfe zu verteidigen, die immer wieder gegen ihn vorgebracht werden. Im Zuge dessen adressiert Lou Marin auch Vorwürfe, dass Gandhi antisemitisch gewesen sein soll und ein Verteidiger des Kastensystems. Diesem Themenkomplex widmet der Autor mehrere Kapitel. Dabei vermeidet er es, Gandhi unkritisch als Helden darzustellen, sondern geht gezielt auf tatsächliche rassistische Äußerungen Gandhis am Anfang seiner Zeit in Südafrika bis 1906 ein. Gandhi habe zu dieser Zeit noch kein anti-koloniales Bewusstsein entwickelt, sondern stand noch stark unter dem Einfluss seiner Ausbildung in England. Diskriminierende Begriffe übernahm er zunächst unkritisch, entwickelte sich dann jedoch weiter. Diesen Prozess der Veränderung in Gandhis Denken zwischen 1906 und 1908 hin zu einer dezidiert anti-rassistischen Haltung arbeitet Lou Marin sehr detailliert heraus.
Lou Marin arbeitet sich an der Kritik an Gandhi durch Arundathi Roy und anderen ab. Der Ton ist dabei oft scharf. Gepaart mit einer Vielzahl anschaulicher Beispiele und Hintergrundinformationen macht dies das Buch durchaus unterhaltsam. Für Leser*innen, die mit der Kritik an Gandhi und der Kontroverse wenig vertraut sind, mag die Fülle an Themen und die Tatsache, dass viele der vorgetragenen Punkte als Antwort auf andere Autor*innen zu verstehen sind, für ein wenig Verwirrung sorgen.
Das letzte Kapitel des Buches ist von Horst Blume und zeichnet die Entstehung und Funktionsweise der Landrechte-Bewegung Ekta Parishad nach. Dadurch wird der Fokus auf die Aktualität der Aktionsformen Gandhis gerichtet. Leider ist der Übergang vom ersten Teil des Buches zum zweiten nicht sehr flüssig. Das Kapitel über die Entstehungsgeschichte und aktuelle Aktionen von Ekta Parishad ist zwar nicht uninteressant, lässt jedoch den kritischen und differenzierten Ton des restlichen Buches etwas vermissen. Was mir persönlich gefehlt hat, ist ein Schlusskapitel, in dem die Ausführungen des gesamten Buches in einen Kontext gesetzt werden. Dies würde es erleichtern, die Fülle an Informationen in einen Gesamtzusammenhang zu bringen.
Was den Autoren gut gelingt, ist, den Bogen zu aktuellen Ereignissen zu schlagen und damit zu zeigen, wie relevant Gandhis Denken und Wirken heute noch ist. Besonders hervorzuheben ist dabei das Kapitel, in dem es um die Motive der Gandhi-Mörder geht und vor allem Gandhis Gegnerschaft zum Hindu-Nationalismus. Der Hinduismus Gandhis steht hier im krassen Gegensatz zu einer aktuell stärker werdenden rassistischen Auslegung des Hinduismus
Das Buch bietet eine Fülle von Informationen und regt zum Nachdenken an. Es wird deutlich, dass Gandhis gewaltfrei-anarchistische Überzeugungen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben und als wichtige Inspirationsquelle für soziale Bewegungen dienen können.
Insgesamt handelt es sich hier um ein äußerst gelungenes Buch, das ausgehend von Gandhis Selbstbezeichnung als „Anarchist der anderen Art“ ein facettenreiches Bild von Gandhis Denken und Wirken zeichnet – von den Anfängen seiner Politisierung bis heute.
Lou Marin, Horst Blume: Gandhi. »Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art«, Verlag Graswurzelrevolution, 137 S., 13,90 Euro, ISBN: 978-3-939045-38-0
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.